Antwort auf die Kritik an der empirica Sexualitätsstudie von Tobias Künkler, Tobias Faix, Daniel Wegner, Jennifer Paulus, Leonie Preck & Ramona Wanie 

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In den vergangenen anderthalb Monaten ist die empirica Sexualitätsstudie sehr breit rezipiert worden. Ein Großteil der Rückmeldungen war erfreulich konstruktiv: Viele Menschen – aus Kirchen, Gemeinden, Wissenschaft und Praxis – haben sich intensiv mit den Ergebnissen auseinandergesetzt und die Studie als wichtigen Beitrag gewürdigt.

Gleichzeitig gab es seit Veröffentlichung auch kritische Stimmen, insbesondere aus einem kleinen aber lauten Teil konservativerer evangelikal-pietistischer Kreise. Eine erste Welle der Kritik fand durch Idea statt.[1] Auslöser einer jüngsten Dynamik war die ausführliche Kritik von Markus Till[2], der sich schon vor Erscheinen der Ergebnisse skeptisch gegenüber der Studie geäußert hatte .[3] U.a. Johannes Hartl hat öffentlich Tills Kritik gelobt.[4] Für andere dient Tills Kritik scheinbar als Inspiration für weitere Kritik. Ein Beispiel liefert ein Beitrag auf dem Instagram-Kanal happygracefulgrowing, bei der die Autorin sich nicht ansatzweise nachvollziehbar mit Methodik und Inhalten der Studie auseinandergesetzt hat, sondern pauschale Behauptungen aufstellt, z.B. dass die Autor:innen der Studie ein Weltbild vertreten, in dem es darum gehe, „jegliche Form von Kritik zu vermeiden“ und „alles widerspruchslos zu akzeptieren“. Im selben Beitrag wird zudem ausdrücklich auf den Account „Liebe zur Bibel“[5] verwiesen, der vor kurzem zu einem Boykott u.a. des SCM-Verlags aufruft, weil dieser angeblich „antichristliche, liberale Theologie“ verbreite.[6] Solche Reaktionen zeigen, wie schnell Kritik – selbst wenn sie ursprünglich differenzierter gemeint war – in pauschale Alarmrhetorik oder öffentliche Schmähungen („Schrottstudie“[7]) umschlagen kann, sobald sie in bestimmten digitalen Räumen zirkuliert. 

Wir schreiben diese Replik auf die Kritik von Markus Till nicht deshalb, weil sie die einzige oder die härteste wäre, sondern weil sie in den vergangenen Wochen die deutlichste Resonanz ausgelöst hat, weil sie typisch ist für eine ganze Reihe ähnlicher Einwände – und weil sie von all diesen Kritiken am ausführlichsten, systematischsten und auf den ersten Blick am überzeugendsten formuliert wurde. Genau deshalb ist sie geeignet, die Missverständnisse und kategorialen Fehlannahmen, die in bestimmten Kritiken immer wieder auftreten, exemplarisch sichtbar zu machen.

Bevor wir detailliert auf die Kritik eingehen, wollen wir das Bedauern äußern, dass bei dieser Art der Kritik meist eine Sache zu kurz kommt oder ganz fehlt: eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen. Es scheint teils so, als ob die angebrachte Kritik an Methodik und Autor:innen vorgeschoben wird, damit man sich gerade nicht mit den Ergebnissen auseinandersetzen muss. Dies ist aus vielerlei Hinsicht schade,

Vorwurf 1: „Die Studie ist ein progressives Projekt“

Der schwerste und zugleich folgenreichste Vorwurf, den der Verfasser erhebt, lautet, die Sexualitätsstudie sei kein neutrales Forschungsprojekt, sondern Ausdruck einer „progressiven Agenda“. Er formuliert dies an verschiedenen Stellen, teils explizit, teils implizit. Typisch ist die Behauptung, in den Publikationen fänden sich keine wirklich kontrastiven Sichtweisen, die evangelikale Positionen ernsthaft verteidigen würden, und die Studie sei insgesamt ideologisch gefärbt.

