„Politische Ethik im Zeichen des Esels – Gedanken zur Ambivalenz von Glaube & Politik“

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Heute Morgen habe ich Johannes 12,12–19 gelesen und im Spiegel der politischen Ereignisse in unserem Land und weltweit hat mich dieser Text sehr herausgefordert. Er gehört zu den am deutlichsten politischen Gesten im öffentlichen Wirken Jesu. Und da steigen viele Fragen auf: Wie politisch ist Jesus? Wieviel Politik verträgt der Glaube? Kann man nicht politisch glauben? Die Szene des Einzug Jesu in Jerusalem ist jedenfalls aufgeladen mit politischer Symbolik, deren Resonanzräume weit über den unmittelbaren historischen Moment hinausreichen. Inmitten der messianischen Erwartung seiner Zeit und vor dem Hintergrund römischer Besatzung wählt Jesus ein bewusst ambivalentes Zeichen: Er reitet auf einem Esel in die Stadt – eine Handlung, die zugleich auf alttestamentliche Heilserwartungen verweist, wie auch auf einen radikal anderen, gewaltlosen Herrschaftsanspruch und die Botschaft vom Reich Gottes, die sich hier auf Erden zeigt, aber ohne einen politischen Triumphalismus zu entfaltet. Hier ein paar Gedanken dazu und am Ende einige Fragen, die mich daraus beschäftigen:

Biblische Anknüpfungen: Exodus, Sacharja und Psalm 118

Dass Jesus am Beginn des Passafests nach Jerusalem einzieht, ist alles andere als beiläufig. Das Passa, als zentrale Erinnerungsfeier an den Auszug Israels aus Ägypten (Exodus 12), konnotiert Befreiung aus Unterdrückung und göttliches Heilshandeln in der Geschichte. Es ist ein hochpolitisches Erinnerungsritual: Gott handelt zugunsten der Unterdrückten, stellt Gerechtigkeit wieder her, stürzt Mächte vom Thron. Wer also zur Passa-Zeit als charismatischer Lehrer in die heilige Stadt einzieht, der wird unweigerlich politisch gelesen – von der römischen Besatzungsmacht ebenso wie vom jüdischen Volk. In diese Szenerie hinein aktualisiert Jesus ein Motiv aus Sacharja 9,9: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitend auf einem Esel.“ Die Anspielung ist direkt – sowohl im johanneischen als auch im synoptischen Text wird dieser Vers explizit zitiert. Der Kontext bei Sacharja ist eine Friedensverheißung an das bedrängte Israel: Ein neuer König wird kommen, nicht mit Streitwagen und Kriegsrossen, sondern in Demut. Es ist ein Gegenbild zu imperialer Machtausübung – und Jesus greift dieses Bild bewusst auf. Auch Psalm 118,25–26 („Hilf doch, HERR!“ – hebräisch hoschi’a-na, also Hosanna – und „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des HERRN“) erklingt in den Rufen der jubelnden Menge. Dieser Psalm gehört zur Liturgie des Laubhüttenfestes und wurde auch im Passa-Kontext gebetet. Die Menge erkennt in Jesus den erhofften Gesandten Gottes, den Messias. Doch das Missverständnis ist angelegt: Die Rufe nach Heil (hosanna) klingen wie nationalistische Siegesgesänge. Die Sehnsucht nach einem Befreier ist berechtigt – aber sie projiziert sich auf ein machtpolitisches Schema, das Jesus gerade dekonstruiert.

Jesu Reich-Gottes-Verkündigung als öffentlicher, aber nicht als machtpolitischer Akt

Der Einzug Jesu ist weder apolitisch noch rein „geistlich“. Vielmehr ist er ein öffentliches, symbolisch aufgeladenes Handeln – eine performative Verkündigung des Reiches Gottes. Doch dieses Reich ist nicht von dieser Welt im Sinne der herrschenden Machtlogiken (vgl. Joh 18,36). Es entsteht nicht durch Waffengewalt, nicht durch Sieg über äußere Feinde, sondern durch eine tiefgreifende Umkehr der Verhältnisse, durch Gerechtigkeit, Frieden und die Zuwendung zu den Geringen. Jesus inszeniert keine Machtdemonstration, sondern eine Gegenliturgie zur Macht. Inmitten der Stadt, in der römische Besatzung und religiöse Elite sich auf eine gefährliche Weise miteinander arrangiert haben, setzt Jesus ein Zeichen der Demut. Der Esel wird zum Gegenbild des Triumphwagens. Die ganze Szene gleicht einem „antitriumphalen Triumphzug“ – eine bewusste Karikatur politischer Inszenierungen. In diesem Sinn steht der Einzug Jesu in einer Linie mit seiner gesamten Verkündigungspraxis: Er heilt öffentlich, stellt gesellschaftlich Ausgeschlossene wieder her, vergibt Sünden ohne Tempelopfer, und spricht vom Reich Gottes als einer Realität, die schon jetzt anbricht – nicht im Zentrum der Macht, sondern an ihren Rändern. Politisch ist dieses Handeln, weil es bestehende Ordnungen infrage stellt. Ethisch ist es, weil es Gerechtigkeit und Barmherzigkeit konkretisiert.

