“Evangelikale zwischen Aufbruch und Angst”: Vier Fragen zum neuen Buch “Menschen mit Mission” an Thorsten Dietz.

Nachgefragt

 

Hallo Thorsten, zunächst die Frage: Für wen ist deine Landkarte der evangelikalen Welt denn hilfreich?

Zunächst einmal war die Arbeit für mich selbst eine große Hilfe! Seit 30 Jahren bewege ich mich auch in evangelikalen Welten. Dabei habe ich Begeisterndes und Verstörendes erlebt. Mehr und mehr habe ich mich gefragt: Für was kann ich in meiner eigenen Glaubensentwicklung dankbar sein? Und warum hatte ich bei manchen Erscheinungen ein diffus-ungutes Gefühl? Der Podcast „Das Wort und das Fleisch“ zusammen mit Martin Hünerhoff war das Ergebnis langer Studien. Inzwischen weiß ich aus vielen Gesprächen im Anschluss an unser Projekt, dass auch andere solche Fragen auch kennen. Die meisten Menschen in der evangelikalen Bewegung kennen oft nur einen kleinen Ausschnitt dieser Welt, den sie zunächst mal für typisch halten; und tun sich dann schwer mit der Entdeckung, dass es auch ganz andere Strömungen unter dem gleichen Label gibt.

Vor allem wollte ich das Buch ausdrücklich auch für Menschen ohne jegliche evangelikale Prägung schreiben. Ich habe mich oft gewundert, warum Menschen, die eigentlich Wert legen auf differenzierte Urteilsfähigkeit im Blick auf unterschiedliche christliche Kirchen oder auch andere Religionen sich oft mit einer unfassbaren Unkenntnis zufrieden geben angesichts einer so großen religiösen Strömung wie den Evangelikalen. Es dürfte ca. 600 Millionen evangelikale, charismatische und pfingstkirchliche Gläubige geben. Keine Strömung der Christenheit ist im letzten Jahrhundert so rasant gewachsen. Auch wenn einem diese Welt durch persönliche Zufallsbegegnungen und Klischees vermittelt erst einmal nicht sympathisch erschien, könnte man doch erst einmal verstehen wollen:

Was ist es denn, was so viele Menschen an dieser Mischung aus Jesusbegeisterung, Sendungsbewusstsein und Gemeinschaftsorientierung auf allen Kontinenten fasziniert und motiviert? Bin ich meinen eigenen Ansprüchen nicht eine differenziertere Kenntnis schuldig, als ich sie bislang habe?

Vielleicht ist mein Buch vor allem für solche Evangelikale eine echte Herausforderung, deren eigene christliche Identität stark mit einem bestimmten Bild von Evangelikalismus verwoben ist. Ich habe sehr viele Bücher von Evangelikalen über Evangelikale gelesen, wo es vor allem auch darum ging: wie Evangelikale sein sollten. Ich wollte zumindest versuchen ein möglichst breites Spektrum abzubilden, nicht neutral, aber zumindest möglichst fair. Vielleicht ist es ja für ganz anders tickende Evangelikale eine Chance, sich an einer solchen Darstellung wie meiner zu reiben und sich dabei selbst besser zu verstehen als zuvor.

Welche Gegenden haben dir bei deiner Entdeckungsreise besonders gut gefallen? 

Meine besondere Sympathie gehört sicherlich a) den offenen, b) den innovativen und c) den integrativen Strömungen des Evangelikalismus.

a) Die evangelikale Geschichte kann man bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Evangelikale waren Menschen, die zu Jesus fanden und mit ihm zu einem Gott radikaler Gnade und persönlicher Nähe. Es waren die Evangelikalen, bei denen nicht nur einige mystische Virtuosen, sondern viele normale Menschen die Freude einer persönlichen Gottesbegeisterung entdeckten.

Und von dieser großen Gotteserfahrung her entwickelten sie viel Neues: eine Kultur des freien und gemeinsamen Betens, alternative Gemeinde- und Gottesdienstformen, neue Ausdrucksformen der Spiritualität.

