Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit: Brüchige Einheit zwischen erinnern und versöhnen.

Kultur & Glaube

Am heutigen 3. Oktober feiern wir den 35 Jahrestag der politischen Einheit Deutschlands. Und doch spüren wir deutlich, dass diese Einheit nicht automatisch Versöhnung bedeutet. Zwischen Ost und West haben sich neue Formen der Entfremdung entwickelt: Misstrauen, gegenseitige Vorurteile, ein Gefühl des „Nicht-Gesehen-Werdens“. Einheit kann beschlossen werden, Versöhnung aber muss gelebt, erarbeitet und erfahren werden. Darüber wurde zuletzt viel geschrieben und diskutiert wie viele aktuelle Bücher belegen: Jakob Springfeld („Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert: Warum das Erstarken der Rechten eine Bedrohung für uns alle ist“), Dirk Oschmann („Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“), Franziska Hauser, Maren Wurster („Ost*West*Frau*: Wie wir wurden, wer wir sind“), Katrin McClean und Torsten Haeffner („Aufgewachsen in Ost und West: 64 Geschichten für eine wirkliche Wiedervereinigung“) etc.

Wichtige Bücher und Diskussionen, aber ich möchte einen anderen Aspekt dazulegen, der mich seit einiger Zeit beschäftigt: Welche Erinnerungen prägen die Einheit? Wo fehlt es an Versöhnung? Aus individueller als auch struktureller Sicht? Für meine Gedanken habe ich mich von der Theologie Miroslav Volfs inspirieren lassen und vor allem von seinem Buch „Von der Ausgrenzung zur Umarmung“. Mit Miroslav Volf war ich vor einigen Jahren für einige Tage in Berlin und wir haben uns auf die Spuren der Einheit gemacht, haben uns mit Politiker:innen, Menschen aus dem Widerstand und vielen anderen getroffen, es war eine unvergessene Reise mit vielen tiefgehenden Gesprächen, in denen ich noch mal neu merkte, wie tief westlich ich geprägt bin. Volf erinnert daran, dass echte Versöhnung ihren Ursprung am Kreuz hat: Christus unterbricht die Gewaltspirale, er solidarisiert sich mit den Opfern und eröffnet Tätern zugleich die Möglichkeit zur Umkehr. Versöhnung ist nie „billig“ – sie verschweigt das Unrecht nicht, sondern benennt es klar. Doch sie bleibt nicht beim Anklagen stehen: Sie schafft Raum für eine neue Begegnungen, für neue Identität, für Differenzierungen bei gemeinsamen Prozessen. Miroslav Volf betont dabei, dass Versöhnung ohne Wahrheit nicht möglich ist. Erinnern heißt: mutig nach der Wahrheit suchen, sie festhalten und aussprechen. Aber: nicht jedes Erinnern ist gut. Erinnerungen können Hass konservieren oder zur Waffe werden – etwa wenn Täter ihre Vergangenheit beschönigen oder Opfer ihre Verletzungen ausschließlich als Anklage weitererzählen. Deshalb ist entscheidend, wie man sich erinnert. Erinnerungen sind nie vollständig objektiv, sondern von Interessen, Perspektiven und kulturellem Gedächtnis geprägt. Fakten brauchen immer eine Rahmenerzählung, damit sie heilend wirken können. Volf vergleicht dies mit einem „Patchwork Quilt“: traumatische Erfahrungen müssen in die ganze Lebensgeschichte eingeordnet werden, damit Identität nicht vom Trauma dominiert wird. Für Christ:innen bedeutet Erinnerung immer auch Hoffnung: Sie geschieht im Horizont von Schöpfung, Erlösung und Vollendung. Der Glaube an den allwissenden Gott motiviert zur Wahrheitsfindung, auch wenn wir nur bruchstückhaft erkennen können (1 Kor 13,9). Wahrheit bleibt Mischung aus Beschreibungen und Deutungen – Vergangenheit erscheint immer durch die Brille der Gegenwart.

Für die deutsche Einheit kann uns das inspirieren und zum Nachdenken bringen:

  • Wir brauchen ein ehrliches Erinnern, das auch die Verletzungen der Nachwendezeit, das Erleben von Abwertung und das Fortwirken von Strukturen der Ungerechtigkeit benennt.
  • Wir brauchen Gerechtigkeit, nicht nur rechtlich, sondern auch im gesellschaftlichen Sinn: gleiche Chancen, gleiche Würde, gleiche Stimme.
  • Die Diskrepanz zwischen „Wiedervereinigung“ und „staatliche Übernahme“ ist eine offene strukturelle Wunde, die aufgearbeitet werden muss.
  • Wir brauchen Umarmung im Sinn Volfs: Arme, die sich öffnen – ohne Garantie, ob sie erwidert werden. Ein Warten, das den anderen nicht zwingt. Eine gegenseitige Anerkennung, die Unterschiede achtet, ohne sie zur Grenze werden zu lassen.

Volf spricht von Identität, die sich durch Beziehung verändert. Einheit in Christus bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern die Kraft, Differenzen zu halten, ohne sie zur Spaltung werden zu lassen. Deutsche Einheit kann nur dann gelingen, wenn wir uns nicht über unsere Abgrenzungen definieren, sondern im Bewusstsein einer gemeinsamen Zukunft. Am heutigen Feiertag erinnern wir uns: Politische Einheit ist ein historischer Akt. Geistliche und gesellschaftliche Versöhnung aber bleibt Auftrag. Sie beginnt damit, dass wir uns gegenseitig Raum geben – für das Erzählen von Geschichten, für das Hören von Klagen, für die Anerkennung von Schuld. Nicht geheilte Wunden haben sich entzündet, und manches Geschwür ist in den letzten Jahrzehnten entstanden. Die deutsche Einheit hat zudem Narben hinterlassen, die bis heute schmerzen. Was fehlt, ist oft ein wohlwollendes Zuhören, ein echtes Verstehen-Wollen, ein Blick auf das Gegenüber vom Guten her.

Was wäre, wenn unsere Gemeinden zu Orten würden, an denen diese Haltung eingeübt wird? Orte, an denen Geschichten gehört werden dürfen – ohne vorschnelles Urteil, ohne Abwertung, mit ehrlichem Interesse. Orte, an denen Begegnung wichtiger ist als Recht zu behalten, und an denen Versöhnung mehr gilt als die Sicherung der eigenen Position. Kirche könnte dann im Geist Volfs genau das sein: ein Raum, in dem Wahrheit und Erinnerung heilend wirken – nicht um alte Gräben zu vertiefen, sondern um ein gemeinsames „Wir“ zu stiften. Ein Wir, das Unterschiede aushält, Verletzungen anerkennt und dennoch Hoffnung teilt: dass Gottes Wahrheit und Gnade größer sind als unsere Schuld und unsere Entzweiungen.

Die deutsche Einheit ist noch nicht vollendet. Sie bleibt ein offener Prozess – und eine Einladung, die Umarmung Gottes am Kreuz weiterzugeben: verletzlich, wahrhaftig, gerecht und voller Hoffnung. Mir ist bewusst, dass dies unfertige Gedanken sind, die gerne ergänzt werden können, ja sogar müssen….

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