Die Ambivalenz der Menge und die Ablehnung des Triumphalismus

Die Menschenmenge, die Jesus mit Palmzweigen begrüßt, ist Teil der Spannung dieses Ereignisses. Ihre Rufe sind hoffnungsvoll – aber sie sind auch projektionsträchtig. Sie erwarten den Messias, aber womöglich einen, der ihre nationalistischen und politischen Hoffnungen erfüllt. Es ist eine Art Missverständnis des Messias, das sich schon in der Versuchung Jesu durch das Volk (vgl. Joh 6,15) ankündigt und das in der Karfreitagsszene kippt: „Kreuzige ihn!“ Jesus verweigert sich dem Triumphalismus – nicht nur, weil er die Gewalt ablehnt, sondern weil er ein anderes Verständnis von Herrschaft und Erlösung lebt. Seine Königsherrschaft besteht nicht in der Unterwerfung anderer, sondern in der Hingabe und der Unterwerfung seiner selbst. Diese Ethik des Verzichts auf Macht als Gewalt ist nicht weltflüchtig, sondern radikal politisch: Sie stellt eine andere Welt zur Debatte – und damit die Grundlagen der bestehenden Weltordnung.

Politische Ethik im Zeichen des Esels

Der Einzug Jesu in Jerusalem ist ein öffentliches, politisches und ethisches Zeichen. Er verweist auf die Tiefendimension der Heilsgeschichte (Exodus), auf die prophetische Vision eines friedvollen Königs (Sacharja), und auf die liturgische Hoffnung auf Gottes Heil (Psalm 118). Aber zugleich korrigiert Jesus die triumphalistischen Erwartungen der Menge. Lehnt den aufkommenden Populismus ab, ja tritt ihm entgegen. Seine Verkündigung des Reiches Gottes geschieht nicht durch Erhebung und politischen Machtanspruch, sondern durch Demut. Nicht durch Sieg über den Gegner oder gar deren Verachtung, sondern durch die Solidarität mit den Leidenden. Politisch-ethisch gesprochen eröffnet Jesus damit einen Raum der Hoffnung ohne Gewalt, der Gerechtigkeit ohne politischen Machtanspruch, der Öffentlichkeit ohne Selbsterhöhung. Der Esel bleibt das Zeichen dieses Weges: kein Fluchtmittel, kein Siegesross – sondern das Tier der Lastenträger, des Friedens und der Armut. 

„Siehe, dein König kommt zu dir…“ – Wer diesen König erkennt, erkennt, dass politische Ethik im Namen Gottes nicht mit Macht beginnt, sondern mit Gerechtigkeit und Demut. Das Reich Gottes beginnt auf der Straße Jerusalems – aber es sieht anders aus, als wir es erwarten.

Aus dieser Demonstration Jesu ergeben sich eine Menge an Fragen für uns heute, die wichtig und spannend sind.

  • Welche Unterscheidung trifft Jesus zwischen göttlicher und menschlicher Herrschaft? Oder zugespitzt: Lässt sich mit dem Reich Gottes überhaupt Politik machen?
  • Inwiefern steht das Reich Gottes im Widerspruch zu imperialen, gewaltsamen oder dominanten Ordnungen? Welche Alternativen zu Herrschaft durch Kontrolle, Angst und Gewalt bietet Jesus mit seiner Reich-Gottes-Verkündigung?
  • Welche ethischen Maßstäbe ergeben sich aus dem Bild des Friedenskönigs auf dem Esel (Sach 9,9)? Und: Welche Rolle spielen symbolische Handlungen und prophetische Zeichen in der politischen Kommunikation des Glaubens?
  • Wo liegt die Grenze zwischen öffentlichem Glaubenszeugnis und politischem Triumphalismus? Und welche Verantwortung haben Christ:innen bei der Deutung und Gestaltung öffentlicher religiöser Zeichen?
  • Wie geht eine politische Ethik mit der Ambivalenz von kollektiver Hoffnung und kollektiver Verführbarkeit um? Welche Rolle spielt populäre Zustimmung – und wie kann man sich vor ihrer Instrumentalisierung schützen?
  • Wie kann sich eine ethisch verantwortete Theologie vom Applaus der Masse unabhängig machen?
  • Ist Gewaltfreiheit nur ein geistliches Ideal – oder ein realpolitisches Gebot des Reiches Gottes?
  • Wie kann eine politische Ethik Hoffnung formulieren, ohne hegemoniale oder nationalistische Motive zu bedienen?
  • Welche Rolle spielt Leiden, Scheitern und Karfreitag in einer ethischen Vision von Erneuerung?
  • Wie kann das Reich Gottes heute in Strukturen, Institutionen und politischen Bewegungen sichtbar werden?
  • Welche Handlungsformen entsprechen Jesu Ethik des Einzugs (z. B. ziviler Ungehorsam, prophetisches Zeugnis, Versöhnungsarbeit)?

Bild: Tafelgemälde: Einzug Christi in Jerusalem – Bayerisches Nationalmuseum

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