„Jesaja 58: Ein Schrei nach Gerechtigkeit! Oder: Wider die schleichende Gewöhnung an die Ungerechtigkeit in unserem Alltag“

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„Rufe, so laut du kannst! Lass deine Stimme erschallen wie eine Posaune! Halte meinem Volk, den Nachkommen Jakobs, ihr Unrecht und ihre Vergehen vor!

Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit und macht jeder Unterdrückung ein Ende! Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen! 8Dann strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen und eure Wunden heilen schnell; eure guten Taten gehen euch voran und meine Herrlichkeit folgt euch als starker Schutz.“

 

Dieses Bibelwort aus Jesaja 58 hat mich in den letzten Jahren auf unterschiedliche Weise begleitet. So ist es kein Zufall, dass ich mit meinem Kollegen Thomas Kröck und dem Direktor von IJM Deutschland, Dietmar Roller, vor einiger Zeit zusammengesetzt habe und wir überlegt haben, was dieses Wort heute für uns bedeutet. Herausgekommen ist ein spannendes Buch mit dem Titel “Ein Schrei nach Gerechtigkeit. Ein Buch über Glauben, Menschenrechte und den Auftrag der Christen” an dem viele Expertinnen und Experten zu aktuellen Themen mitgeschrieben haben und für das ich sehr dankbar bin. Es bringt zwar von keine Lösung, aber es gibt sehr viele konkrete Hilfestellungen und einiges zum geistlich nachdenken, besonders was aktuelle Herausforderungen in unserer globalen Welt angeht. Hier ein kleiner inhaltlicher Einblick:

Es vergeht kaum ein Tag, an dem die globalen Geschehnisse dieser Welt nicht in unser Leben treffen. Sei es durch die Produkte, die wir möglichst günstig von allen Enden der Erde zu uns in die Wohnung schaffen, durch Internet und Fernsehen oder durch die neuen Nachbarn, die als Flüchtlinge aus Syrien gerade versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Keine Frage, die Welt hat sich verändert und “das globale Dorf”, von dem Marshall McLuhan 1962 in seinem Buch “Die Gutenberg-Galaxis” schrieb, ist tatsächlich wahr geworden.

Erst hielten wir es nicht für möglich, dann haben wir es nicht geglaubt und jetzt leben wir mittendrin. Die globalen Verschiebungen bringen eine Menge Chancen, Möglichkeiten, Herausforderungen und Ungerechtigkeiten mit sich.

Und darum soll es in diesem Buch gehen. Wir wollen die globale Welt mitten unter uns wahrnehmen und fragen, was dies für uns bedeuten kann. Denn auch für Christen und Gemeinden hat sich viel verändert. Der gesellschaftliche Wandel hat längst große Auswirkungen und das einst so gelobte “christliche Abendland” ist bereits Vergangenheit.

Postsäkularisierung und Respiritualisierung sind die neuen Zauberwörter der Gegenwart. Sie beschreiben, dass sich das institutionell verfasste Christentum in Deutschland in einer Krise befindet – obwohl immer mehr Menschen irgendwie an irgendetwas glauben. Nur oftmals nicht mehr an den Gott der Bibel. Andere haben das längst erkannt und schicken Missionare nach Deutschland. Sie kommen aus Brasilien, Tansania oder Indien, um den Deutschen die gute Nachricht von Christus zu bringen. “Reverse mission” – umgekehrte Mission – nennt man das. Und dieser Prozess ist erst der Anfang einer Entwicklung, die sich schon heute in einer neuen Weltkarte des Christentums zeigt, auf der Europa künftig kaum noch eine Rolle spielen wird. Manche dieser neuen Missionare werden von ihren Heimatgemeinden ausgesandt und finanziell unterstützt. Aber Gott sendet auch Flüchtlinge und Asylsuchende zu den Menschen, die es nötig haben; das hat er schon immer getan.

Flucht und Asyl als biblisches Handeln Gottes?

