“Die Hingabe Gottes an diese Welt. Über neun Aspekte der Erlösung, Befreiung und Transformation des Kreuzes.”

Theologie

 

Karfreitag – und wir gedenken an das Kreuz, dieses sperrige Zeichen, das schon unzählige Male in der Geschichte missgedeutet, ja missbraucht wurde, oftmals für die eigenen Zwecke. Dieses Ärgernis, das nicht selten reduziert wird, auf das eigene Heil, individuell verengt und nur auf uns selbst bezogen, dann an eigentlicher Kraft verliert. Mein ehemaliger Kollege Thomas Weißenborn hat es in seinem Buch „Das Geheimnis der Hoffnung“ treffend formuliert:

„Mit der Eingrenzung der Erlösung auf das Kreuz und hier speziell auf den Aspekt als Sühneopfer gehen zudem meist noch andere Engführungen einher: Wer im Kreuz vor allem eine Sühneleistung sieht, muss zwangsläufig Sünde in Schuldkategorien beschreiben und die durch das Kreuz erwirkte Rettung in erster Linie als Vergebung. Auch dabei handelt es sich jedoch um eine Verkürzung, die verfälschend wirken. Sünde ist mehr als Schuld, weshalb Erlösung mehr sein muss als Vergebung. Werden Schuld und Vergebung schließlich nur noch persönlich verstanden, geht der kosmische Aspekt des Neuen Testaments verloren. Aus der Erlösung der Welt wird ein bloßes Nichtahnden privatem Fehlverhaltens.“

Aber das Kreuz ist mehr als meine individuelle Erlösung. Das Kreuz wird von Jesus selbst durch das Abschiedspassah gedeutet und aufgrund der Exodustradition interpretiert. Sein Tod ist die göttliche Tat der Befreiung aus der Unterdrückung und Versklavung unter ein sündiges und ungerechtes Systems. Dieser Akt der Befreiung lässt ein neues Gottesvolk sichtbar werden, das die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit dem Gott Israels aufzeigt. So wird das Kreuz und die Auferstehung ein Zeichen der Befreiung und Versöhnung mitten unter den Völkern und spiegelt sich in der versöhnenden Tat Christi wider, die den Menschen aus den gestörten Beziehungen seines Lebens und seiner Umwelt befreien möchte und in dem die verschiedenen Aspekte gestörter Beziehung vorkommen. Dies gilt sowohl für die individuellen als auch für die gemeinschaftlichen Beziehungen wie: Mensch – Gott (Joh 3,16 ), Mensch – sich selbst (Mt 22,36-40), Mensch – Nächster (Mt 5,38-48) und Mensch – Natur (Joh 3,17; 12,47). Der Theologe Miroslav Volf schriebt über die daraus ergebenen Folgen, die unser Handeln verwandeln:

„Das Kreuz sollte uns lehren, dass die einzige Alternative zur Gewalt Liebe ist, die sich selbst gibt, die Bereitschaft, Gewalt zu absorbieren, um den anderen zu umarmen in dem Wissen, dass Gott an Wahrheit und Gerechtigkeit immer festgehalten hat und das auch künftig tun wird.“(Volf 2012:395).

Dieses ganzheitliche Verständnis von Wiederherstellung und Heil macht deutlich, wie Gott die gesamte Schöpfung versteht. Wir können und sollen nicht einfach eine der Beziehungen vernachlässigen oder gar ganz lassen. Ausgehend von Röm 15,7 entwirft Miroslav Volf die Metapher der Umarmung (‚embrace‘). Diese bringt drei zentrale Themen zusammen: die gegenseitige sich selbst hingebende Liebe des dreieinen Gottes (theologischer Aspekt), die ausgestreckten Arme Jesu Christi am Kreuz für die „Gottlosen“ (christologischer Aspekt) und die offenen Arme des „Vaters“ für den „Verlorenen“ (soteriologischer Aspekt) (Volf 1996:28-29). Das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz ist ein Zeichen der göttlichen Selbsthingabe. Es ist ein Akt der Solidarität mit den Leidenden und Ausgestoßenen. Am Kreuz identifiziert Christus sich mit den unter Gewalt Leidenden.

Die Liebe geht aber noch weiter, indem die Übeltäter Versöhnung erlangen, da „Christus (…) für uns Gottlose gestorben [ist].“ (Röm 5,6) Wie die Unterdrückten von ihren Leiden befreit werden müssen, müssen die Unterdrücker Befreiung erfahren von der Ungerechtigkeit, die durch sie geschieht. Das Kreuz bedeutet die Versöhnung für Sünde, Ungerechtigkeit und Gewalt auf der Welt. Am Kreuz wird der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen, indem Christus das Prinzip der Vergeltung außer Kraft setzt. Es ist die Demaskierung gegenüber den Mächten, der Gewalt, den Reichen und Gewaltigen. Der Triumph des Kreuzes zeigt, dass die destruktiven Mächte der Gewalt nicht das letzte Wort haben (Girard 2002:174-181). Dieser Triumph des Kreuzes gibt uns Christen eine Kraft im Alltag, die sich in vierfacher Weise zeigt: Das Kreuz Christi – Kraft durch Vergebung; Das Kreuz Christi – Kraft durch Liebe; Das Kreuz Christi – Kraft durch Schwäche und Das Kreuz Christi – Kraft durch die Begegnung. Die Überwindung des Bösen und des Todes als Erlösungswerk zeigt sich in allen Beziehungsebenen (Röm 5,6). Die vom Kreuz ausgehende Kraft lässt sich nun auch wieder in die verschiedenen Aspekte von Erlösung, Befreiung und Transformation aufteilen.

