“Gesellschaftstransformation Part 6”

Bibel, Gerechtigkeit, Gesellschaft, Gesellschaftstransformation

Gesellschaftstransformationsprozesse sind nichts Neues, sondern gab es in der (Kirchen-) Geschichte immer wieder. Besonders im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts gab es viele gesellschaftstransformatorische Prozesse, die ganze Dörfer, Städte und Landstriche veränderten und beeinflussten. Die Folgen des 30jährigen Krieges (mit großer Armut, Kriegsopfer, Seuchen, Waisen etc.) waren für die Menschen katastrophal. Eine in Orthodoxie erstarrte Kirche hatte dem wenig entgegenzusetzen. Es waren erweckte Christen (Spener, Francke, Zinzendorf u.v.a.) die die Not ihrer Zeit erkannten und Heil und soziales Engagement wieder zusammenbrachten. So entstand die Herrnhuter Brüdergemeine, die sich nicht nur eine geistliche Ordnung gab, sondern auch eine politische. Die Verantwortung füreinander stand im Vordergrund. Ähnlich war es bei A.H. Franke, der sich der Kinder, der Armen, Entrechteten und Bedrohten annahm. Die Franckschen Anstalten gehören zu den bedeuteten Orten transformatorischen Handelns. Nicht nur das Heil des Einzelnen war gefragt, sondern die Verantwortung für den ganzen Menschen, seinem Lebensentwurf, ja überhaupt den Menschen eine Überlebenschance zu geben. Der frühe Pietismus ist in mehrfacher Hinsicht Beispiel für transfromatorisches Handeln. Er war in vielen Bereichen wirksam: 1. im sozialdiakonischen 2. im pädagogischen 3. im sozialethischen 4. im missionarischen Handeln. Dieses Wahrnehmung von gesellschaftlichen Nöten haben an vielen Stellen transformatorische Prozesse entstehen lassen. Das sozialdiakonische Handeln des Pietismus kann man zusammenfassen in den Worten des Apostels Paulus: „Der Glaube, der durch die Liebe tätig wird“ (Gal 5,6).

Die Umbrüche in der gesellschaftlichen Entwicklung (Kapitalismus, Industriegesellschaft, Kommunismus u.a.), so wie das Aufkommen der großen Weltanschauungen (Existenzialismus, Sozialismus etc.) verbunden mit den Kriegen Ende des 19. und 20. Jhs, führten immer mehr dazu, dass sich die Christenheit auf den Bereich des Heils (Bekehrung) beschränkten. Die sozialdiakonische Arbeit ging auf staatliche Institutionen über. Die Zunehmende Säkularisierung nach dem 2. Weltkrieg und eine „einseitige“ Bekehrungstheologie führte mit dazu, dass die Ganzheitlichkeit von Heil und Gerechtigkeit wie wir es von der Bibel her beschrieben haben, immer mehr verkümmerte. Dies führte dazu, dass immer mehr Gemeinden sowohl den pädagogischen als auch den sozialdiakonischen Auftrag vernachlässigten oder gar nicht mehr wahrnahmen. Dafür sei ja nun der Staat zuständig. Christen und Gemeinden haben sich in Folge dessen immer mehr aus der gesellschaftlichen Verantwortung zurückgezogen, ein kulturell und gesellschaftlich nicht relevantes Christsein gelebt und somit sowohl passiv als auch aktiv Ungerechtigkeit und soziales Leiden gefördert.Auch wenn wir das heute nicht gerne hören, Weggucken kann auch Sünde sein. Es nützt nichts, wenn wir unsere Gemeindehäuser in billigen Industriegeländen bauen, wo wir in Ruhe gelassen werden und die soziale Not nicht sehen. Wir stehen in der Pflicht. Sehr schön hat dies die Micha Initiative ausgedrückt:

„Wenn wir die Welt ignorieren, dann betrügen wir das Wort Gottes. Wenn wir das Wort Gottes ignorien, dann haben wir nichts, was wir der Welt geben können. Gerechtigkeit und Rechtfertigung durch Glauben, Anbetung und politisches Handeln, das Spirituelle und das Materielle, persönlicher Wandel und struktureller Wandel gehören zusammen. Wie im Leben Jesu bilden Sein, Tun und Sagen den Kern unseres integralen Auftrags.“

12 Comments

  1. ebbelwain

    Eine schlichte Zustandsbeschreibung, die weh tut, aber auch Hoffnung weckt. Besonders wenn man pietistisch geprägt ist 🙂

    Als alter ECler (nein nicht Emerging – sondern der Jugendverband) hab ich mich früher gefragt, wozu wir ein Krankenhaus in Woltersdorf brauchen… Heute frage ich mich, warum wir nicht mehr davon haben …

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  2. Danke für die Inspiration:

    Fundstück: Glaube und soziale Gerechtigkeit

    Habe auf Tobys Blog folgenden Post gelesen, denn ich hier in Auszügen wiedergebe:

    “Gesellschaftstransformation Part 6”
    Gesellschaftstransformationsprozesse sind nichts Neues, sondern gab es in der (Kirchen-) Geschichte immer wieder. Besonders im Pietismus …
    _ _
    michael

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  3. Stellt sich die Frage, ob eine solche gesellschaftsrelevante Gemeindearbeit mit den vorhanden Gemeindestrukturen kompatibel ist? Sind unsere evangelikalen Gemeinden bereit für solche Wertveränderungen: von der Besuchs- zur Beteiligungs- und dann zur Transformationskirche!?
    Wie kann das gehen?

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  4. Das sind gute Fragen, die sicher beantwortet werden müssen und die eine Menge Schwierigkeiten und VEränderungsprozesse zur Folge haben werden. Aber es gibt auch die andere Seite, es braucht Leute die visionär nach vorne gehen, die gerade in den GEmeinden anfangen alte (evangelistische) Strukturen zu hinterfragen und zu durchbrechen und ganzheitlich (diakonisch) neue Wege wagen…

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  5. Hallo Toby,

    ich muss sagen, dass es auch mein Wunsch ist, dass Kirchen zu gesellschaftlich relevanteren Akteuren werden, dass sie Orte werden, die ALLEN Menschen der Gesellschaft Gemeinschaft und Begegnungsräume mit Gott und dem Evangelium bieten.

    Dafür muss Kirche sich öffnen, muss sich in Inhalten und Ritualen (Handlungsweisen) hinterfragen und dazu einladen sich hinterfragen und verstehen zu lassen. Dann kann Kirche mehr sein als ein Sammelbecken von “Frühindoktrinierten” und “psychischen Problemfällen”.

    Kirche sollte ihre Glieder zu mündigen, ausdrucksfähigen, verstehenden Christen und Bürgern bilden.

    Kirche sollte die Stimme derer sein, die nicht gehört werden und ihre Interessen öffentlich artikulieren.

    Kirche sollte den Bedürftigen in ihren individuellen Bedürfnissen selbstlose Hilfe bieten und zu einem Mehr an Gerechtigkeit beitragen.

    Schwierig finde ich jedoch den von dir verwendeten Begriff der “Gesellschaftstransformation”. Transformation als Veränderung ist jeder Gesellschaft immanent – sie verändert sich jeden Augenblick.

    Gleichzeitig klingt es so als wolltest du eine Gesellschaftstransformation herbeiführen (hier schwingt ein Hauch Machtstreben mit) …

    Ich glaube nicht, dass Transformation verordnet werden kann (und sollte).
    Ich bin der Überzeugung, dass zuallererst das Evangelium neu ins Zentrum der Kirchen gebracht werden muss. Wenn sich Kirchen um ein Zentrum orientieren sind sie nicht daran gebunden Mauern aufzubauen und dadurch Menschen auszuschließen (hier kommt es nicht mehr darauf an, wie weit sie vom Zentrum entfernt sind) …

    Dadurch können Kirchen gesellscahftliche Relevanz erlangen , können positiv in die Gesellschaft hineinwirken. Den Begriff der Gesellschaftstransformation halte ich hier für fehlleitend (auch wenn ich glaube, dass Jesus das Ziel einer besseren, durch Liebe, Miteinaner und Toleranz geprägten “Weltgemeinschaft” im Auge hatte).

