„Das Wunder von Moabit. Wie eine leerstehende Kirche zu neuem Leben erweckt wurde. Ein Interview mit Steve Rauhut über den langen Weg zur Traumkirche“

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Es klang zu verrückt als das es wahr werden könnte. Eine handvoll mutiger Christinnen und Christen hat vor ein paar Jahren all ihren Glauben zusammengenommen und sind nach Berlin gezogen um in einem leerstehenden Gebäude eine Kirche zu gründen. Jetzt ist der Traum wahr geworden und ich spreche über eine spannende Geschichte mit Steve Rauhut, der von Anfang an mit dabei war.

  1. Wie kommt man dazu eine leerstehende Kirche für null Euro zu erhalten?

Seit vielen Jahren war mein ganz persönlicher Traum: Ein schönes, altes Kirchengebäude mitten in der Stadt sollte das Herz eines Begegnungsortes werden, so wie ich es im Christus-Treff in Marburg viele Jahre erleben und genießen durfte. Vor sechs Jahren, im Mai 2009 erzählten uns gute Freunde von so einem Ort mit sehr viel Potenzial: Dem damals nahezu leerstehendem Campus der Reformationskirche in Berlin-Moabit. Mittlerweile darf ich diesen Traum mit Freunden zusammen leben: In Gemeinschaft leben, in einem spannenden Kiez einen Begegnungsort für unterschiedlichste Menschen schaffen, auf diese Weise Gemeinde gründen und dazu beitragen dürfen, dass Menschen miteinander und mit Gott in Beziehung kommen und Gottes Liebe verändernd in den Kiez strahlt und dieser ein wenig verändert und gerechter werden kann – diesen Traum leben zu dürfen, das ist ein großes Gottes-Geschenk! Angefangen von der ersten Besichtigung der leer stehenden Reformationskirche im Mai 2009 bis zum Null-Euro-99-Jahre-Erbbaurechtsvertrag und einer lebendigen, vielfältigen und wachsenden REFO-Gemeinschaft im Mai 2015 war es allerdings ein sehr langer Weg. Ein Weg voller Höhen und Tiefen, aber vor allem voll großen Gotteswundern und tollen Menschen, die uns ermutigt und unterstützt haben, nicht aufzugeben.

  1. Was waren die größten Herausforderungen?

Wir sind sehr dankbar, dass wir von Anfang an viel Unterstützung aus der Leitung des Kirchenkreises und der Landeskirche erhielten. Es ist vor allem dem starken Engagement der Generalsuperintendentin von Berlin, der Oberkirchenrätin für kirchliches Leben und dem Superintendenten des Kirchenkreises Berlin-Mitte zu verdanken, dass wir den Campus der Reformationskirche erhalten haben. Aber es gab auch Stimmen, die dies verhindern und stattdessen einer rein wirtschaftlichen Nutzung des Campus den Vorzug geben wollten. Dies hatte jahrelanges Ringen, Überzeugungsarbeit und unglaublich viel Kraft für kirchliche Gremienarbeit gekostet und uns fast zur Verzweiflung getrieben. Anfang 2014 kam alles zum Stillstand und es sah nach einem vollständigen Scheitern aus. Nach viel Beten, Reflektion und Gott fragen, wurde uns aber sehr deutlich, dass Moabit weiterhin der Ort unserer Berufung ist und wir diese auf dem Campus der Reformationskirche leben sollen. Wir haben dann im Spätsommer/ Herbst 2014 eine Kampagne gestartet und waren überwältigt von der Unterstützung aus Kiez und Politik. Bezirksbürgermeister, Bundestagsabgeordnete, Quartiersmanagement und alle Parteien der Bezirksverordnetenversammlung, das gewählte Bezirksparlament von 370.000 Einwohner_innen von Berlin-Mitte, stellten sich hinter uns und forderten die Kirchenleitung auf, diesen für den Kiez so wichtig gewordenen Begegnungsort zu erhalten uns den Campus zu übertragen. Und immer wieder haben wir erlebt, dass Gott unsere eigene kleine Kraft multipliziert und weitere tolle Menschen zu der REFO-Gemeinschaft dazu stoßen.

  1. Ihr habt jetzt einen 99 Jahre Erbaurechtsvertrag unterschrieben, was bedeutet das?

Wir freuen uns jetzt über einen nahezu unbegrenzten Gestaltungs- und Freiraum, der noch viel mehr Leben und weiteres Wachstum ermöglicht. Nachdem wir viele Jahre keine dauerhafte Perspektive hatten, ist die Übertragung des gesamten Campus an uns endlich die wirklich langfristige und nachhaltige Grundlage, die wir uns von Anfang an gewünscht hatten. Wir werden in den nächsten eineinhalb Jahren das große leerstehende REFO-Haus sanieren lassen (und natürlich auch selber Hand anlegen), um danach endlich dort gemeinsam leben und wohnen zu können. Unser seit vielen Jahren leerstehendes Kita-Gebäude wird kern-saniert und voraussichtlich Ende 2016 können wir dann mit dem Kita- und Familienzentrum-Betrieb starten. Wir freuen uns schon sehr, dass dann 120 Kinder aus dem Kiez hier zu Hause sein werden.

