“Ist mündiger Glaube gefährlich?”

Theologie

 

Es wird wieder diskutiert: Bibelverständnis, Ethik oder Kirchenverständnis. Es geht teilweise hoch her in den sozialen Medien und das ist (bis auf einige negative Aussetzer) gut so. Während die einen auf die Klarheit und Eindeutigkeit der Heiligen Schrift gerade in unübersichtlichen Zeiten verweisen, bestehen die anderen darauf, dass ein Glaube gerade in pluralen Zeiten mündig werden muss, um bspw. fundamentalistische Tendenzen abzuwehren. Aber gerade über einen „mündigen Glauben“ gibt es eine große Uneinigkeit. Wieviel Mündigkeit und Freiheit tut gut? Oder braucht es doch Grenzen und Regeln, gerade für die junge Generation? Und hier sind wir bei einem spannenden Thema, denn „mündiger Glaube“ lässt dem eigenen Denken und Hinterfragen Raum und fördert eine Ambiguitätstoleranz, die auch ein Nebeneinander von Meinungen stehen lassen kann. Doch dies scheint für manche gerade nicht möglich.

Bringt mündiger Glaube junge Christ*innen vom „rechten Weg“ ab?

Vor fast genau drei Jahren habe ich mit meinen Kollegen Tobias Künkler und Martin Hofmann das Buch „Warum wir mündig glauben dürfen: Wege zu einem widerstandsfähigen Glaubensleben“ herausgebracht. Das Buch setzt sich mit der Entwicklung des Glaubens im eigenen Lebenslauf auseinander. Dabei geht es um all die Themen, mit denen wir in unserem Glaubensleben zu tun haben und die unseren Glauben maßgeblich beeinflussen, wie Macht, Sexualität, Ehrenamt, Mündigkeit, Zweifel, ‚neuer Atheismus‘ oder natürlich das Bibelverständnis. Das Credo der Autorinnen und Autoren fällt dabei ganz unterschiedlich aus. Für alle war es jedoch erstrebenswert, dass sich der eigene Glaube entwickelt, also mündig, aufmerksam und widerstandsfähig wird. Neben vieler positiver Stimmen, gab es auch einige kritische Stimmen, was gut war, weil gerade mündiger Glaube die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen sucht. Zusammenfassend gab es vor allem zwei Einwände der Kritiker*innen. Sie sagen: a) der Glaube ist immer ein Geschenk und entwickelt sich somit bspw. nicht mit der Persönlichkeit mit (gegen zum Beispiel Fowler und die Stufen des Glaubens) und b) ein mündiger Glaube überfordert gerade viele junge Christinnen und Christen und wird somit zum „Einfallstor“ gegenüber einer liberalen Theologie und bringt so Christinnen und Christen vom rechten Weg ab.

Ist es vielleicht doch komplizierter?

Zunächst muss ich den Kritikern recht geben, denn mündiger Glaube kann auch gefährlich oder sagen wir eher ein gewisses Risiko mit sich bringen. Dazu kommt, dass viele Menschen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, intellektuelle Fähigkeiten emotionale Empathie etc. mitbringen. Für manche ist die Weiterentwicklung ihres Glaubens eine Notwendigkeit, um diesen für sie zu retten (siehe auch die Studie „Warum ich nicht mehr glaube“), für andere kann es aber auch eine Überforderung darstellen, weil sie sich permanent überfordert fühlen den eigenen Glauben entwickeln zu müssen. Gemeinde und Gemeinschaft können dabei eine Hilfe, aber auch ein Hindernis sein. Ich erlebe immer wieder, dass gerade junge Christinnen und Christen, die sich aufmachen, ihren eigenen Glauben und auch ihre Glaubensprägung zu hinterfragen, auf Unverständnis in Gemeinden stoßen, ja es sogar eine gewisse Scham gibt, weil man sich schlecht fühlt, zweifelt und ein guter Christ*in das doch nicht kennt. Die Folge ist oftmals, dass diese Christinnen und Christen die Gemeinde verlassen, weil sie sich nicht verstanden und angenommen fühlen und sich geistlich mit Podcast etc. versorgen. So gut und hilfreich ich bspw. Hossa Talk oder Worthaus auch finde, sie ersetzen keine Gemeinde. Im Gegenteil, beides ergänzt sich gut, wir brauchen ein neues miteinander zwischen analogen und digitalen Netzwerken, gerade da wo es um „Risikofaktoren“ des Glaubens geht. Vielleicht könnte man mal ein einen Worthaus Hauskreis auf Zeit gründen, in dem die Worthausvorträge gehört und dann kritisch diskutiert werden. Gerade in einer Zeit, in der religiöse Bildung im Umbruch ist, brauchen wir neue Formate und Methoden, um Glauben zu stärken und mündig zu machen.