Er schreibt etwa:
„Faktisch ist kein einziger der 18 Kommentatoren bereit, explizit klassisch evangelikale sexualethische Positionen zu vertreten oder ernsthaft zu verteidigen. Sie bleiben alle entweder neutral oder aber offen progressiv.“
Und weiter: „Die Studie ist weit entfernt von Neutralität.“

Solche Aussagen haben erhebliche Sprengkraft, da sie nicht nur die Studie, sondern auch die beteiligten Personen moralisch und theologisch diskreditieren. Entsprechend ist eine sachliche Klärung notwendig.

Falsche Tatsachen: Die Zusammensetzung der Kommentator:innen

Es haben zahlreiche Personen kommentiert, die seit Jahrzehnten prägende Figuren des evangelikalen Feldes sind. Dazu gehören Steffen Kern, Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes; Prof. Heinzpeter Hempelmann, langjähriger Theologe der Theologischen Hochschule Liebenzell; Bettina Wendland, Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT im SCM-Bundes-Verlag; Martin Leupold, bis 2025 Leiter des evangelikalen Fachwerks Weißes Kreuz e. V.; Ute Buth, Fachärztin und sexualethische Referentin des Weißen Kreuzes; sowie Astrid Eichler, als Gründerin von Solo&Co eine etablierte Vertreterin traditioneller Beziehungs- und Sexualethik. Dazu kommt, dass, wie in den Veröffentlichungen zur Studie beschrieben, in der Kritik aber ausgeblendet, die Studie von drei Beiräten begleitet wurden, die die gesamte konfessionelle Vielfalt abbildet, also auch explizit Freikirchen sowie konservative Stimmen enthielt.  Diese Zusammensetzung zeigt eindeutig, dass die Studie kein „progressives“ Projekt ist, sondern im Gegenteil ein breites Spektrum klassisch evangelikaler und konservativer Perspektiven aktiv einbezogen hat.

Wie Auswahlprozesse tatsächlich verliefen

Zur Offenheit dieser Replik gehört, darauf hinzuweisen, dass wir in der Tat versucht haben, Stimmen aus noch konservativeren Spektren einzubeziehen. Diese lehnten aber allesamt ab. Ein Grund ist möglicherweise Angst vor „Kontaktschuld“: der Wunsch, nicht öffentlich mit einem Projekt in Verbindung gebracht zu werden, das später von bestimmten evangelikalen Kreisen kritisiert werden könnte – so wie es jetzt geschieht.

Um diese Dynamik, die einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht, deutlich zu machen, verweisen wir auch noch einmal auf etwas, das wir bislang aus Diskretionsgründen nicht öffentlich gemacht hatten, der Verfasser nun aber selbst schreibt: dass vor Studienbeginn versucht wurde  zu erwirken, dass wir nicht die Gelder für diese Studie bekommen, und dass, als dies nicht gelang, Ulrich Parzany aus Protest aus dem SCM-Beirat ausgetreten ist. Diese Vorgeschichte ist relevant, weil sie erklärt, warum manche Personen eine Beteiligung an Kommentaren oder Beiräten ablehnten – nicht deshalb, weil wir sie nicht einbeziehen wollten, sondern weil in ihrem sozialen Umfeld ein hoher Druck herrscht. Diese Entwicklung macht uns große Sorgen, bei allen unterschiedlichen Positionen und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit diesen sollten sich Nachfolger Christi durch Liebe und nicht durch ein Klima der Angst auszeichnen.

Diese Muster erklären auch, warum die Studie von manchen als „progressiv“ gelesen wird: Nicht, weil sie inhaltlich progressiv wäre, sondern weil konservative Stimmen jede differenzierende oder nicht-normative Darstellung bereits als „progressive Abweichung“ werten. Das ist ein klassischer Effekt überhöhter Normativität, auf den wir später noch ausführlicher eingehen.

Vorwurf 2: „Die Studie überschreitet theologische Grenzen.“

Kein Kritikpunkt in dem Text ist so scharf formuliert wie der Vorwurf mangelnder theologischer Neutralität. Mehrere Passagen lassen erkennen, dass der Verfasser die Studie nicht nur für methodisch fragwürdig hält, sondern für theologisch gefährlich. Seine Argumentation lässt sich so zusammenfassen: Die Studie entscheide implizit oder explizit zentrale Streitfragen der christlichen Sexualethik zugunsten eines progressiven Paradigmas, behaupte wissenschaftliche Objektivität, nehme aber in Wirklichkeit eine theologische Position ein.