So war es schon oft in der Bibel und in der Kirchengeschichte. Deshalb sollte es uns nicht überraschen, dass Gott heute immer noch so handelt. Ja, eigentlich müsste man sagen, dass die ganze Bibel ein Buch von Flüchtlingen und ihrer Flucht und Vertreibung ist. Schon der Verlust des Paradieses kann als Migration bezeichnet werden und gibt eine Art Motto vor: “Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden!” (1. Mo 4,12), lautet Gottes Ankündigung für das Leben von Kain, der seinen Bruder Abel umbrachte. Abraham, der Stammvater des Volkes Israel (1. Mo 12), zog als Nomade ein Leben lang umher. Mose war auf der Flucht, weil er wegen Mordes gesucht wurde, bevor er später das ganze Volk als Flüchtlinge aus Ägypten herausführte, woran sich das Volk Israel bis heute mit dem Laubhüttenfest erinnert. Nach dieser Flucht irrte das Volk 40 Jahre in der Wüste umher, bis es endlich Heimat fand (Jos 11). Aber auch danach war die Geschichte Israels geprägt von Flucht, Vertreibung und Exil sowie von Sehnsucht nach Identität und Heimat. Vielleicht weil das Volk Israel das selbst so erlebt hat, hat Gott ihnen aufs Herz gelegt und in Gebote geschrieben, dass Fremde und Migranten unter einem besonderen Schutz stehen (2. Mo 23,1-9; Jes 58,1-12; Sach 7,1-14; Mal 3,1-5).

Das Thema prägte auch Jesu Leben. Er immigrierte in diese Welt hinein und lebte mit seinen Eltern eine gewisse Zeit als Migrant in Ägypten, bevor die Familie ins von den Römern besetzte Heimatland zurückkehren konnte. Später zog er in guter jüdischer Tradition drei Jahre ohne festen Wohnsitz umher, lebte und lehrte die gute Nachricht vom Reich Gottes und teilte sein Leben mit seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern (Mt 16,24-28). Diese trugen das Evangelium dann weit in die damalige Welt hinaus, teils freiwillig, teils weil sie in der Heimat verfolgt wurden. Der Lohn dieser Nachfolge geht über das Irdische hinaus und spiegelt, dass Christen wissen, dass alles Leben auf der Erde nur das Vorletzte ist (Mt 19,27-30). Auch bei den ersten christlichen Gemeindegründungen war dies nicht anders. Die ersten christlichen Missionare wurden verfolgt und mussten fliehen (Apg 8,1-4). Aus der Gruppe von Flüchtlingen wurde die Keimzelle einer weltweiten Ausbreitung des Evangeliums. Später wurden diese Migrationsgemeinden im römischen Reich von Paulus besucht und betreut.

Was aus diesen wenigen Zeilen schon deutlich wird, ist das universale Handeln Gottes in dieser Welt. Gott hat von Anfang an alle Menschen und alle Völker im Blick seines Handelns. Besonders im Alten Testament wird dies exemplarisch deutlich an der Erwählung des Volkes Israel. Gott nimmt sich dieses Volkes an, weil es das kleinste unter den Völkern ist, und geht mit ihm durch alle nur vorstellbaren Krisen dieser Welt. Das Verhältnis zwischen Israel und Gott wird nicht umsonst als Beispiel und Liebesbeziehung (Hosea) in der Bibel bezeichnet, denn so wie Gott an Israel handelt, so will er an allen Menschen handeln.

Gottes Wesen ist Gerechtigkeit

In dieser Geschichte Gottes mit den Menschen spielt der Begriff Gerechtigkeit eine zentrale Rolle, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Gerechtigkeit ist im biblischen Sinne immer untrennbar mit Gott selbst verknüpft (Ps 7,1: “Gottes Wesen ist Gerechtigkeit”). Es geht also nicht um eine Randerscheinung, sondern um eine zentrale Aussage der Bibel – im Kern um ein Wesensmerkmal Gottes. Gott steht dabei für die Notleidenden ein und identifiziert sich mit ihnen (Ps 103,6, Amos 5,11f). Das Alte Testament geht sehr realistisch mit der Situation von Ungerechtigkeit um (5. Mo 15,11). Soziale Gerechtigkeit wurde im Alten Testament mit einem Ausgleich über den Zehnten von allem Geernteten (5. Mo 26,12) eingeführt. Die Armenpflege wurde, weil schon im Gesetz vorgeschrieben, zum Alltagsgeschehen der Israeliten (5. Mo 15,7; 5. Mo 24,14).