  1. Soteriologische Aspekte: Die Gnade Gottes ist durch den Kreuzestod für alle Menschen gleichermaßen empfangbar und macht keinerlei Unterschiede (Kol 1,15-23; Röm 8,18-25).
  2. Soziale Aspekte: Durch das Versöhnungswerk am Kreuz ist der Kreislauf der Gewalt durchbrochen und ein neues Miteinander unter den Menschen möglich (Röm 15,7).
  3. Ökonomische Aspekte: Das Kreuz stellt die ökonomischen Vorstellungen von Menschen und gesellschaftlichen Strukturen und Mächten auf den Kopf, indem das Schwache den Sieg erringt und die Schwachen und Armen eine besondere Stellung bekommen (1 Kor 4,7).
  4. Kulturelle Aspekte: Das Erinnerungsfest Passah bekommt als kulturelles Erbe eine neue inhaltliche Bedeutung (Hebräer 8-10).
  5. Ethische Aspekte: Mit dem Kreuz beginnt eine neue Sozialethik als Friedenszeichen der Nachfolgenden Christi. Vergebung und Versöhnung sind die Spuren, die vom Kreuz ausgehen und das Handeln bestimmen (2 Kor 5,18-19).
  6. Ethnische Aspekte: Die Grenze des Heils zwischen Juden und Heiden wurde durch das Kreuz weitergeführt und ein neues universales Gottesvolk gegründet. Waren es im AT in erster Linie die Fremden, die aufgenommen wurden, und die Proselyten, die ins Volk integriert wurden, so wird durch den Kreuzestod Jesu ein neuer Weg ins Gottesvolk freigemacht. (Gal 3,28).
  7. Ökologische Aspekte: Versöhnung der ganzen Schöpfung – die kosmische Aspekte. Die ganze Schöpfung sehnt sich nach Gerechtigkeit und Wiederherstellung. (Röm 8,18-25).
  8. Emanzipatorische Aspekte: Das Kreuz befreit den Menschen aus seiner sündigen Abhängigkeit und lässt ihn in neue Aspekte der Wiederherstellung kommen (1 Kor 3,17).
  9. Politische Aspekte: Das Kreuz als öffentlicher Akt, der in die politische Situation des 1. Jahrhunderts hinwirkte und die Geschichte veränderte. Das von Christus ausgehende Reich Gottes wirkt mitten in die politische Ordnung hinein und beginnt diese zu verändern (Apg 5,17-42; 8,1-3).

(ausführliche Gedanken zu den verschiedenen Aspekten gibt es hier)

Das Wesen Gottes ist Liebe, die sich mitteilen möchte. Daher ist Gott in seinem Wesen missionarisch. Im Kommen Jesu auf die Erde wird die missio Dei (die Sendung Gottes) offensichtlich. Mit seinem Leben gibt Jesus sich für andere hin. Er löst das Problem der menschlichen Ichbezogenheit, der Sünde und der Trennung von Gott. Er liefert in seiner Botschaft eine ganzheitliche Antwort auf die durch die Sünde betroffenen Aspekte menschlichen Lebens, in der physischen, sozialen, rationalen, geistlichen, gesundheitlichen, politischen und wirtschaftlichen Welt. Das Reich Gottes soll ganzheitlich alle Bereiche des Lebens unter allen Völkern durchdringen. Die entscheidende Frage ist: Wie verstehe ich dieses Heil? Der südafrikanische Theologe David Bosch liefert dazu die kurze, aber prägnante Antwort: „Erlösung ist nicht die Rettung heraus aus dieser Welt (salus ex mundo), aber immer Rettung [von] dieser Welt (salus mundi). Rettung in Christus ist Rettung im Kontext der menschlichen Gesellschaft auf dem Weg zu einer ganzen und geheilten Welt.“ (Bosch 1991:399) Die Botschaft des Heils hat die frühchristliche Gemeinde übernommen, danach gehandelt und sie in Form des Neuen Testaments für die folgenden Generationen gesichert. Und für uns ist der Karfreitag die Möglichkeit, die eigene Kreuzesdeutung wieder neu zu überdenken und neu die Kraft und Macht zu erkennen, die in diesem Akt der Hingabe steckt. Wenn wir das tun, dann beginnen wir die Kraft des Kreuzes neu zu entdecken, die nicht nur das eigene Leben verändern will, sondern die Welt verwandelt.

 

Foto: Jerusalem 2017

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  1. „Mit der Eingrenzung der Erlösung auf das Kreuz und hier speziell auf den Aspekt als Sühneopfer gehen zudem meist noch andere Engführungen einher: Wer im Kreuz vor allem eine Sühneleistung sieht, muss zwangsläufig Sünde in Schuldkategorien beschreiben und die durch das Kreuz erwirkte Rettung in erster Linie als Vergebung. Auch dabei handelt es sich jedoch um eine Verkürzung, die verfälschend wirken. Sünde ist mehr als Schuld, weshalb Erlösung mehr sein muss als Vergebung. ” – In der Tat ist die christl. Welt in eine fürchterliche Engführung gekommen, die es zu überwinden gilt. Dazu können sicher auch die zwei verlinkten Beiträge dienen:
    https://manfredreichelt.wordpress.com/2015/12/12/der-dreh-und-angelpunkt-christlichen-glaubens/
    https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/10/15/jesus-der-christus-traditionslos/

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