„Über die Diskrepanz zwischen Botschaft und Botschafter, zwischen biblischer Idee und der Wirklichkeit der Kirche.“

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Der Autor und Dozent Jürgen Mette hat eine Rezension von „Warum ich nicht mehr glaube“ geschrieben, die sich etwas abhebt von den üblichen bisherigen Rezensionen und ich sie deshalb hier veröffentliche. Sie bietet viel Stoff zum Nachdenken und zur Diskussion.

Eine Rezension von Jürgen Mette: „Warum ich nicht mehr glaube.“
Der Titel provoziert halb Neugier und halb Abwehr. Will ich das wissen, muss ich das wissen? Wer vom Glauben abfällt, war doch wohl nie richtig durchbekehrt.
Wenn Halbfromme oder Namenschristen sich irgendwann aus einer ihnen fremd gewordenen und womöglich leicht angestaubten Kirche schleichen, dann würde das keinen wundern. Aber der Titel lässt vermuten, dass es um echte, engagierte, entschiedene und bekennende Christen geht, die sich mit einer klaren Entscheidung losgesagt haben und aus dem System leidenschaftlicher Herzensfrömmigkeit emigriert sind.
Bemerkenswert ist der Zeitpunkt der Erscheinung dieses Buches in der SCM-Kollektion: Dieses Entkehrungsbuch läuft mit kräftigen Auftrieb im Sog zwei anderer Bücher aus der SCM-Gruppe. Das Hänssler-Buch „Gott macht glücklich – und andere Lügen“ vom TV-Mann Dr. Markus Spieker – auch eine Analyse, die uns kalt duscht und so Herz und Hirn erfrischend durchblutet. Der zweite Wurf dieser analytischen Trilogie stammt von Ulrich Eggers und eckt mit „Ehrlich glauben – warum Christen so leicht lügen“ erfrischend an. Der Dritte im Bunde ist nun ein weiterer Aufreger aus diesem analytischen Genre: Tobias Faix und Co-Autoren präsentieren bei R.Brockhaus „Warum ich nicht mehr glaube“.
Soviel vorab: Ich verspreche weitreichende Einsichten über das Phänomen der Dekonversion, der Entkehrung. Wer weiß, warum Christen aussteigen, erfährt, was der Gemeinschaft der Heiligen fehlt.
 Zwei der Autoren – Faix und Künkler – sind promovierte Dozenten am Marburger Bildungs- und Studienzentrum (ehemals Marburger Bibelseminar) und Initiatoren vom Institut empirica. Martin Hofmann forscht an der TU Darmstadt und ebenso am Institut empirica. Faix hat sich als eifriger Autor und Co-Autor (z.B. mit seinem UNISA-Professoren-Kollegen Johannes Reimer) mit den Themen Gesellschaftstransformation und Emergent Church im konservativen Protestantismus Freund und Feind geschaffen. Ein experimentierfreudiger und gänzlich undogmatischer Beobachter nimmt uns mit seinen Mitdenkern Hofmann und Künkler auf eine Reise in ziemlich unerforschtes und emotional vermintes Terrain. Und ausgerechnet der katholische Theologe und Religionssoziologe Paul Michael Zulehner honoriert das Werk mit einem appetitanregenden Vorwort.
Wenn wir Kenntnisse über das „zum Glauben kommen“ haben, wie und warum sich Menschen be-kehren, sollten wir auch wissen, warum und wie Menschen sich wieder ent-kehren.
Der Leser wird in die Vorarbeit und die Methodik der empirischen Forschung eingeführt. Wir erfahren dann sehr aufschlussreich Kernbereiche des Glaubensverlustes: Moral, Intellekt, Identität und Gottesbeziehung. Die Dekonversations-Biografien junger Menschen sind selbstverständlich anonymisiert, aber es drängt sich ständig der Eindruck auf, dass die Geschichten mitten unter uns spielen, oder kurz vor dem Outing stehen: Eingeengte, Zerrissene, Enttäuschte, Geplagte. Ich gestehe gern, dass ich nicht die geringste Ahnung von den Abgründen hatte, in die junge Menschen auf dem Weg religiöser Sinnsuche geraten können. Was ich als Geistesleitung erfahre, als Führung Gottes, das durchschaut der Suchende als Zweckoptimismus, gruppendynamische Effekt, Machtmissbrauch, Manipulation und Ignoranz neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wir als prägendes und predigendes Personal – berufen mit heiligem Ruf – sind unter Umständen Ursache für schmerzliche Entkehrungsprozesse. Dieses Buch öffnet uns Ent-zweifelten den Blick für die Ver-zweifelten, die weniger an der Bibel, sondern eher am göttlichen Personal gescheitert sind.   
Ernüchternd auch die Einsicht, dass neben dem Zweifel an der Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift Vorbild und Prägung der Elternhäuser nicht nur den Glauben nähren, sondern die biblische Botschaft durch einen scheinheiligen Lebenswandel so zersetzen, dass die Kinder aus diesem behüteten, ängstlichen, intellektuell unmündigen und kulturpessimistischen Milieu emigrieren. Es ist die Diskrepanz zwischen Botschaft und Botschafter, zwischen biblischer Idee und der Wirklichkeit der Kirche, in dem der Unglaube keimt und schleichend zur Entkehrung führt.     
Wer sich von diesen – zum Teil dramatischen – Zeugnissen den Spiegel vorhalten lässt, wer sich als Rad im Getriebe der Entkehrung anderer erkennt, der wird vorsichtig im Urteil über Ex-Fromme. Diese Lektüre kann nur zur Buße und zu neuer Empathie mit denen führen, die auf der Strecke geblieben sind, aber vielleicht freier sind als wir, dichter an Gott selbst und seinem Wort. Wir lernen zu verstehen und werden still, ganz still. Und dann setzt vielleicht ein fruchtbarer Lernprozess ein, der im schönsten Fall zu einem versöhnten Treffen der Entkehrten führt. Wer sich entkehrt, entkernt sich nicht zwangsläufig. Die Distanz zu meiner Bekehrungsgeschichte könnte den Kern meiner Existenz aufdecken: mein Glück als Geliebter Gottes, die Freude über die Amnestie, die mir der Heiland Jesus Christus schenkt.