Aber nicht nur die Sorge um die Armen war im Gesetz festgelegt, auch Ausländer wurden mit Gastfreundschaft bedacht: “Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer” (3. Mo 19,34). Fremdheit sollte überwunden und Ausländer sollten in die Mitte des Volkes aufgenommen werden. Die Gerechtigkeit Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch das Heilshandeln Gottes an den Menschen und wird an den universalen Bünden deutlich (etwa dem Bund Gottes mit Noah oder dem mit Abraham). Gottes Gerechtigkeit begründet sich in seiner Treue und seiner Verpflichtung gegenüber seinen Bundesversprechen. Gott befreit (2. Mo 20), verurteilt (Amos 2) und vergibt (Jes 46). Dabei ist er nicht parteilos, sondern setzt sich für seinen Bundespartner ein. In diesem Sinne bedeutet Gerechtigkeit immer auch Solidarität Gottes, er hält zu seinem Volk und steht ihm zur Seite, Gott selbst hält sich zu den Unterdrückten und Entrechteten und will ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Das Ziel des Handelns Gottes ist immer, das Heil und die Gerechtigkeit des Bundesvolkes zu erlangen. Ganz praktisch wird dies immer wieder dadurch deutlich, wie Gott die Schreie der ungerecht Behandelten hört und erhört.

Gott hört den Schrei der Entrechteten

Und Gott reagiert dabei oftmals auf das Schreien und die Not der Menschen. Er rettet die Ägypterin Hagar, die vor ihrer Herrin Sara in die Wüste flieht (1. Mo 16,1ff) und heilt den Syrer Naaman, der an Aussatz leidet (2. Kön 5). So führt Gott, ähnlich wie Israel aus Ägypten, die Philister aus Kuta oder Syrer aus Kir (Amos 9). Gott errettet die Völker Lo-Ruhama und Lo-Ammi und spricht ihnen zu, dass sie sein Volk werden (Hos 2,25). Er errettet die heidnische Stadt Ninive (Jona) und spricht Gericht und Heil an alle Nationen dieser Erde (Jesaja, Joel, Micha). So ist es nicht verwunderlich, dass Gott seine Nachfolger in seinen Auftrag, das Schreien der Menschen zu hören, mit einbezieht. Israel soll ein “Licht für die Völker sein” und durch sein Vorbild die anderen Völker auf Gott hinweisen.

Auch im Neuen Testament wird diese Linie des gerechten Gottes konsequent weitergezogen. Jesus identifiziert sich in seiner großen Rede vom Weltgericht ganz praktisch mit den Ausgegrenzten und Entrechteten, wenn er sagt: “Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht” (Mt 25,42). Das fordert uns heraus und stellt unser Leben, unser Handeln und unsere Gottesbeziehung infrage. Hören wir die Schreie der Unterdrückten noch? Oder sind wir zu sehr mit den Stimmen der Konsumgesellschaft beschäftigt? Es geht also bei der Frage nach Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit immer auch um uns, und nicht nur um die Notleidenden. An ihnen können wir erkennen, wie es um unsere eigene Gottesbeziehung bestellt ist.

 

9 Comments

  1. sCHULz

    Gottes Wesen ist Gerechtigkeit – nur zu wahr! Aber in diesem Artikel scheint es doch eher um die äußere Gerechtigkeit zu gehen und nicht die Gerechtigkeit eines gerechten Gottes, der in seinem gerechten Zorn über unsere Sünde gerechterweise alle Menschen verdammen müsste. Zudem bleibt doch die flächendeckene, soziale Gerechtigkeit letztlich eine Utopie – bis der in sich ungerechte Mensch von Gott gerecht gesprochen wird und aus seiner Wandlung des Herzens heraus ein Zeuge des Heils Gottes wird. Solange die Leitung mit Gott gekappt bleibt, kann man höchsten die Ungerechtigkeitsquote in diesem Weltchaos etwas drücken – gänzlich verhindern lässt sie sich ja nicht, bis Jesus selbst kommt.
    “Gerechtigkeit” wird ja von allen möglichen und umöglichen Leuten, Parteien und Gruppierungen gefordert, die mit Gott kaum und mit Jesus Christus selbst gar nichts zu tun haben wollen. Das kann ja nichts werden. Natürlich braucht der Glaube Werke, da er sonst tot ist. Wie gut aber, dass das Evangelium dem “Macher” in uns klar entgegentritt und denen, die nichts mehr “machen” können trotzdem ewiges Heil bringt:
    Römer 3, ab 21: Jetzt aber ist außerhalb des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes offenbar gemacht worden, die von dem Gesetz und den Propheten bezeugt wird, nämlich die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Jesus Christus, die zu allen und auf alle [kommt], die glauben. Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten, so daß sie ohne Verdienst gerechtfertigt werden durch seine Gnade aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ist.

