Tabuthema Entkehrung. Zur vierten Auflage von „Warum ich nicht mehr glaube“ – Zwölf Lernfelder für Kirche und Gemeinde.

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„Sie reden irgendwie von Freiheit. Gott und Glaube machen frei, aber gleichzeitig stellen sie so viele Regeln und Gesetze auf, die man alle einhalten muss, weil man sonst nicht mehr bei Gott ist.“ Claudia

 

Auf keine meiner/unserer Studien und Bücher habe ich in den letzten Jahren so viel Feedback bekommen wie auf „Warum ich nicht mehr glaube”. Die meisten Zuschriften waren von Menschen, die sich bedankt haben, dass dieses Thema ‚endlich mal‘ aufgenommen und reflektiert wurde. Besonders gefreut habe ich mich, dass viele „Entkehrte“ sich in dem Buch wiedergefunden haben. Nicht, weil ich mich über ihre Geschichte freue, sondern weil wir versucht haben möglichst fair und objektiv die Interviews wiederzugeben und zu analysieren. Viele Rückmeldungen gingen in die gleiche Richtung wie Jürgen Mette in seiner Rezension beschreibt:

Die Dekonversations-Biografien junger Menschen sind selbstverständlich anonymisiert, aber es drängt sich ständig der Eindruck auf, dass die Geschichten mitten unter uns spielen, oder kurz vor dem Outing stehen: Eingeengte, Zerrissene, Enttäuschte, Geplagte. Ich gestehe gern, dass ich nicht die geringste Ahnung von den Abgründen hatte, in die junge Menschen auf dem Weg religiöser Sinnsuche geraten können. Was ich als Geistesleitung erfahre, als Führung Gottes, das durchschaut der Suchende als Zweckoptimismus, gruppendynamischen Effekt, Machtmissbrauch, Manipulation und Ignoranz neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wir als prägendes und predigendes Personal – berufen mit heiligem Ruf – sind unter Umständen Ursache für schmerzliche Entkehrungsprozesse. Dieses Buch öffnet uns Ent-zweifelten den Blick für die Ver-zweifelten, die weniger an der Bibel, sondern eher am göttlichen Personal gescheitert sind.

Neben den positiven Rückmeldungen, gab es aber auch Kritik. Man sagte mir, ich sei ein „Nestbeschmutzer“ oder ein Mann fragte mich: „Lieber Herr Faix, während Sie zurückschauen und diesen verlorenen Menschen zuhören, bekehre ich Hunderte. Was denken Sie, was später im Himmel mehr zählt?“ Nun, ich denke, ich will das gar nicht gegeneinander ausspielen, aber genau diese Haltung ist es, wegen der viele Menschen sich vom Glauben und der Gemeinde abwenden.

Was ich mir für die vierte Auflage Wünsche

Ich bin überzeugt, dass wir gerade den Menschen, die nicht mehr Glauben können oder wollen, mehr zuhören müssen, weil sie uns auf die Missstände in unseren Gemeinden hinweisen. Deshalb freue ich mich, dass das Buch in eine weitere Auflage kommt, mit der Hoffnung, dass wir in unseren Kirchen und Gemeinden dieses Thema weiterhin diskutieren. Ich möchte an dieser Stelle einige Punkte aufführen, über die wir meiner Meinung nach verstärkt nachdenken sollten:

  1. Wird das Thema Dekonversion in unserer Gemeinde/Kirche offen thematisiert oder eher verdrängt? Wie könnte es mehr ins Gespräch kommen und konstruktiv diskutiert werden? Und ganz allgemein: Gibt es in unserer Gemeinde/Kirche vertrauensstiftende Räume, eine einladende Kultur und eine offene Kommunikation? Wie könnten diese entstehen?
  2. Wie gehen wir in unserer Gemeinde/Kirche mit den betroffenen Menschen um? Respektieren wir ihre komplexe Geschichte mit Gott, mit Kirche/Gemeinde und mit anderen Christen?
  3. Nehmen wir unsere Verantwortung gegenüber den Betroffenen ernst? Ist uns bewusst, dass diese Verantwortung nicht darauf enggeführt werden kann, dass sie wieder zum Glauben zurückkehren?
  4. Bringen wir Zweifelnden und Nicht-mehr-Glaubenden ehrliches Interesse an ihrer Person, ihrer Geschichte und ihren Erfahrungen entgegen? Hören wir ihnen vorurteilsfrei zu? Können wir ihre Entscheidung zunächst einmal stehen lassen?
  5. Wenn Mentoring und Begleitung in Umbruchs- und Reifungsphasen für junge Erwachsene so wichtig sind – wie könnten wir in unserer Gemeinde/Kirche verstärkt solche Angebote initiieren? Wie könnte auch für ein Miteinander der Generationen geworben werden?
  6. Sind wir sensibel für ungesunde Machtstrukturen und negative Dynamiken in unserer Gemeinde/Kirche? Gibt es Foren, wo offen und angstfrei darüber gesprochen werden kann?
  7. Wie können wir in unserer Gemeinde/Kirche eine Theologie fördern, die weder einseitig ist, noch in Beliebigkeit ausartet? Wird sie nur von Einzelnen geprägt oder dürfen sich alle einbringen? Können wir Glaubensvielfalt als Chance sehen? Gibt es bei uns eine Kultur, die Denken, Eigenständigkeit und Selbstverantwortung nicht begrenzt, sondern fördert?
  8. Für viele ist der Zweifel an Gott und/oder der Bibel mit Scham belegt und sie getrauen sich nicht darüber zu reden. Doch gerade diese Isolation fördert häufig den Zweifel und lässt ihn wachsen. Wo sind ‚sichere Räume’? Welche Atmosphäre herrscht in unseren Gottesdiensten? Was vermitteln unsere Predigten?
  9. Der Umgang mit Homosexuellen war in vielen Erzählungen/Geschichten ein Thema, bei dem es vor allem um die Haltung ging, wie mit dieser Gruppe umgegangen wird. Wie passen die in Lobpreis gesungenen Lieder der Gnade und Liebe für alle mit der vielfachen Ausgrenzung dieser Gruppe zusammen?
  10. Wie kann dafür gesorgt werden, dass gerade junge Leute sich auf gesunde Art und Weise von Jesus abhängig machen, ohne sich dabei selbst zu verlieren oder problematische Persönlichkeitszüge zu kompensieren? Wo müssten wir diesbezüglich umdenken, z.B. in Verkündigung, Seelsorge bzw. in der Jugendarbeit allgemein?
  11. Gibt es in unserer Gemeinde/Kirche Raum und Sensibilität für das Thema Missbrauch, insbesondere geistlichem Missbrauch? Gibt es Angebote zur Prävention und – wo nötig –  zur Aufarbeitung?
  12. Können wir sehen, dass Zweifel integraler Bestandteil des Glaubens und eigentlich eine Ressource sind? Fördern wie eine Kultur, in der ausdrücklich gewünscht ist, dass Fragen und Zweifel geäußert werden? Haben wir den Mut, auch zu unserem Nicht-Wissen zu stehen bzw. können wir es aushalten, dass es auf manche Fragen vielleicht keine oder zumindest keine einfachen Antworten gibt?

 

Zum Abschluss möchte ich gern noch Jürgen Mette zitieren:

Diese Lektüre kann nur zur Buße und zu neuer Empathie mit denen führen, die auf der Strecke geblieben sind, aber vielleicht freier sind als wir, dichter an Gott selbst und seinem Wort. Wir lernen zu verstehen und werden still, ganz still. Und dann setzt vielleicht ein fruchtbarer Lernprozess ein, der im schönsten Fall zu einem versöhnten Treffen der Entkehrten führt. Wer sich entkehrt, entkernt sich nicht zwangsläufig. Die Distanz zu meiner Bekehrungsgeschichte könnte den Kern meiner Existenz aufdecken: mein Glück als Geliebter Gottes, die Freude über die Amnestie, die mir der Heiland Jesus Christus schenkt.“

 

Christina Brudereck hat, neben einer sehr lesenswerten Rezension des Buches für die Zeitbeilage „Christ & Welt” , auch diese wertschätzenden Worte geschrieben.

Will ich das wissen? Wie es zur Ent-Kehrung kommt?

Will ich das wahrhaben? Dass es De-Konversion gibt?

Will ich das beachten? Dass es Aus-Wählen gibt?  

Ich kenne Zweifel, habe selbst genug davon. 

Ich kenne eigene Irritation über das Christentum und seine Dogmen & Gesetzlichkeiten. 

Ich kenne alles von Kopfschütteln bis Verzweiflung über einzelne VertreterInnen meiner Glaubenstradition.  

Ich vermisse Gott in dieser Welt.

