“Zehn gute Gründe, warum Flüchtlinge eine Chance für Deutschland darstellen.”

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Eigentlich dachte ich, dass zur aktuellen Flüchtlingsdebatte alles geschrieben und gesagt wäre, aber nach dem ich letzte Woche a) die Predigt von Pastor Tscharntke gehört habe und b) mit einem Christen sprach, der voller Wut und Stolz bei Pegida mitläuft, möchte ich aus meiner Sicht zehn gute Gründe nennen, warum ich denke, dass die Flüchtlinge Chance und Segen für unser Land sind. Denn gleichzeitig habe ich gestern die Einführung von Pastor Danial Danial (Bild) von der evangelisch-arabischsprachigen Gemeinde in Ludwigshafen, bei der Jahreskonferenz des Ev. Gemeinschaftsverbandes Pfalz in Zweibrücken, miterleben dürfen. Großartig, lebendig, mutmachend und wegweisend.

Zuerst kurz zu den Fakten (nach dem Bundesamts für Migration), da aktuell viele Zahlen ja geradezu abenteuerlich und oftmals sehr subjektiv gebraucht werden. Bis September 2015 wurden etwas mehr als 300 000 Asylanträge in Deutschland gestellt und es werden insgesamt für dieses Jahr ca. 800 000 Flüchtlinge erwartet. In den letzten zehn Jahren wurde jeder dritte Flüchtling abgelehnt, am häufigsten aus Ländern wie Pakistan, Afghanistan und dem Irak! Die Mär vom laxen Asylantrag und dass jede und jeder einfach reinspazieren kann, entspricht nicht der Wahrheit. Das Gegenteil ist der Fall und wir brauchen eine dringende Überarbeitung des Asylrechts, angefangen bei Dublin III, aber das ist ein anderes Thema.

Und noch eine Anmerkung, damit auch diese Zahlen in einem globalen Verhältnis stehen: 59 Millionen Menschen sind nach Angaben des BMZ als Flüchtlinge momentan weltweit auf der Flucht. 33,3 Millionen davon sind Binnenflüchtlinge, d.h. sie sind innerhalb ihres Heimatlandes in Flüchtlingslagern untergebracht, danach folgen die Nachbarländern (Bspw. Türkei: 1,9 Millionen syrische Flüchtlinge; Libanon: 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge oder Jordanien: 600.000 syrische Flüchtlinge) und nur ein Teil schafft es überhaupt nach Europa.

Grund 1: Die Ursachen suchen. Die Ursachen für die Flüchtlingsdebatte liegt nicht an der türkischen Grenze, sondern in einer über Jahrzehnte verfehlten Politik. Und wir sind aktiv an den Ursachen beteiligt. Auch wir Deutschen leben gut vom afrikanischen Kontinent (und ich möchte die lange Geschichte des Kolonialismus hier gar nicht bemühen). Trotz verschiedener Diktaturen liefen die ökonomischen Beziehungen bestens, Menschenrechte hin, Demokratiebewusstsein her. Die postkolonalistischen Abhängigkeiten der südlichen Länder vom Westen wurde in den letzten Jahrzehnten auch durch Stellvertreterkriege (angefangen in Afghanistan über Irak bis jetzt in Syrien) weiter vorangetrieben. Die Motive waren strategischer und ökonomischer Natur und dadurch wurden Länder und Regionen destabilisiert und wirtschaftlich ruiniert. Deshalb sind die Flüchtlinge Symptom und nicht Ursache und somit bietet sich für Deutschland jetzt die Chance, neu über die politischen Verhältnisse nachzudenken.

Grund 2: Der biblischer Auftrag. Es steht außer Frage, dass die Bibel sowohl im Alten Testament (2. Mo 12,48-49; 2. Mo 23,6-9; 3. Mo 19,34; 5. Mo 1,15-17; 5. Mo 10,19) als auch im Neuen Testament (Mt 25,35ff; ) eine ausgesprochene Willkommenskultur dem Fremden gegenüber vorgibt. Alle Menschen sind als Ebenbilder Gottes geschaffen und deshalb unabhängig ihrer Herkunft und ihres Tuns gleich viel wert (Gen 1, 26, 27). Dafür steht auch der Kreuzestod Christi, der allen Menschen gleich gilt und aus dem eine neue Gemeinschaft wächst, die das Potenzial hat, die großen Diskriminierungen dieser Welt zu überwinden, wie es Paulus an die Gemeinden in Galatien (Gal 3,28) und uns heute schreibt: In Christus gibt es nicht mehr Griechen und Juden (kulturelle Differenzen), nicht mehr Männer und Frauen (geschlechtliche Unterdrückung) und nicht mehr Freie und Sklaven (Ausbeutung durch Ungleichheit). Vor Christus gibt es nicht Flüchtling und Einheimische, nicht Deutsche noch Syrer, nein – vor ihm sind wir alle gleich. Die Nicht- Anerkennung dieser Tatschen, verdreht das Evangelium und führt in eine tiefe geistliche Krise.