Der Verfasser ordnet unsere Arbeit dabei immer wieder normativ ein und nimmt selbst die Position eines Grenzschützers ein. Er tritt erkennbar als Verteidiger des „richtigen“ Glaubens auf. Als Wissenschaftler:innen wie als Christ:innen maßen wir uns ausdrücklich nicht an, eine „Gottesperspektive“ einzunehmen und Grenzen festlegen zu können. Vielmehr glauben wir, dass Christus Menschen zur Mündigkeit berufen hat – und dass empirische Forschung dazu beitragen kann, Vorannahmen kritisch zu überprüfen das eigene Denken zu schärfen und differenzierter über Sexualität und Glaube zu sprechen.

Theologische Grenzziehung ist nicht Aufgabe empirischer Wissenschaft

Die Kritik folgt einer Logik, die man so zusammenfassen könnte: Nur eine bestimmte Sexualethik ist biblisch, und dieser Maßstab ist an alle Diskurse anzulegen – auch an empirische Forschung. Das Problem ist nicht, dass der Verfasser diese Überzeugungen hat. Das Problem ist, dass er sie als Maßstab für wissenschaftliche Arbeit anlegt.

Was für uns ein Beitrag zu Bildung und Selbstprüfung ist, deutet er als theologische Agenda. Viele Aussagen der Studie werden von ihm normativ gelesen, obwohl sie nicht normativ gemeint sind. Dieses Missverständnis ist nicht zufällig. Es entsteht in Kontexten, in denen theologische Normativität so dominant ist, dass selbst deskriptive Aussagen automatisch als normative Bedrohung verstanden werden. Das ist keine persönliche Kritik, sondern eine Beschreibung eines bestimmten religiösen Deutungsstils.

Die Sexualitätsstudie basiert auf anderen Grundannahmen, die wir offen benannt haben: Wissenschaft beschreibt, sie normiert nicht. Empirie fragt: „Wie ist die Lebensrealität von Christ:innen?“ – nicht: „Wie sollte sie sein?“ Der Verfasser missversteht diesen Punkt grundlegend: Er erwartet von der Studie theologische Normen und wirft uns gleichzeitig vor, theologisch zu argumentieren, sobald wir historische oder gesundheitliche Kontexte referieren. Eine empirische Studie kann und will aber keine Sexualethik formulieren. Sie zeigt lediglich, wo Realität, Selbstwahrnehmung, Theologie und Praxis ineinandergreifen – und wo nicht.

WHO-Definition sexueller Gesundheit

Der Verfasser schreibt, die Autoren übernähmen die WHO-Definition und leiteten daraus ab, sexuelle Praxis sei Teil menschlicher Identität. Hier werden zwei Ebenen vermischt:

Ebene 1: Wissenschaft. Die WHO-Definition ist die weltweit genutzte Grundlage für Forschung in Sexualmedizin und Gesundheitswissenschaften.
Ebene 2: Sexualethik. Was daraus für christliche Sexualethik folgt, ist nicht Aufgabe der Studie. Wir übernehmen die Definition als deskriptiven Referenzrahmen, nicht als normativen Imperativ. Wir sagen nirgends, dass Gemeinden diese Definition übernehmen sollten. Die Kritik setzt voraus, dass jede Beschreibung menschlicher Sexualität automatisch theologische Norm sei. Das ist ein Kategorienfehler.

Inkongruenz zwischen Norm und Verhalten

Der Verfasser behauptet, die Studie fordere, Normen an Verhalten anzupassen, statt Verhalten an biblische Normen. Das ist falsch. Die Studie beschreibt lediglich:
– wo Inkongruenz vorkommt,
– wie Menschen sie erleben,
– welche Gefühle sie auslöst,
– welche psychischen Effekte sie haben kann.

Sie sagt nicht: „Konservative Normen sind falsch“, „Menschen sollen ihre Normen ändern“ oder „sexuelle Enthaltsamkeit ist schlecht“. Dass der Verfasser diese Befunde als Angriff auf konservative Ethik liest, zeigt erneut: Er liest normativ, was nicht normativ gemeint ist. Es ist jetzt seine Aufgabe die Ergebnisse der Studie aus seiner konservativen Sicht sexualethisch zu deuten. Dies ist gut und legitim und könnte in konstruktive Gespräche münden. 