Sie wurden offen für Gotteserfahrungen jenseits von Wort und Sakrament. Insofern ist die Pfingstbewegung eine typisch evangelikale Entwicklung. In einer modernen christlichen Welt, die immer intellektueller, bürokratischer und moralischer wurde, stehen pfingstkirchliche Aufbrüche für Gottesentdeckungen jenseits einer traditionellen Kirchlichkeit, die auf Betreuung und Versorgung von mildreligiösen Basisbedürfnissen setzt.

b) Eng mit dieser Offenheit ist die Bereitschaft zu Innovationen verbunden. Es waren Evangelikale, die gegen die Tradition der Großkirchen Frauen endlich Raum auf allen Ebenen der Kirche gaben. Es waren auch evangelikale Strömungen, die die Separation von weißen und nichtweißen Gläubigen in Frage stellten. Früher als alle anderen experimentierten sie mit neuen Medien. Sie gründeten Radio- und Fernsehsender. Sie griffen die Wellen zeitgenössischer Musik auf. Sie fixierten sich nicht auf die Hochkultur, sondern lernten, mit Singen, Tanzen und Begeisterung gläubig zu sein.

c) Natürlich haben solche Entwicklungen immer auch ihre eigene Gefährdung. Sie können kippen, einseitig oder radikal werden, mitunter in das Gegenteil umschlagen. All das ist passiert und lässt sich auch heute beobachten. Darum habe ich die integrative Kraft, die vor in der Lausanner Bewegung sichtbar wird, deutlich stärker gewürdigt als noch im Podcast „Das Wort und das Fleisch“. Letztlich verkörpert dieses Netzwerk wie auch die weltweite Evangelische Allianz in ihren besten Momenten das, was die Evangelikale Bewegung sein kann bzw. könnte: eine Begeisterung für das Evangelium von Jesus Christus, die integrieren kann: Gläubige im Westen und im globalen Süden, Evangelisation und Diakonie, Frömmigkeit und Theologie. Vor allem lateinamerikanische Theolog:innen wie Rene Padilla und später seine Tochter Ruth Padilla DeBorst, Samuel Escobar u.a. haben auf dem Lausanner Kongress von 1974 für einen solchen integrativen Kurs geworben.

Heute ist die weltweite Evangelische Allianz eine deutliche Stimme für Menschenrechte, für soziale und ökologische Verantwortung und für den Dialog zwischen den Religionen, ohne dadurch das Zeugnis von Jesus Christus zu vernachlässigen.

Gibt es auch gefährliche Gebiete?

Die überwältigende Zustimmung der US-Evangelikalen für Person und Politik von Donald Trumps war eine welt- und religionshistorische Zäsur. Wie kann das sein, dass die Evangelikalen, die man in Deutschland manchmal noch als die wertkonservativen Stillen im Lande sah, sich in den USA dermaßen einhellig für eine nationalistische Politik begeistern konnten?

Diesen Einschnitt muss man im globalen Kontext sehen. Weltweit gibt es viele Erscheinungen politisierter Religion: Vom islamischen Fundamentalismus über indischen Hindu-Nationalismus bis hin zur aktuellen geistig-geistlichen Katastrophe einer russischen Christenheit, in der maßgebliche Vertreter Nationalismus, Imperialismus und Krieg theologisch rechtfertigen. Und immer ist es der liberale Westen mit seinen Freiheits- und Menschenrechten, der zum Feindbild gemacht wird.

Ich weise in meinem Buch ausführlich nach, dass man mit dieser Haltung nicht „die“ Evangelikalen identifizieren kann, weder weltweit noch in Deutschland. Aber ich halte auch jede Beschwichtigung für verfehlt.

Ein mir wichtiges Fazit lautet: „Traue keiner Gruppe, die sich nicht auch ehrlich mit den eigenen Schattenseiten auseinandersetzt.“ (335)

Es gab und gibt eine gewisse Anfälligkeit evangelikaler Strömungen für eine solche Entwicklung. Es ist eines der großen Themen meines Buches, Aspekte dieser Versuchbarkeit zu analysieren: die Abkehr von einer positiven Haltung der Weltverantwortung, der radikale Widerspruch gegen „die“ Aufklärung und „die“ liberale Moderne, Skepsis gegenüber einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnissen, Bereitschaft zu Polarisierungen bei Reizthemen um Sex und Gender, dualistisches Denken, Abschottung gegenüber kritischen Medien, Ablehnung der Ökumene der Kirchen. Diese Haltungen hat es überall da im Vorfeld gegeben, wo Gläubige sich schließlich zu einer feindselig-kämpferischen Politik gegen die liberale Demokratie radikalisierten.