Grund 3: Sich selbst beschenken. Was wir in den letzten Monaten erlebt haben an einer neuen Willkommenskultur ist ein Geschenk an uns selbst. In einer gesellschaftlichen Dynamik des Individualismus und des sich selbst am Nächsten sein, brechen viele Menschen auf und aus und nehmen ihre zivilgesellschaftliche Verantwortung für ihren Stadtteil neu wahr. Tragen etwas bei, damit gemeinsam ein Ziel erreicht wird, nämlich Menschen in Not zu beizustehen und zu helfen. Damit helfen sie nicht nur ‚den Anderen’, sondern auch sich selbst, dem Gemeinwesen, sondern tragen bei für das Ansehen eines ganzes Volkes.

Grund 4: Die neue Politisierung der Gesellschaft. Jahrzehnte lang haben wir uns über die Politikverdrossenheit in unserem Land ereifert. Immer weniger Menschen gehen zu Wahlen, die Jugend hat kein Interesse mehr an der Politik und überhaupt ist die Demokratie in der Krise. Nun, dank der Flüchtlinge, ist dies Vergangenheit. Kaum eine Begebenheit in unserem Alltag, in dem wir nicht über Flüchtlinge und Politik debattieren und das – ist gut so. Sei es auf Facebook, am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen und ja, wir dürfen auch unterschiedlicher Meinung sein und ja, wir müssen sogar darüber diskutieren. Vielleicht bräuchten wir dafür noch neue Formate und Räume.

Grund 5: Dankbar sein, für das, was Flüchtlinge beitragen. Wenn man manche so reden hört, könnte man meinen, dass es bei den Flüchtlingsunterkünften um ihr eigenes Hab und Gut ginge. So intensiv und voller Wut wird auf die Flüchtlinge gezeigt, die „einem ja alles wegnehmen“. Dem ist allerdings nicht so. Im Gegenteil, die meisten Flüchtlinge wollen nichts mehr, als ihren Beitrag für das Gemeinwesen beizutragen, in dem sie arbeiten und sich einbringen können. Und das trifft sich gut, da zehntausende Lehrstellen und hunderttausende Facharbeiterstellen in Deutschland momentan nicht besetzt werden können.

Grund 6: Das Grundgesetz und die eigene Vergangenheit. Viele in Deutschland haben Flucht während und nach dem 2. Weltkrieg selbst erlebt. Die Familie meines Vaters hat bei ihrer Flucht fast alles verloren und wurde in Deutschland herzlich aufgenommen und viele mussten teilen und sprichwörtlich zusammenrücken, um den Flüchtlingen ein neues Leben aufzubauen. Weil Millionen ähnliche Erfahrungen machten, wurde in Deutschland das politische Asylrecht 1949 im Grundgesetz (Artikel 16a) für die Bundesrepublik Deutschland verankert und wir sollten dieses Grundrecht gerade aufgrund unserer eigenen Geschichte ernst nehmen.

Grund 7: Die Bedeutung von Sprache erkennen. Es lohnt sich in der ganzen Debatte auf die Sprache zu achten: Flüchtlingswelle oder Flüchtlingsflut sind gute Beispiele für das, was Wörter implizit transportieren, denn eine Welle oder eine Flut kann nicht aufgehalten und kontrolliert werden und erzeugt dadurch Angst und Unsicherheit. Unsere Sprache prägt unsere Wirklichkeit und deshalb ist es wichtig, gerade in einer herausfordernden Situation sensibel mit Sprache umzugehen.