11 Comments

  1. Ach Hans-Christian, das Leben ist so einfach, glauben die Leute nicht so wie ich, sind es ‘Irrlehrer’, verlieren sie ihren Glauben, haben sie erst gar nicht geglaubt! So einfach ist das, ich fürchte und hoffe, dass Gott da einen differenzierteren Blick drauf hat. Außerdem zeigt das Buch ja nur die Geschichten einiger Menschen mit Gott auf, nicht die Geschichte Gottes mit den Menschen, die kann und will ich gar nicht beurteilen…

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  2. Aber was, wenn es unseres Aufgabe als Christen nicht wäre, mit Samen zu werfen (können wir das überhaupt?), sondern uns um den Boden zu kümmern?

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  3. Steffi

    Hallo Tobi, vorweg: Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern kenne nur das Aufatmen-Dossier. Aber jetzt beim Lesen dieser wirklich guten und ernstzunehmenden Rezension spukten wieder die gleichen Gedanken in meinem Kopf herum wie schon vor ein paar Monaten. Meine mehrfache Erfahrung mit Menschen, die sich vom Glauben abgewendet haben ist folgende: Eine Person, die aufgrund ihrer Geschichte/ Prägung in großer Not ist, kommt in eine Gemeinde, wo sie liebevoll aufgenommen wird. Menschen kümmern sich, erzählen von Jesus, die Person fühlt sich wohl, wertgeschätzt, geliebt, wird Mitglied und/oder lässt sich taufen. Doch die dunklen Schatten in ihr verschwinden nicht einfach so. Hier und da beginnt Gott, den Finger auf die Wunde zu legen, hält der Person die Möglichkeit zur Seelsorge, Versöhnung, Heilung hin, doch der Weg ist zu schmerzlich. Die Person scheut zurück, beginnt, sich an Menschen aus der Gemeinde festzuklammern, dreht sich um die eigenen Wunden, fordert von allen anderen Verständnis und Geduld ein. Irgendwann sind die anderen erschöpft, unmerklich ziehen sie sich zurück. Dann kommt ein großer Knall (oder auch nicht). Die Person ist enttäuscht, fühlt sich verraten, macht der Gemeinde bittere Vorwürfe, wendet sich ab und verbreitet möglicherweise noch Lügen über die Gemeinde.

    Ich bin unglaublich traurig über diese Situation, raufe mir die Haare, frage mich, was ich tun kann und stehe doch nur hilflos daneben. Ich meine, es gibt einen Punkt, an dem ich nicht mehr die Verantwortung für den Glauben des anderen übernehmen kann und darf. Gott eröffnet jedem die Möglichkeit zur Veränderung, aber es ist auch die Entscheidung des Einzelnen, das in Anspruch zu nehmen.

    Ich habe diese Gruppe von Entkehrten nicht direkt wiedergefunden in den Artikeln, nehme aber auch an, dass sich diese Personen eher nicht freiwillig für ein Interview melden würden.

    Was könnte Gemeinde da besser machen? Du schreibst: “dass es eine Glaubenskultur gibt, die tatsächlich einen ‚krankmachenden Glauben’ fördert”. Was bedeutet “Glaubenskultur”? Und was ist, wenn nicht der Glauben krank macht, sondern gerade das, was letztendlich resilienten Glauben verhindert? Ich sehe schon ein, dass wir Defizite haben, dass Gemeinde sich hinterfragen muss, korrigieren muss. Aber ich habe auch gelernt, die Verantwortung für das eigene Leben in den Händen des anderen zu lassen, und dann muss man immer wieder mit ansehen, dass Menschen sich abwenden.

    Ist in der ganzen Beschäftigung mit diesem Thema ein Fallbeispiel wie oben aufgetaucht? Und welche Konsequenzen müsste man daraus ziehen?

    Und grundsätzlich: Wie kann man bei diesem Thema vermeiden, dass die Schuldfrage übermächtig wird? Geht es nicht am Ende um die Kernfrage, ob die Gemeinde oder der Betreffende schuld daran ist, dass er nicht mehr an Gott glauben kann?

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  4. Hallo Steffi,
    danke für deinen Beitrag.
    Da gibt es natürlich viel zu sagen, viel mehr als ein Blogkommentar zulässt.
    Aber vielleicht so viel: Gerade durch die Forschung und das Buch habe ich gelernt, dass jede Geschichte einzigartig ist und dass es immer ein Bündel von Gründen sind, die zum Glaubensverlust führen. Dabei geht es für mich nicht darum, wer jetzt Schuld ist, die Entkehrten übernehmen da schon selbst die Verantwortung.
    Aber es gibt eben ein Gemeindeklima von Gesetzlichkeit und Enge, die manchem die Luft zum Glauben nimmt. Deshalb glaube ich schon, dass wir darauf achten sollten wie, was und warum wir glauben und wie sich das im Kontext von Gemeinde und Gemeinschaft zeigt.
    Das mal als eine erste Annäherung an seien Fragen…

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