Die Gretchenfrage: Was ist mündiger Glaube?

Wenn wir fragen, was Glaube überhaupt ist, stoßen wir zunächst darauf, dass Glaube mit Vertrauen zu hat und ein Beziehungsbegriff ist, der sich im neuen Testament ganz praktisch in der Nachfolge zeigt. Glaube ist nicht etwas, ein Gegenstand oder ein Konstrukt, der von Generation zu Generation einfach den Besitzer wechseln kann, sondern ein Beziehungsgeschehen. Glaube ist Vertrauen in eine Person und mit der Entscheidung verbunden, sich dieser Person nähern zu wollen und zu vertrauen. Vertrauen kann allerdings nicht erzwungen werden, denn Beziehungen setzen Freiheit voraus. Es ist also kein statischer, sondern ein relationaler Begriff und somit einer, der lebt und auch ein gewisses Risiko mit sich bringt, wie zum Beispiel die Geschichte in Matthäus 14 zeigt. Dort fordert Jesus Petrus auf dem See Genezareth heraus, aus dem Boot zu steigen – und Petrus vertraut, glaubt und geht. Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel hat in seinem beeindruckenden Werk „Das Geheimnis der Welt“ eine sehr sinnige und treffende Definition gefunden: Glaube heißt Ent-Sicherung. Und natürlich ist es ein Geschenk der Gnade, bzw. des Heiligen Geistes (Röm 8,9), dass wir überhaupt glauben können. Und doch kann dieser Glaube sich entwickeln, kann wachsen oder sogar wieder verloren gehen. Paulus schreibt seinen Geschwistern in Korinth, die eine ausgesprochene geistliche Gemeinde waren, reich an Geistesgaben und Wundern. Und doch wirft Paulus ihnen Unmündigkeit vor und sagt, dass sie nur Milch statt fester Nahrung zu sich nehmen. 1. Kor 3,1-4: Allerdings konnte ich mit euch, liebe Geschwister, nicht wie mit geistlich reifen Menschen reden. Ihr habt euch von den Vorstellungen und Wünschen eurer eigenen Natur bestimmen lassen, sodass ihr euch, was euren Glauben an Christus betrifft, wie unmündige Kinder verhalten habt. Milch habe ich euch gegeben, keine feste Nahrung, weil ihr die noch nicht vertragen konntet. Selbst heute könnt ihr sie noch nicht vertragen, denn ihr lasst euch immer noch von eurer eigenen Natur bestimmen. Oder wird euer Leben etwa vom Geist Gottes regiert, solange noch Rivalität und Streit unter euch herrschen? Beweist ein solches Verhalten nicht vielmehr, dass ihr euch nach dem richtet, was unter den Menschen üblich ist?Paulus nennt die Korinther Heilige, Vorbilder und doch kritisiert er ihr Verhalten. Geistliche Gaben setzen weder einen mündigen Glauben voraus, noch sind sie ein Garant dafür. Denn geistliches Wachstum ist nicht mit sozialem Verhalten gleichzusetzen, vielmehr sieht man am sozialen Verhalten auch unser geistliches Wachstum. Ganz praktisch und sehr deutlich beschreibt Paulus das auch im 5. Kapitel des Galaterbriefs: Die Frucht hingegen, die der Geist Gottes hervorbringt, besteht in Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Rücksichtnahme und Selbstbeherrschung.Hier wird noch einmal deutlich, dass mündiger Glaube sich ganz praktisch in unseren sozialen Strukturen/Beziehungen des Alltags zeigt.

Selbstsicherheit als Götzendienst

Entfernt sich der eigene Glauben vom eigenen Leben, entsteht eine zunehmende Dissonanz, die sich kognitiv und emotional zeigen kann. Mündiger Glaube zeigt sich genau da, wo diese Dissonanz überwunden wird und die Beziehungsebene zu Gott, zu den Menschen und zu mir selbst gelebt wird (Mt 22). Mündigkeit zeigt sich ganz praktisch in meinem Verhalten in diesen Beziehungsebenen. Und hier sind wir wieder bei der „Ent-Sicherung“ und dem, wo wir als Menschen gerade heute so viel Sicherheit und Gewissheit suchen. Das ist durchaus legitim, denn wir können und dürfen uns bei und in Christus geborgen fühlen. Aber eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Schon Luther erkannte das und nannte es die securitas. Gott wird dazu benutzt, um Sicherheit, Halt und Orientierung zu erlangen. Damit wird die berechtigte Suche nach Sicherheit zu einem Götzen. Gerade deshalb ist es wichtig, den eigenen Glauben zu prüfen und zu entwickeln. Der Theologe Roger Mielke drückte das einmal so aus: „Freiheit des Glaubens bedeutet, dass ich in einem Prozess lebenslanger Entwicklung, Veränderung und Reifung der werde, der ich in den Augen Gottes bin.“