Grund 8: Die demographische Entwicklung. Es ist schon lange klar, dass wir auf eine demographisch sehr herausfordernde Zeit zulaufen. Gleichbleibend geringe Geburten bei einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft lassen die Alterspyramide kippen. So werden in Europa 2050 ca. 40 Millionen Menschen weniger wohnen. Um dies zu verhindern, brauchen wir Hunderttausende, die für den Wohlstand der nächsten Rentengeneration sorgen. Bisher wusste kaum jemand, woher diese Menschen kommen sollten, da ‚Bluecard’ und andere Bemühungen kläglich scheiterten. Und es ist fast zynisch zu sagen, aber jetzt kommen sie als Flüchtlinge in unser Land und werden uns helfen, den Fortbestand unserer Gesellschaft zu sichern.

Grund 9: Die Chance über unsere Außen- und Entwicklungspolitik nachzudenken. Zu viel Entwicklungshilfe hängt an wirtschaftlichen Bedingungen und nicht selten verdienen die großen Konzerne wieder gut daran (besonders unter Niebel). Jetzt ist ein guter Zeitpunkt sich grundsätzlich und langfristig im Klaren zu werden, was die globalen Transformationsprozesse für die Außen- und Entwicklungspolitik bedeuten. Die Millennium Entwicklungsziele der UN bis 2015 sind nicht erreicht worden und wurden jetzt reformuliert und neu bis 2030 ausgerufen. Gut, aber es wird nur gelingen, wenn sich Haltung und Strategie ändern werden.

Grund 10: Deutschland ist Missionsland. Vielleicht haben es einige noch nicht mitbekommen, aber das „christliche Abendland“ braucht keine Verteidigung mehr, denn es gab es noch nie, so wie wir es manche im folkloristischen Rückblick gerne sehen würden. Die institutionellen Kirchen nehmen kontinuierlich ab und beim Thema Mission haben uns längst Länder wie Indien oder Kenia abgelöst. ‚Reverse Mission’ nennt sich das in der Fachsprache und bedeutet, dass Missionare bewusst ins Missionsland Deutschland gesendet werden. Und jetzt kommen die Flüchtlinge dazu. Und so war es schon oft in der Bibel und in der Kirchengeschichte – Gott handelt durch Flüchtlinge und wenn man bedenkt, dass jeder vierte Flüchtlinge 2014 Christ war, scheint dies auch durchaus denkbar.

Natürlich ist diese Aufzählung nicht vollständig, denn ich habe noch nicht von den kulturellen Beiträgen der unterschiedlichen Kulturen gesprochen, denn was wäre Deutschland heute ohne Pizza oder Kebab, aber es ist ein Anfang, der jederzeit ergänzt werden darf….

 

 

 

 

13 Comments

  1. bis auf Punkt 1 Kann ich dem Beitrag gut zustimmen.
    Ich frage mich allerdings, wie du darauf kommst, dass in Sachsen im ersten Halbjahr 2015 weniger Flüchtlinge aufgenommen sein sollen, als im ersten Halbjahr 2014. Da ich selber in Sachsen wohne, beobachte ich, dass ständig neue Häuser, Turnhallen, etc. benutzt werden, um dort Flüchtlinge unterzubringen.
    Wenn das weniger als vergangenes Jahr sein sollen, macht das doch keinen Sinn, oder? Woher hast du diese Zahl? Bei http://www.sachsen.de/assets/Asylbewerber_und_Fluechtlinge_im_Freistaat_Sachsen_Stand_August_2015_2.pdf steht, dass in 2014 6930 Assylanträge gestellt sein sollen, im. 1. Halbjahr 2015 11519.
    Um klar zu machen: Ich finde Deutschland muss Flüchtlinge aufnehmen, ich bezweifle nur diese eine Aussage.

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    • sorry, da hake ich noch mal nach. Ich finde keine Zahl in dem von dir genannten Bericht, dass in Sachsen 2015 weniger Flüchtlinge gekommen sein sollen, als 2014. Die Zahl der Abschiebungen ist gesunken. Das mag man für gut oder falsch halten.
      Aber, dass zu beobachten wieviel Diskussionen hier geführt werden, weil an vielen Stellen der Stadt Flüchtlingsunterkünfte errichtet werden, ist mehr als nur “gefühlt”. Beispielsweise macht eine Universität aus ihrer Sporthalle doch nicht ein Flüchtlingslager, wenn es weniger Flüchtlinge gibt, als vor einem Jahr.