Methodische Transparenz statt Neutralitätsillusion

Ein Vorwurf lautet, wir seien nicht „neutral“. Das stimmt im strengen Sinn – wir wissen, dass wir weder neutral noch unfehlbar sind. Dies gilt aber für alle Menschen und Wissenschaftler:innen. Genau deshalb gibt es wissenschaftliche Methodik: ein systematisches Vorgehen, das für Dritte nachvollziehbar gemacht wird und zu verhindern versucht, dass die unhintergehbare Verortung der Forschenden die Ergebnisse verzerrt. Deshalb legen wir Methodik, Auswertungswege und Entscheidungen transparent offen und dokumentieren unser Vorgehen auf fast 500 Seiten Forschungsbericht. Zudem unterscheiden wir zwischen Deskriptionen und Interpretationen.

Die Sexualitätsstudie tut dies außergewöhnlich ausführlich. Neutralitätsillusion entsteht dort, wo man die eigenen (theologischen) Vorannahmen nicht reflektiert. Der Verfasser kritisiert die Studie letztlich, weil sie nicht aus seiner theologischen Hermeneutik heraus geschrieben ist. Das ist legitim – aber kein wissenschaftliches Argument. Empirische Forschung muss realitätsnah, transparent, differenziert und methodisch korrekt sein. Sie muss nicht konservativ-theologisch argumentieren und darf theologische Streitfragen gerade nicht entscheiden.

Unsere Studie tut genau, was wissenschaftlich legitim und möglich ist:
– Sie beschreibt.
– Sie kontextualisiert.
– Sie analysiert.
– Sie stellt empirische Zusammenhänge dar.
– Sie formuliert keine dogmatischen Vorgaben.

Wenn dies aus manchen theologischen Perspektiven als „progressiv“ erscheint, sagt das mehr über die Hermeneutik dieser Perspektive aus als über die Studie.

Vorwurf 3: „Die Studie ist nicht repräsentativ – daher wertlos“

Der Verfasser eröffnet seinen methodischen Kritikteil mit der Feststellung, die Studie sei nicht repräsentativ, und zieht daraus den Schluss, die Ergebnisse könnten nicht zuverlässig verallgemeinert werden. Damit wird der Eindruck erweckt, eine nicht repräsentative Studie sei wissenschaftlich kaum brauchbar. Dieser Schluss ist falsch.

Zunächst: Er hat recht in einem Punkt. Die quantitative Teilstudie ist nicht repräsentativ im statistischen Sinn – dies behaupten wir auch nicht. Aber er zieht daraus eine Reihe von Schlüssen, die nicht haltbar sind:
– dass die Studie deshalb keine verallgemeinerbaren Aussagen liefern könne,
– dass sie nur eine „Bubble“ abbildet,
– dass die Ergebnisse insgesamt nicht belastbar seien,
– dass die Daten primär progressive Milieus erfassen.

Nicht-Repräsentativität = geringe Aussagekraft? 

Die empirica Sexualitätsstudie besteht aus drei Teilstudien:

  1. Diskursanalysen (Bücher, Zeitschriften, Social Media),
  2. qualitative Interviews (Audio-Statements, Leitfäden, Typenbildung),
  3. eine quantitative Onlinebefragung.

Dass Diskursanalysen und qualitative Interviews nicht repräsentativ sind, ist selbstverständlich und in der Forschung üblich. Das beanspruchen sie auch nicht – sie dienen anderen Erkenntnisinteressen.

Auch in der quantitativen Teilstudie ist die Nicht-Repräsentativität nur ein Thema für die deskriptiven Daten („Wie viele Prozent stimmen zu?“). Der Verfasser setzt voraus: Wenn Häufigkeiten nicht repräsentativ sind, ist die gesamte Studie wertlos. Das ist wissenschaftlich falsch. Deskriptive Häufigkeiten sind etwas anderes als Zusammenhänge und Muster. Nur Häufigkeiten sind eingeschränkt übertragbar.