    Lieben Gruß,
    Nils

    PS: Eine der zentralen gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten zum Thema gesellschaftlicher Veränderung und Christentum ist wohl Max Webers “Die protestantische Ethik und der ‘Geist’ des Kapitalismus” … Finde ich äußerst anregend!

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  6. Hi Tobi!

    Zu deinen Gedanken noch einen kleinen Anstoß. Folgt man Rösslers Aufriss der Praktischen Theologie, so gibt es drei Handlungsfelder. Ein kirchliches, ein öffentliches und ein privates Christentum. Rössler führt diese Trennung unter anderem auch auf den Pietismus zurück. Er beschreibt ihn als Bewegung, die sich weitgehend zurückgezogen hat und ein klare Trennung zwischen der Öffentlichkeit und der Kirche gebracht hat.
    Ich denke, man muss den Pietismus auch unter diesem Aspekt betrachten. Als Beispiel kann man sich den Herrenhag anschauen. Es wurde eine Siedlung außerhalb der Ortschaft gegründet. Auf seinem Wohnsitz, der Ronneburg, hat sich Zinzendorf, bzw. seine Frau leidenschaftliche um die Mitmenschen gekümmert, doch zu dem Dorf gab es so große Spannungen, die letztlich zu einer Vertreibung geführt haben.

    Nur so als Anstoß……….. wollte auch mal wieder was schreiben 😉

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  7. @nils: Ich finde deine Ausführungen “Kirche sollte” sehr gut und gebe dir auch recht in der möglichen Missinterpretation des Wortes “Gesellschaftstransformation”. Aber um die von dir genannten Konjunktive in Indikative zu “verändern” braucht es immer wieder neue Impulse und auch neue Bezeichnungen. Gesellschaftstransformation ist so ein Wort, dass im Deutschen noch etwas fremd klingt, transformation ist international ein gängiger Begriff, auch in der Theologie und hat keinerlei Machtansprüche und diese habe ich auch nicht. 🙂 Veränderung ist immer auch befremdlich und muss neu entdeckt werden. Danke für deine Mithilfe…

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  8. @Christoph: Danke. Du bringst die Ambivalenz auf den Punkt. Jede Bewegung hat ihre unterschiedlichen Seiten, kulturellen Gegebenheiten und orthodoxen Auswüchse. So auch der späte Pietismus um Zinzendorf. In der Gefahr stehen wir wohl auch. 🙂 Lass uns voneinander und der GEschichte lernen…

    Rösslers Ansatz der PT finde ich interessant, würde die drei Bereiche aber nicht trennen, sondern überschneiden (korrelieren) lassen.

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  9. Br. Manfred

    Stimmt. Die “alten Pietisten” waren echte Rocker! Man denke nur, wie der Graf die Stände quasie aufgelöst hat in und für Herrenhut.

    Aber vielleicht ist es zu wenig zu sagen, dass die Christenheit sich auf den Bereich des Heils “beschränkt” hätten.

    Vielleicht kommt auch dazu, dass eine Zeit der großen Ideologien und Diskussionen begann. In der Gesellschaft war das kognitive plötzlich wichtiger. Kommunismus, Kapitalismus, Kalter Krieg.

    Vielleicht ist die Kirche einfach nur “normal” in Deutschland. Denn die, die Anpacken, sind allgemein wenig und motiviert die Welt zu ändern wahrscheinlich die allewenigsten. Es geht glaub ich mehr um Handys, Laptops und Renten. Aber das Volk ist müde ^^

    Wie schiebt man einen Esel..

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