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  2. Lieber Herr Faix,
    in den meisten Fällen bin ich sehr angetan von den Ergebnissen ihrer Arbeit und dasge vielen Dank für gute Impulse.
    In diesem Fall ärgert mich nun der Titel: Brauchen wir wirklich handfeste Gründe um Flüchtlinge aufzunehmen? Brauchen Flüchtlinge wirklich einen Nutzen für uns damit wir sie aufnehmen wollen?
    Es sind Menschen, denen die Hütte über dem Kopf wegbrennt, die kommen hier nicht her um uns nützlich zu sein.
    Auch wenn ihre Argumente und Fakten richtig sein mögen. Aus christlicher Perspektive wünsche ich mir eine Annahme der Menschen um des Menschen (in Not) willen, nicht um seiner Leistung(sfähigkeit).
    Nehmt einander an, a) weil ihr euch gegenseitig braucht oder b) weil Christus euch angenommen hat?

    Ich glaube nicht, dass sich jemand durch die Fakten von seiner Xenophobie löst. Ich befürchte im Gegenteil, dass Menschen unter dem Eindruck der “nützlichen Flüchtlinge” sich in eine Art von Überheblichkeit reindenken die zu Herrentum & Sklavenhaltung führt.

    Fakten, die die Angst vor Flüchtlingen nehmen könnten, wären Informationen über Ihr Denken, Fühlen und Leben. Fakten die beschreiben, dass auch in dunkler Haut Mütter und Väter, besorgte und mutige, lebensfrohe und musikalische und und und stecken. Fakten, die zeigen, dass wir alle Menschen sind.
    Vielleicht bloggen sie dazu mal 10 Gründe, die uns als Menschen global vereinen, oder so.
    Danke fürs lesen.

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  3. Lieber Herr Peter,
    danke für Ihren Kommentar. Ich glaube hier liegt ein Missverständnis vor. Die von Ihnen angemahnte Annahme setze ich voraus und stehe 100% dazu. Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erzeugen, dass ich hier eine utilitaristische Flüchtlingspolitik propagiere, ganz im Gegenteil. Ich habe mich die letzte Wich einfach sehr gewundert und geärgert über viele Christinnen und Christen, die gerade sagen, ja, Barmherzigkeit und Annahme, aber es braucht auch eine Grenze, da wir und unser Land ja für alle die Barmherzigkeit und Annahme bezahlen. Und ich denke, dass es eben nicht so ist, wir bekommen noch etwas und so ist dieser Post entstanden.
    Vielleicht hilft diese kurze Erklärung etwas.
    Danke & Grüße
    Tobias Faix

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  4. Christian

    Glückwunsch! An politischer Korrektheit kaum zu überbieten! (außer vielleicht durch Davids Kommentar 😉 )

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  5. Lieber Uli,
    danke fürs nachhaken, das ist tatsächlich mein Fehler, steht nicht in dem Bericht und stimmt auch so nicht. Habe mir jetzt den offiziellen Bericht “Asylbewerber und Flüchtlinge im Freistaat Sachen” angeschaut und da ist die Zahl der Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen tatsächlich gestiegen.

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  6. Christian

    Punkt 4 ist witzig. Dürfen wir wirklich in der Asylfrage, wie auch schon zuvor in der Gender- und SexuelleVielfalt-Frage, “unterschiedlicher Meinung sein”, ohne der Häme und wüsten Beschimpfungen sämtlicher Medien ausgesetzt zu sein und als Staatsfeind Nummer 1 mundtot gemacht zu werden?

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  7. Ach Christian, genau diese Sachen bringen doch nichts. Die einen beschweren sich über die Anderen, dass sie nichts sagen dürfen und umgekehrt! Es ist doch klar, dass es auf beiden Seiten Grenzen gibt und die gilt es einzuhalten, seien es diese unsäglichen “Dritte Reich Vergleiche” samt Galgenbilder oder das abfackeln von Autos. Dazwischen ist aber viel Raum zur Diskussion….

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  8. Christian

    Du hast Recht! Die Zündelei ist furchtbar. Hast du in Spiegel-online gelesen, dass letzte Woche in Hamburg-Sülldorf ein ganzes Containerdorf abgefackelt wurde?

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  9. Andreas Hahn

    Sehr gut geschrieben, Tobias. Meine Frau arbeitet als Deutschlehrerin unter Flüchtlingen und Asylbewerbern, und ich kann einige deiner Punkte aus persönlichem Erleben bestätigen. Ich frage mich manchmal, wer von den Kritikern sich die Mühe gemacht hat, Flüchtlinge persönlich kennenzulernen.

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