Nicht betroffen sind:
– Zusammenhangsanalysen,
– Interaktionseffekte,
– Regressionsmodelle,
– Faktorenanalysen,
– Vergleiche zwischen Subgruppen,
– Testungen von Hypothesen.

Diese Befunde lassen sich vollständig unabhängig von Repräsentativität sinnvoll interpretieren und – im Sinne genereller Muster – verallgemeinern. Hinzu kommt: Die allermeisten quantitativen empirische Studien (in Psychologie, Medizin aber auch Sozialwissenschaften) sind nicht repräsentativ, Da sie auf Stichproben beruhen, die aus forschungspraktischen, ethischen oder finanziellen Gründen nicht die Grundgesamtheit abbilden können. „Repräsentativität“ ist fast ausschließlich klassischen Wahl- und Meinungsforschungspanels oder großen Bevölkerungsstudien vorbehalten. 

Verzerrungen werden benannt und empirisch geprüft

Der Verfasser zitiert aus dem Buch: „Höhere Bildungsabschlüsse und Bi- und Homosexualität sind überrepräsentiert.“ Er verschweigt jedoch, dass wir genau diese Verzerrungen ausführlich darstellen und vor allem systematisch prüfen, ob sie die Ergebnisse beeinflussen.

Dafür wurden alle zentralen Variablen auf mögliche Verzerrungseffekte überprüft:
– Alter,
– Geschlecht,
– sexuelle Orientierung,
– Bildungsabschluss,
– Gemeinde- und Kirchenzugehörigkeit,
– Intensität der Religiosität,
– Gottesbildskalen,
– sexuelle Sozialisation.

Wo Verzerrungen auftreten, benennen wir sie. Und wir zeigen auch, wo sie keine Rolle spielen. Beispiel: Die Zustimmung zu zentralen sexualethischen Aussagen (z. B. „Man sollte bis zur Ehe warten“) unterscheidet sich nicht nach Geschlecht. Dass die Stichprobe mehr Frauen enthält, verzerrt die Ergebnisse also nicht. Dagegen unterscheiden sich sexualethische Antworten deutlich nach Gemeindetyp. Daher weisen wir ausdrücklich darauf hin: Christ:innen in Deutschland insgesamt sind vermutlich weniger konservativ als die Stichprobe. Wenn man die Ergebnisse gewichten würde, gingen sie also genau in die entgegengesetzte Richtung als der Verfasser suggeriert. 

Die vom Verfasser gezogene Schlussfolgerung („man kann keinerlei Aussagen verallgemeinern“) ist somit faktisch falsch.

Die These eines „progressiven Stichproben-Bias“ ist unbelegt

Der Verfasser stellt die Vermutung auf, das „progressiv geprägte Institut empirica“ habe überdurchschnittlich viele Progressive gewonnen. Diese These ist reine Spekulation. Sie ist nicht datenbasiert und wird durch zentrale Befunde widerlegt.

Beispiele:

  • Ein gutes Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu, dass ausgelebte Homosexualität Sünde sei.
  • Knapp die Hälfte der Befragten sind (eher) der Ansicht, dass man bis zur Ehe warten sollte, bevor man Geschlechtsverkehr hat.Nur 19% der Befragten verneinen, dass die Wesensunterschiede zwischen Mann und Frau gottgewollt sind.

Wäre die Stichprobe tatsächlich von „progressiven“ Milieus dominiert, wären solche Ergebniswerte extrem unwahrscheinlich.

Die Studie erreicht nicht „eine Bubble“, sondern eine breite christliche Landschaft

Die Verbreitung der Studie erfolgte über Netzwerke in Freikirchen, evangelischen Landeskirchen, katholischen Kontexten und in unterschiedliche Frömmigkeitsspektren hinein. Die Daten zeigen genau diese Breite. Die Aussage, die Studie erfasse nur eine bestimmte Bubble, ist daher nicht haltbar.

Zwei beispielhafte Befunde, die trotz Nicht-Repräsentativität verallgemeinerbar sind:

– Kommunikation ↔ Zufriedenheit in der Paarsexualität: Je besser Paare über Sexualität kommunizieren, desto höher ist die sexuelle Zufriedenheit. Dieser empirische Zusammenhang ist über unterschiedliche Subgruppen hinweg stabil.