Will ich mehr wissen? Muss ich? Ja, ich muss. 

Um der Ent-Kehrten willen. Also um der Liebe willen. 

Um meiner eigenen Entkehrungs-Tendenzen willen. 

Um meiner Arbeit willen. 

Ich will eigentlich erst Mal nicht. 

Aber um Gottes willen habe ich am Ende doch gelesen. 

Mit großem Gewinn.

Es war entlarvend. Wohltuend ehrlich. 

Es war schaurig. Traurig. Eine Offenbarung. 

Erforscht, nachgefragt und aufgeschrieben, gibt es kein Zurück.

Ich komme hinter mein Wissen nicht mehr zurück.

Was das bedeutet, muss ich jetzt herausfinden. 

Christina Brudereck

3 Comments

  1. Das war auch das, was ich gedacht habe, als ich es gelesen habe, dieses will ich es wirklich wissen? Und mit der Antwort: Ich will vielleicht nicht, aber ich muss. Obwohl ich es (noch) nicht komplett gelesen habe. Traue mich immer noch nicht wirklich. Es war auch so schon hart genug. Trotzdem denke ich, ist es eine Pflichtlektüre für die, die sich auf irgend eine Weise für die Christen und für Gemeinde verantwortlich fühlen. Wir können uns diese Scheuklappen schlicht nicht leisten, denn wir Christen haben eh schon den Ruf, Missbraucher zu sein, das hab ich schon oft gehört von Leuten, die sich selbst niemals Christen nennen wollten. Und das Schlimmste daran: Sie haben oft genug Recht. Und wir wollen es einfach nicht sehen sondern geben dann noch den Opfern die Schuld.

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  2. Mareike

    Ich finde das ganze Thema wahnsinnig spannend – bei aller Traurigkeit über alle diese Geschichten und all das, was da kaputt ging an Vertrauen, Beziehungen usw. Besonders Punkt 7 finde ich spannend. Ich schreibe meine Diss gerade zum umgekehrten Thema – wie es zum Glaube und zu religiösen Positionen kommt. (Und nein, der Heilige Geist schenkt uns Glaube, ist nicht der alleinige Inhalt 😀 Da gibt es so viel mehr Zwischenschritte). Und gerade das, was du in Punkt 7 ansprichst, die Vielfalt und die Spannung zwischen Beliebigkeit und Vielfalt, letztlich ein dynamisches Verständnis von Wahrheit, was dann christologisch rückgebunden werden kann, ist da glaube ich ein ganz wesentlicher Punkt. Spannende Sache! Bin gespannt, was da noch so kommt. Cool, dass ihr in Richtung Gemeindepraxis denkt, wie man damit umgehen und vielleicht auch die ein oder andere Entkehrung verhindern oder sich versöhnen kann.

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  3. Ich hatte eine Phase von mehreren Jahren, in denen ich nicht mehr gläubig war. Diese Zeit empfinde ich heute als heilsam, denn ich hatte die Möglichkeit, ohne frommen Filter auf Gemeinden zu schauen. Und ich war erschrocken, wie oft göttlicher Wille mit Übergriffigkeit verwechselt wird, oder persönliches Empfinden als biblische Anforderungen an das Gemeindeleben missinterpretiert. Meine Einschätzung seitdem ist (natürlich völlig subjektiv), dass etwa 80% dessen, was als göttlicher Wille für die Gestaltung des (Gemeinde-)Lebens angesehen wird, eigentlich persönliche Vorlieben oder Prägungen sind, und nur 20% wirklich biblische Vorgaben. Ein mildes Beispiel dafür ist die Diskussionen um das verwendete Liedgut. (Moderne Anbetungslieder seien zu oberflächlich usw.)
    Der Glaube kam zu mir zurück. Aber der kritische Blick auf meine Gemeinde ist geblieben, und heute empfinde ich meinen Glauben als wesentlich gesünder. Und ich bin dankbar, dass es Theologen gibt, die sich mit kritischen Fragen auseinandersetzen – so wie dieser Blog oder das obige Buch. Das gibt mir Hoffnung, dass Dinge sich ändern werden. Denn wir brauchen eine ernsthafte, respektvolle und an der Bibel orientierte Auseinandersetzung mit den Fragen unserer Zeit. Und wir brauchen den Mut, die Bibel in unsere Zeit zu holen. Das geht. Nichts anderes hat Jesus damals getan.

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