Ob dieser Prozess jetzt nun an einem bestimmten Stufenmodell festgemacht werden kann, darüber kann sicherlich diskutiert werden, doch finde ich die Reflexion des eigenen Glaubens in bestimmten Lebensphasen sowohl bei Fowler, Guardini, als auch bei Streib hilfreich. Vor allem aus dem Grund, dass ich mich entwickle, in meiner Persönlichkeit, meinem Charakter, meinen intellektuellen Fähigkeiten etc. Mein Glaube ist in all diese Dinge verwebt, ja, manchmal kann ich ihn gar nicht trennen von meiner Persönlichkeit, weil er durch meine Biographie so prägend war und geprägt wurde. Glaube ist kein „extra Ding“, sondern ein lebendiger Teil meines Lebens. Und gerade weil sich mein Kontext und mein Leben verändern, ist es wichtig über den eigenen Referenzrahmen nachzudenken, den eigenen Lebenswandel zu reflektieren und zu fragen, inwieweit meine Spiritualität authentisch ist und wie sich bspw. ethische Überzeugungen in meinem Leben zeigen. Hier gilt es also anzusetzen, wenn wir einen geistlich mündigen Glauben fördern wollen. Einige Kennzeichen für einen mündigen Glauben sollen nun dargestellt werden. Dabei orientiere ich mich an den Konsequenzen unserer Studie „Warum ich nicht mehr glaube. Warum junge Erwachsene ihren Glauben verlieren“.

Acht Kennzeichen für einen mündigen Glauben:

  1. Ein mündiger Glaube weiß, dass jeder Mensch, bei aller Sündhaftigkeit und bei allem gefallenen Sein, im Ebenbild Gottes (Imago Dei) erschaffen ist und deshalb unabhängig seiner Herkunft, seines Standes oder seiner sexuellen Orientierung wertvoll in und vor Gott ist.
  2. Ein mündiger Glaube weiß, dass das eigene Gottesbild auch von der eigenen Sozialisation und Erfahrung geprägt ist und sich deshalb in der Beziehung zu Gott, den Menschen und sich selbst weiterentwickeln darf.
  3. Ein mündiger Glaube wirkt nicht kompensatorisch. Das heißt, er dient nicht dazu, Defizite in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zuzudecken. Ein Mensch mit einem mündigen Glauben befindet sich in einer Entwicklung, in der er immer weniger darauf angewiesen ist, sich selbst und anderen etwas vorzumachen.
  4. Ein mündiger Glaube lässt sich nicht in ein starres und festes Regelwerk pressen, sondern braucht Freiheit, um sich zu entfalten.
  5. Ein mündiger Glaube zeigt sich nicht (nur) durch menschliche Stärke oder Erfolg, sondern vor allem durch die eigene Schwachheit.
  6. Ein mündiger Glaube zeigt sich in einem Prozess der Versöhnung, der durch die Kraft von Kreuz und Auferstehung ein ganzes Leben lang dauert und alle Ebenen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens umfasst.
  7. Ein mündiger Glaube fördert das eigenständige und kritische Denken. Er hilft somit dabei, die eigenen Positionen sowie die Position der Gemeinde zu überprüfen. So entsteht ein Prüf- und Aneignungsprozess, der sich gegen blinden Gehorsam und geistliche Vereinnahmung wehrt und dabei gleichzeitig die eigene Glaubensentwicklung fördert.
  8. Ein mündiger Glaube hat Raum für Reflektionen und Zweifel. Sie gehören im Aneignungsprozess dazu, sind normal und kein Zeichen von Unglauben oder gar Sünde.

Ein mündiger Glaube ist somit ein dynamisches Geschehen, bei dem Gott in seiner Liebe am Menschen handelt und dabei Fragen und Zweifel aushält. Dabei möchte ein mündiger Glaube vielleicht gerade den Dualismus zwischen konservativ und liberal überwinden und einen eigenen Weg suchen. Vielleicht können wir dabei aus der Geschichte lernen, zum Beispiel vom Jesuitenpater Markantun de Dominis, der inmitten großer theologischer Streitigkeiten sagte: „Im Notwendigen herrsche Einmütigkeit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem aber Nächstenliebe.“

Mir ist klar, dass dies ein Weg ist, auf dem auch Gefahren lauern. Bithya hat zu dem Buch „Warum wir mündig Glauben dürfen“ auch einen tollen Kurs gemacht, der das Buch und den eigenen Glauben in sechs Teilen reflektiert. Er stellt eine tolle Möglichkeit dar, über manches persönlich oder in einer Kleingruppe nachzusinnen. Vielen Dank Bithya!

