„Worship starts now! oder: Wider die geistliche Übersättigung.“

Kultur & Glaube

 

Wir haben es uns bequem eingerichtet. Als Christinnen und Christen geht es uns in Deutschland so richtig gut. Wir haben nicht nur Religionsfreiheit, sondern können aus duzenden Kirchen und Gemeinden auswählen, haben 35 verschiedene Bibelübersetzungen und momentan haben wir sonntags die Qual der Wahl, welcher Livestreamgottesdienst wohl der beste, perfekteste oder ansprechendste ist. Trotz Coronaeinschränkungen geht es den meisten prima.  Ja, wir haben sogar die Zeit bei Facebook, über andere Frömmigkeitsstile zu lästern und gar anderen Christinnen und Christen den Glauben abzusprechen. Wachsen wir dadurch im Glauben? Kommen dadurch in der Nachfolge Jesu voran? Wohl kaum, das Gegenteil ist der Fall, wir leiden am eigenen (geistlichen) Überfluss. Haben alles, wissen alles (besser) und kommen doch geistlich kaum vom Fleck. Wir reden gerne über die kommende Erweckung, wollen geistlich immer mehr und können die nächste Konferenz dazu kaum erwarten. Vielleicht tut uns die momentane Zwangspause gut. Nachdenken über das eigene geistliche Leben, die eigene Gottesbeziehung. Und ich muss sagen, dass ich dabei ich zumindest in meinem Leben eine große Einseitigkeit feststelle und manchmal werde ich durch Erlebnisse im eigenen Leben auch selbst darauf hingewiesen.

Lernen von Manala und Tumelo

Vor einiger Zeit war ich zu Vorlesungen an unserer Partneruniversität in Südafrika eingeladen. Meine erste Vorlesung verlief zufriedenstellend und ich ging einigermaßen beglückt zum Mittagessen. Dort saß ich neben Manala. Manala kommt aus dem Kongo und ist dort seit vier Jahren Pastor. Nicht ganz freiwillig, wie er berichtete, da allein in seinem Gemeindeverband tausende Pastoren fehlen, denn seine Gemeinde ist innerhalb einiger weniger Jahre von 500 auf 5000 Mitglieder angewachsenen und ein Ende ist nicht in Sicht. Also wurden kurzerhand alle Ältesten der Gemeinde zum Pastor berufen und die eine große Gemeinde, in zehn kleine Gemeinden zu je 500 Mitgliedern aufgeteilt. Diese Berufung kam etwas plötzlich, und Manala erzählte mir, dass er sie nur mit klopfendem Herzen angenommen habe, da er ja nicht zum Pastor ausgebildet war. Deshalb studiere er jetzt nebenbei im Fernstudium Theologie und hat einmal im Jahr die Möglichkeit, an die Universität und somit auch in eine Bibliothek zu kommen. Hier kann er alle Bücher kopieren, die er für das gesamte nächste Studienjahr braucht. Manala erzählte mir dies mit einer solchen Begeisterung, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Ich wurde während des Gesprächs immer stiller, während Manala von seiner wachsenden Gemeinde, seiner Frau und den sieben Kindern erzählte. Schließlich sagte ich gar nichts mehr und Tumelo mischte sich in unser Gespräch ein. Er erzählte voller Stolz, dass er seit einem Jahr Theologie studiere. Damit habe sich für ihn, den 71-Jährigen, ein Lebenstraum erfüllt.

Die Begegnung mit Manala und Tumelo hat einiges in mir bewirkt. Nicht, dass ich nun mein ganzes Leben umgekrempelt hätte, aber meine Einstellung zu dem, was ich alles habe und nutze und wonach ich mich sehne, begann sich zu verändern. Ich selbst habe viel, vielleicht sogar zu viel, und bin doch oftmals undankbar und das Gift des geistlichen „Haben-Wollens“ kriecht durch meinen Kopf und nimmt mich gefangen. Alles, was ich bin und habe, kommt von Gott und gehört ihm auch, so schreibt es Paulus in 1. Kor 4,7. Ich verwalte es nur und kann es durch Teilen sogar vermehren. Dieser Glaube verändert meinen Blick auf mein Leben.

Lernen von den „Anhänger des neuen Weges”

Und beim Blick in die Bibel merke ich, dass Manala und Tumelo viel näher an den ersten Christen dran sind, als ich es bin. Diese nannte man in Apostelgeschichte 9 die „Anhänger des neuen Weges”. Warum? Weil sie auf dem Weg waren. Nachfolgerin oder Nachfolger Jesu sein bedeutete mit ihm auf dem zu Weg sein, tatsächlich unterwegs, ja in Bewegung sein. Damals vor allem durch Mission und Verfolgung, kein leichter Kontext und doch hat sich so das Evangelium bis an die Enden der Erde ausgebreitet und überall entstanden kleine Zellen von Christinnen und Christen – Gemeinde genannt. Diese sind aus der Mission heraus geboren und lebten diese sie in ihren Häusern und mit ihren Nachbarn. Heute ist es leider oft umgekehrt: unsere Gemeinde und wir selbst denken, dass wir Mission (von Diakonie bis Evangelisation) tun müssen, dass es eine Aktion ist, die dann, oftmals gut gemeint, aber ungebunden für sich alleine steht und wenig bewirkt. In der Bibel ist es aber umgekehrt: Mission ist ein Wesensmerkmal von uns Christinnen und Christen und macht uns zu Jüngerinnen und Jüngern unseres Herrn. Mission ist nicht vorbei mit der Bekehrung, sondern ist die DNA unserer Nachfolge. Aus der Mission heraus treffen wir uns, beten gemeinsam, lesen Bibel, hören auf Predigten und singen Gott zur Ehre.