Wie siehst Du die Zukunft der Evangelikalen?

Wir stehen am Ende einer Epoche. Der große Aufbruch der Evangelikalen in den letzten fünfzig Jahren hat nicht nur an Schwung verloren. Die evangelikale Landschaft ist divers wie nie zuvor.

Als positive Selbstbezeichnung und gemeinsames Dach dürfte die Marke „evangelikal“ in Deutschland kaum zu retten sein. Zugleich zeigt die Geschichte: Seit Jahrhunderten verläuft evangelikale Geschichte zyklisch. Großen Aufbrüchen folgen Schwächephasen.

Was „die Evangelikalen“ waren und sind, hängt nicht an dieser Bezeichnung. Auch die weltweite Evangelische Allianz hat seit 1846 schon mancherlei Krisen und Aufbrüche durchlaufen. Christinnen und Christen, die Gott und Jesus lieben, mit der Bibel leben und allen Menschen in hilfsbereiter Liebe dienen wollen, gibt es vielerorts und wird es Gott sei Dank immer geben. Neue Aufbrüche sind daher wahrscheinlich. Ich erwarte (und hoffe auch), dass diese weiblicher, kulturell diverser und ökumenisch offener sein werden als zuletzt.

3 Comments

  1. Ich muss ehrlich sagen, ich stehe Evangelikalen sehr reserviert gegenüber. Ich bin Ingenieur. Mein Sollbruchstelle mit dem kirchlich-chistlichen Glauben ist die Existenz ausnahmefreier Naturgesetzte. Selbst die normale evangelische Kirche eiert herum und drückt sich davor, diese anzuerkennen. Sie hilft mir wenig bis gar nicht, unter dieser Voraussetzung auf dem Weg des Glaubens weiterzukommen. Immerhin lässt sie mich in Ruhe. Bei den Evangelikalen verschiedenster Couleur würde ich wahrscheinlich “ausgeschwitzt”.

    Antworten
    • Danke. Was genau bedeutet “ausnahmefreier Naturgesetzte”? Soweit ich das verstehe entwickeln/entdecken sich ja auch die Naturgesetze? Was heute aus ” ausnahmefrei” beschrieben wird, war vor ein paar hundert Jahre undenkbar oder wurde als Wunder verstanden? Ja, Menschen wurden eingesperrt oder getötet, weil sie die “ausnahmefreier Naturgesetzte” in Frage gestellt haben. Von daher, ich bin da eher ein Skeptiker… 😉

      Antworten
  2. Daniel Franke

    Böse Zungen behaupten, dass es zwischen dem “griechischen (evangelion) Evangelium”, der evangelischen Kirche und den “Evangelikalen” (engl.: evangelical) Unterschiede gäbe. Aber all diese Bezeichnungen haben die gleiche Wortherkunft und beziehen sich auf die “Gute Nachricht” von Jesus Christus. Freilich sind einige Strömungen der “Evangelischen Christen” Irrlehren. Aber diese Wortherkunft zeichnet erst einmal alle als christusgläubig mit paulinischer Prägung aus. Die katholische Kirche behauptet hingegen von sich (unabhängig vom Evangelium) in ihrer Tradition allgemeingültig zu sein. Wer nicht “evangelical” oder “evangelisch” oder “nach dem Evangelium Christi” sich zu Gott bekennt, ist kein Christ. Jetzt kommen studierte Theologen daher und stempeln so genannte “Evangelikale” als Strömung einer Freikirche ab, obwohl diese doch nichts anders sind als Christusgläubige, die sich in eine bestimmte Richtung (freilich mit Fehlern) entwickelt haben. Diese und ähnliche Theologen haben über die Jahrhunderte hinweg selbst große Fehler in der Auslegung begangen, immer dann, wenn sie ihre Lehre ohne den Geist Gottes verbreiteten.

    Antworten

Leave a comment to Daniel Franke

Hier klicken, um das Antworten abzubrechen.