 

In diesem Sinne freue ich mich auf viele fruchtbare Diskussionen….

 

Hier die sechs Folgen im Einzelnen:

Buchvorstellung 1 – Ein Buch, sie zu schocken und aufzuwecken.

Buchvorstellung 2: Zweifel, Glauben, Atheismus

Buchvorstellung 3 – Das Lebensbuch mit sieben Siegeln

Buchvorstellung 4 – Das andere Zeugnis

Buchvorstellung 5 – Du und ich

Buchvorstellung 6: Kleiner Soziologie-Exkurs

 

Bild: © by Constanze Zorn: “Mündig”

 

 

 

 

 

 

 

 

6 Comments

  1. Das Dilemma des mündigen Christentums zeigt sich für mich beispielhaft in Dietrich Bonhoeffer. Als ich seine späten Briefe aus „Widerstand und Ergebung“ gelesen habe, glaubte ich den mündigsten Christen überhaupt vor sich zu haben. Unabhängig gedacht, die Schwächen von Kirche und ihrer üblichen Verkündigung klar aufgezeigt, die Moderne wirklich ernst genommen, viele richtige Fragen gestellt, das Ganze unterstrichen durch Opfer des eigenen Lebens im Widerstand gegen Hitler.

    Bei der anschließenden Lektüre von Bonhoeffers „Nachfolge“ bin ich dann fast von Stuhl gefallen. Das liest sich wie die Traktate eines Sektenpredigers. Ich konnte es kaum glauben, dass das derselbe Autor ist. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass der „WuE“-Bonhoeffer ohne den „Nachfolge“-Bonhoeffer nicht denkbar ist.

    Darin besteht auch das Dilemma für mündige Christen heute. Sie basieren irgendwo immer noch auf traditionellen Glaubensformen und –bildern, die für eine gewisse Einheitlichkeit und Profilierung sorgen. Ihre später mündig erworbenen persönlichen Anschauungen, Prioritäten und Glaubensformen haben aber eine so große Bandbreite, dass im Außenverhältnis darin kein Gruppenprofil mehr erkennbar und davon ausgehend auch keine Missionswirkung mehr feststellbar ist.

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  2. Interessante Gedanken, danke. Aber liegt nicht vielleicht gerade in der Spannung das Geheimnis? Meine Mündigkeit entsteht ja auch immer in der Resonanz mit meiner Umwelt, mit den Menschen udn Situationen mit denen ich lebe und Leben teile. Das ist ja einer meiner Kritikpunkt an manchen meiner konservativen Freunde, sie drängen die Resonanz zurück und ersticken die Mündigkeit in (biblischen) Richtigkeiten. Das Unverfügbare kann nicht ausgehalten werden, alles muss geklärt und erklärt werden….

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  3. Paulus schreibt Eph. 4,14 “Denn wir sollen nicht mehr Unmündige sein, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre.”
    Nach ihm ist also nur mündiger Glaube gefestigter Glaube. Was daran gefährlich sein soll, erschließt sich mir nicht. Dagegen ist offenbar unmündiger Glaube gefährlich.

    Da das aber anscheinend einige anders verstehen, so verwechseln sie offenbar ihre kritiklose Übereinstimmung mit anderen, die ähnliche Auffassungen haben, wie sie selbst, mit Glaubensgewissheit. Aber das ist es nun ganz und gar nicht. Es ist nur Gedankenlosigkeit bzw. Denken in vorgefertigten Schablonen.

    Glaube, als Vertrauen ist eine höchst persönliche Angelegenheit. Entweder vertraue ich, dass alles, was mir persönlich geschieht, zum Guten dienen muss (Rö. 8,28) oder ich fühle mich weiterhin in dieser Welt unheimisch, da ich nicht in Gott ruhe.
    In diesem praktischen Empfinden hat jeder einen Maßstab, wie sehr er vertraut.

    Das das Vertrauen bei uns allen sicher nicht sehr tief geht, ist es notwendig, dass es wächst. Ein Wachstum ist aber ohne tiefere Wahrheiterkenntnis unmöglich.

    Mein Blog bietet vielfältige Anregungen zur Vertiefung des Vertrauens. Ein Beispiel:
    https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/06/17/sind-wir-ueberhaupt-glaeubig/

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