Mission als Kontrastgesellschaft in dieser Welt

Mission wird so zur Anbetung Gottes und bewirkt Veränderung in mir und meinen Nachbarn, Freunden, Arbeitskolleg*innen oder Kommilitonen. Gott ist ein Gott in Bewegung, er geht mit uns, möchte nicht in einem Jugendraum eines Gemeindehauses eingesperrt sein oder auf einer Bühne stundenlang bejubelt werden. Gott liebt die Verlorene, die Ausgegrenzten, die Vergessenen und die in Not Geratenen. Und die Frage ist, wann (oder wo) sind wir und die Menschen um uns arm geworden? Wie oder seit wann übersehen wir das bei uns und ihnen? Es gibt viele Gesichter von Armut in Deutschland: Materiell arm, psychisch arm, geistlich arm, sozial arm, kulturell arm – um nur einige zu nennen. Und Christus ist als Erlöser und Befreier in diese Welt gekommen: Befreiung von Konsum- und Leistungszwang. Befreiung von falschem Selbstbezug. Befreiung von Abstumpfung und Orientierungslosigkeit. Befreiung von Anonymität und Vereinsamung. Befreiung von Sorgen und falschen Sicherheiten. Wo sehen wir das noch? Wo identifizieren wir uns mit diesen Menschen, sehen sie und teilen mit ihnen, was wir sind und haben? Zu hart? Vielleicht. Hoffnungsvoll? Auf jeden Fall, denn das ist die Mission Gottes, dass das Reich Gottes mitten unter uns sichtbar wird in Frieden, Gerechtigkeit und Freude im Heiligen Geist (Röm 14,17). Das ist die Kontrastgesellschaft inmitten einer kapitalistisch gesteuerten Globalisierung und trifft die Sehnsucht vieler Menschen um uns herum. Gemeinschaft kann genau die Grenzen ziehen, die manchem helfen, die Sicherheit zu bekommen, die einem hilft die Unsicherheit zu überstehen, die man nicht mehr selbst beeinflussen kann. Der Lohn dieser Nachfolge geht über das Irdische hinaus und zeigt, dass Christinnen und Christen wissen, dass alles Leben auf der Erde nur das Vorletzte ist (Mt 19,27-30). Bis das Letzte kommt, leben wir das Reich Gottes mit den Menschen um uns herum.

Gemeinsam unterwegs: „Worship starts now!“

Und dabei sind wir nicht alleine. Wir stehen in der Tradition der „Anhänger des neuen Weges“ und es ist ein Vorrecht zu wissen, dass Millionen von Jüngerinnen und Jüngern gemeinsam unterwegs sind, unabhängig von ihren Konfession und ihrer Frömmigkeitstradition die Bibel lesen, an Christus glauben und Teil von Gottes großer Mission sind. Vielleicht sollten wir diese Einheit mehr feiern, statt uns ständig auf die Unterschiede hinzuweisen? Vielleicht sollten wir mehr teilen, als uns um immer mehr um uns selbst zu drehen? Vielleicht sollten wir los leben und mit der Auferstehungskraft Christi rechnen und die suchen, die Jesus selbst gesucht hat, anstatt, dass wir uns zu viel mit uns selbst beschäftigen. Als ich in Amerika studierte, war ich in einer Gemeinde, an deren Ausgang (von innen her, man konnte es also nur beim Rausgehen aus der Gemeinde lesen) ein großes Plakat hing: „Worship starts now – Anbetung beginnt jetzt!“ Jetzt in deinem Alltag beginnt die Zeit, in der du Gott anbeten sollst durch dein Denken, deine Emotionen, deine Taten! Jetzt beginnt die Herausforderung, Glauben zu leben, jetzt zeigt sich, ob ich nur „Herr, Herr“ sage oder das versuche zu tun, was Gott mir gesagt und gezeigt hat. Das ist kein Druck, kein Muss, keine unmögliche Aufgabe, sondern die Chance, unser Leben von Gott verändern zu lassen, Stück für Stück ihm in unserem Alltag den Platz zu geben, den er verdient hat. Wie schrieb der Theologe Heinzpeter Hempelmann so treffend dazu: „Lassen Sie uns Gemeinden bauen, die nicht ideal, nicht perfekt, nicht Heimat-Gemeinden sind, sondern Gemeinden unterwegs, auf Zeit, als Notbehelf, im Übergang, im Wechsel, Stationen eben, für eine Nacht oder für ein Glas Sprudel und eine Tasse Kaffee, eine Wegstrecke. Fehlerfreundlich, unvollkommen und gerade darin Hinweiser auf die eine große Heimat, das eine große Ziel, zu dem wir unterwegs sind!“

It starts now!

 

Illustration: Matthias Gieselmann, (c) Verlag der Francke Buchhandlung

Ein Teil des Textes erschien zuerst in der Zeitschrift “Echt”/EC

 

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