  1. Was ist sind eure Ziele, Visionen und Hoffnungen für euren Kiez?

Noch bevor überhaupt die ersten regelmäßigen Veranstaltungen und Projekte bei uns auf dem Campus stattfanden, waren wir bereits in vielen Orten und Organisationen im Kiez unterwegs und vernetzt. Im Quartiersmanagement, der Bürgerplattform, dem SOS- Kinderdorf und in einem großen Jugendhaus sind wir ehrenamtlich oder sogar beruflich aktiv, so dass viel Zeit und Engagement unseres Lebens außerhalb des REFO- Campus stattfindet. Uns allen ist das Ziel, dass das Zusammenleben von Menschen hier in unserem Kiez durch Gottes Liebe verändert, transformiert wird, ein großes Herzensanliegen! Gesellschaftliche Ungerechtigkeit, vor allem das Verhalten Europas, das sich zu einer elitären Wohlstandsfestung entwickelt, was konkret im Kiez zu großen Problemen für Menschen führt, die als Flüchtlinge dauerhafte und sichere Lebensstrukturen suchen, aber das Gegenteil davon hier in Deutschland erleben, treibt uns um. Deswegen engagieren wir uns sehr stark in der Flüchtlingshilfe, suchen Lösungsmöglichkeiten, um die Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen und stehen als ganze Reformations-Community gemeinsam für Vielfalt. Und dort wo uns Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Rassismus begegnet fallen wir gemeinsam „dem Rad in die Speichen“. Noch nie haben wir so viel authentische und in wirklicher Freundschaft verbundene vielfältige Gemeinschaft erlebt, wir hier in der Reformations-Community. Aus unterschiedlichen Gruppen ist eine einladende und vielfältige Einheit gewachsen, zu der bislang neben uns als evangelischen Reformationskonvent, die Cantorei der Reformationskirche (klassischer Kirchenchor), das großartige Jugendtheater (überwiegend muslimische Jugendliche) und Christburg – Campus (unser zukünftiger Kita – Betreiber) gehört. Wir träumen von einem Kiez, in dem irgendwann nicht mehr unterschieden wird, welche Haut- oder Haarfarbe man hat oder ob die eigene Geschichte von Migration geprägt ist oder nicht, sondern jede_r ganz einfach MENSCH ist und keine Unterschiede mehr gemacht werden, und sich Vielfältiges zu einem offenen gemeinsamen Neuen entwickelt. Gegründet auf den einzigen wirklich festen Grund, Jesus Christus (1. Kor 3,11) und in der Kraft des Heiligen Geistes lebend, wollen wir als Reformationskonvent bewusst eine suchende und betende Jesus-Gemeinschaft sein: Der Campus der Reformationskirche wurde zu einem Ort, an dem in den Beziehungen zwischen uns und in der fragenden Ausrichtung auf Gott ehemals leer stehender Raum zum Lebensraum wurde. Wir freuen uns über unsere Unterschiedlichkeit (wir verzichten z.B. bewusst auf ein gemeinsames Schriftverständnis) bleiben miteinander im Gespräch, bis wir einen Konsens gefunden haben, gestalten Prozesse ergebnisoffen, lernen an Versuch und Irrtum und stehen als Gemeinschaft von Suchenden im Gebet vor Gott. Als Kirche wollen wir bewusst Beteiligungskirche sein. Der große Reformations – Campus bietet unendlich viele Chancen und Möglichkeiten, stellt uns aber auch vor große Herausforderung. Trotz und gerade aufgrund dieser Herausforderung leben wir im Vertrauen darauf, dass Gott uns im rechten Moment die nächsten Türen öffnet. Wir rechnen mit weiteren Akteur_innen und beten für Menschen, die sich beteiligen möchten. Kirche ist für uns der Ort, an dem sich Menschen verbünden, um das, was Gott ihnen aufs Herz gelegt hat, gemeinsam umzusetzen. Wir gestalten unsere Gottesdienste und kulturellen Veranstaltungen so, dass Teilnehmende selbst aktiv werden können. Wir laden ein, mitzugestalten und sich in unsere basisdemokratischen Prozesse einzubringen. Das Unfertige, der Baustellencharakter, bietet viel Raum für Menschen, die mitgestalten wollen. Deswegen leben wir Strukturen, die sich jenseits von Haupt- und Ehrenamt verorten: In unsererem Kirchen- und Gemeindedasein gibt es keine angestellten Arbeitnehmer_innen. Mit Ausnahme des Campus- Managements (hier werden wir einige teilzeitliche Stellen etablieren müssen) findet unser Engagement jenseits von Haupt- und Ehrenamt statt. Unsere Gemeinschaft möchte denen, die Beruf und Berufung miteinander verbinden wollen, dies ermöglichen. Dabei helfen uns unsere kreativen, künstlerischen, pädagogischen, theologischen und organisatorischen Ressourcen. Wir entwickeln Arbeitsfelder, die unseren inhaltlichen Schwerpunktsetzungen nahe stehen. Wir gehen offen mit unseren Möglichkeiten und Bedürfnissen um, unterstützen uns gegenseitig und bringen uns unentgeltlich oder als Freiberufler ein. Wir wünschen uns, dass GOTT durch seine Liebe, Veränderung, Transformation im Kiez bewirkt und wir in der Kraft des Heiligen Geistes unterwegs sind und leben. Als REFO-Gemeinschaft wollen wir uns nicht auf Grund unseres Glaubens abgrenzen. Wir können Menschen in unsere Hoffnung hinein nehmen und mit ihnen hoffnungsvoll leben, ohne dass sie den Grund unserer Hoffnung für sich annehmen können. So wird eine ehemals leere Kirche zu einem Ort, an dem Christ_innen und Nichtchrist_innen gemeinsam eine Hoffnungs-Gemeinschaft bilden.