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    • Es ist die Trennung zwischen Äußerem und Innerem, Bewussten und Unbewussten, privater Frömmigkeit und sozialem Handeln, welche schon so viel Unheil gebracht hat. Nicht nur in Gesellschaften und Kirchen, sondern auch in Familien und im Leben des einzelnen Gläubigen. (Eugen Drewermann hat dazu eine Menge zu sagen.) Ein gottgefälliges Leben erwächst durch Gottes Wirken aus einem gesunden Glauben. Dieses Leben umfasst den ganzen Menschen und auch alles Aspekte seines Handelns: Wofür er seine Zeit und Kraft verwendet, welche Firmen oder Wirtschaftssysteme er mit jedem Euro unterstützt, den er ausgibt, welche Partei er wählt, … Sozial zu denken und zu handeln ist kein christliches Extra, sondern gehört zum Wesen des christlichen Glaubens. Ein Herz, das von Gottes Liebe erfüllt worden ist, kann nicht ganz o.k. sein, solange nur ein einziger Mensch leidet. Der gute Hirte sucht auch das letzte verlorene Schaf.

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  2. Ja, danke, es stimmt, dass man auf beiden Seiten vom Pferd fallen und Römer 3 ist zum Thema Rechtfertigung ein wichtiger Hinweis. Aber da ich die Bibel liebe, müssen eben beide Seiten von Gottes Gerechtigkeit betont werden, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bibel ziehen. Und der Macher ist Gott sowohl in den sozialen Strukturen, zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Gottesbeziehung. Alles drei lässt sich meiner Ansicht nach nicht trennen, sondern verkörpert Gottes Willen hier auf Erden, sicher in aller Gebrochenheit und doch mit der Hoffnung, dass Christus kommt und sein Werk vollenden wird. Diese Hoffnung ist so stark, dass sie die Kraft hat sogar die Gegenwart zu verändern – Jesus nennt das dann: Rich Gottes. 😉

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  3. Ich möchte von dem, was Tobias geschrieben hat, gar nichts verkleinern, sondern nur noch einen Gedanken von mir hinzufügen.

    Analysieren, Verstehen und Lösungen suchen, ist alles etwas, das im Kopf passiert. Bei uns funktionieren aber manchmal Dinge nicht richtig, weil in den tieferen Schichten unserer Person etwas nicht stimmt. Veränderungen in unserem Verhalten hängen mit Veränderungen in unserem Herzen zusammen und sind auch ein Lern- und Wachstumsprozess. Ich wünsche mir eine Christenheit, in der richtig Glauben, mit Gott richtig sein und richtig leben eine selbstverständliche, harmonische Einheit sind. Wir brauchen ein Reden von Gott, wie Jesus es hatte und durch das Menschen gesund wurden.

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    • Ich finde den Gedanken , dass Menschen durch ihren Glauben “gesund werden” interessant und wichtig. Dies hat ja sehr viel damit zu tun, wie wir miteinander umgehen, die Frucht des Geistes (Gal 5) ist ja interessanterweise sozial zwischen uns sichtbar….

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      • Ich habe bisher keinen besseren Ansatz zur Verbindung von Glaube, Gesundheit und Gesellschaft gefunden als die Theologie Eugen Drewermanns. Er schlägt einen weiten Bogen von Jesus und tiefenpsychologischen Aspekten bis hin zu internationaler Wirtschaftspolitik. Mich hat ein bisschen überrascht, dass ich bis jetzt kaum Verbindungen zwischen Drewermann und der emerging church gefunden habe.

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