  1. Wie hat dir das Studium Gesellschaftstransformation bei der ganzen Sache geholfen?

Nachdem ich das Studium der evangelischen Theologie abgeschlossen hatte, stellte sich mir der weiterführende Studiengang Gesellschaftstransformation als besonders fruchtbar und reizvoll dar, da sich hier Soziologie und Theologie zu einer wirklich gesellschaftsrelevanten empirischen Theologie verbinden. Wirklich bemerkenswert ist die integrale Verbindung von Theorie und Praxis. Jedes Theorie-Modul anhand des eigenen Projektes (unser Kirchentraum) zu vertiefen und die eigene praktische Arbeit mit Blick auf die Inhalte des Studiums zu reflektieren und weiter zu entwickeln, erwies sich als sehr wertvoll und inspirierend. Auch und besonders das Schreiben meiner Masterarbeit, war für mich sehr spannend und hilfreich, bot sich doch die Gelegenheit konkrete ekklesiologische Herausforderungen des täglichen Alltags soziologisch zu analysieren, theologisch zu reflektieren und anschließend praktisch-theologische Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in der Realität tatsächlich weiter helfen konnten. Neben den vielen wirklich spannenden Studieninhalten waren es aber auch die tollen Menschen und die vielen wertvollen Beziehungen, die im Kontext des Studiums entstehen durften, die mich begeistert haben. Besonders in Erinnerung wird mir die persönliche Ermutigung und das Zur-Seite-Stehen bleiben, besonders in Zeiten, wo es mir aus persönlichen Gründen sehr schlecht ging. Resümierend kann ich den GT Studiengang jede_m nur empfehlen, die_der sich wissenschaftlich interdisziplinäre thelogisch und soziologisch mit der Frage auseinander setzen möchte, wie wir einen aktiven Beitrag leisten können, dass sich unsere Gesellschaft durch die Kraft Gottes positiv verändern kann. Allerdings ist es sehr zu empfehlen, parallel nicht voll berufstätig zu sein.

  1. Was können andere von euch lernen?

Wir sind dankbar, dass wir Gottes Kraft und Hilfe zu allen Zeiten, besonders in den schwierigen und herausfordernden Phasen der Ungewissheit erleben durften und dürfen. Gerne wollen wir andere ermutigen, sich aufzumachen und Neues zu wagen. In der Evangelischen Kirche wird das, was wir leben, mittlerweile als Modellprojekt bezeichnet: Leer stehende Kirchengebäude und leere Kassen verbunden mit geistlichem Bedarf einerseits und Christ_innen, die sich leidenschaftlich gerne engagieren würden andererseits, gibt es auch an vielen anderen Orten. Und jetzt, wo mit dem Reformations-Campus ein Weg entwickelt und etabliert wurde, kann dies in adaptierter Form an anderen Stellen ähnlich gelebt und realisiert werden. Als wichtig und hilfreich hat sich der gute und frühzeitige Kontakt zu den relevanten kirchlichen und auch politischen Verantwortungsträgern erwiesen, ebenso das intensive Studieren und Kennenlernen des Kiezes und umfangreiche Engagement in der örtlichen Gemeinwesenarbeit.

Abschließend bleibt zu sagen, dass wir alle diejenigen, die sich vielleicht mit ähnlichen Gedanken beschäftigen, ermutigen wollen, nicht aufzugeben, sondern sich immer wieder von Gott begeistern und Kraft schenken zu lassen.

 

Wer mehr wissen will, dem sei die Masterarbeit von Stephan Rauhut ans Herz gelegt mit dem schönen Titel: “Neues Leben in alten Kirchen: missionale Integration von gemeinschaftlichen Leben, gesellschaftsrelevanten Gemeindebau und Immobilienmanagement.

2 Comments

  1. Ein großartiges Projekt. Ich hatte bisher noch nichts davon gehört. Gerade in Zeiten des anscheinend unaufhaltsamen und durch die Pollack-Studie inzwischen wissenschaftlich belegten Niedergangs der Kirche in Deutschland sind solche Leuchttürme wichtig. Danke für diesen Beitrag.

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  2. Thomas Thiele

    Leuchttürme, ja! Sie sind ein Hoffnungsschimmer und mehr als das! Nicht zwingend für die Kirchen an sich. Vielleicht für ganz neue Wege und Hoffnungen… Gute Wünsche!! Thomas Thiele

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