– Moralische Inkongruenz ↔ Schuld, Scham, Belastung: Menschen, deren Verhalten ihrer eigenen Norm widerspricht, berichten stärkeres Schuldempfinden, höhere psychische Belastung und verstärkte Selbstabwertung. Auch dieser Zusammenhang ist unabhängig von Repräsentativität.

Vorwurf 4 zu verwendeten Begriffen und Skalen

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die in der Studie verwendeten Begriffe und Skalen, insbesondere den Fundamentalismus-Begriff sowie die Kategorie „Hochreligiosität“. Der Verfasser formuliert mehrere Vorwürfe, etwa: Als Marker für „Fundamentalismus“ sei die Aussage „Es gibt nur eine wahre Religion“ unzureichend, die Kategorie bleibe schwammig; und es sei irreführend, wenn der Eindruck entstehe, die „Hochreligiösen“ repräsentierten das allianzevangelikale Umfeld.

Die verwendete Fundamentalismus-Skala ist ein anerkanntes wissenschaftliches Instrument

Die Studie nutzt die Fundamentalismus-Skala von Demmrich und Pollack, ein nach psychometrischen Standards entwickeltes und vielfach eingesetztes Instrument aus Religionspsychologie und -soziologie. Diese Skala besteht aus mehreren Items, die gemeinsam – nicht einzeln – ein Muster erfassen, das in der Forschung als „Fundamentalismustendenz“ bezeichnet wird.

Die Skala misst nicht einzelne isolierte Glaubenssätze, sondern eine Haltung, die seit Jahrzehnten empirisch erforscht wird. Diese Haltung lässt sich u. a. durch folgende Merkmale beschreiben:
– Wahrheitsmonismus: die Annahme, dass es eine exklusive religiöse Wahrheit gibt;
– Gehorsamsorientierung: die Vorstellung, dass religiöse Gebote über anderen normativen Ordnungen stehen;
– moralische Eindeutigkeit: die Überzeugung, dass es klare, unveränderliche göttliche Normen gibt, die für alle Menschen gelten;
– holistischer Wahrheitsanspruch: die Idee, dass die eigene religiöse Tradition Antworten auf alle zentralen Fragen von Leben, Gesellschaft und Politik liefert;
– deutliche Trennlinie zwischen „innen“ und „außen“.

Die Demmrich-Skala bildet diese theoretischen Merkmale nicht durch ein einzelnes Item ab, sondern durch das Antwortmuster auf mehrere Aussagen, das gemeinsam die Grundausprägung dieser Einstellung sichtbar macht.

Entscheidend ist: Der Zweck der Skala besteht nicht darin, „Fundamentalisten“ von „Nicht-Fundamentalisten“ zu scheiden. Sie dient ausschließlich dazu, die Stärke einer fundamentalismustypischen Grundhaltung empirisch zu messen und ihre Zusammenhänge mit anderen Variablen analysieren zu können. Damit ist sie ein Messinstrument, kein theologischer Kommentar.

Wer – wie der Verfasser – ein einzelnes Statement herausgreift und daraus ableitet, die Skala sei „unscharf“ oder „willkürlich“, verfehlt genau diese wissenschaftliche Logik. Einzelitems sind weder die theoretische Grundlage noch die Messlogik dieser Skala; erst das Gesamtmuster bildet das Konstrukt ab.

Hochreligiosität ist nicht gleich Evangelikalismus

Der Verfasser schreibt: „Hochreligiosität ist nicht gleich Evangelikalismus.“ Das ist richtig. Und genau diese Aussage steht wortwörtlich in der Studie. Hochreligiosität ist ein religionspsychologisches Maß: Wie zentral ist der Glaube im Leben einer Person? Wie stark prägt er Alltag, Werte, Haltungen?

Es misst nicht:
– Denomination,
– theologische Position,
– Liberalität/Konservativität,
– Bibelverständnis.

Wer Hochreligiosität mit Evangelikalismus gleichsetzt, verwechselt Intensität mit Inhalt. In diesem Punkt stimmen wir dem Verfasser ausdrücklich zu.

Gleichzeitig kritisiert er uns jedoch dafür, dass „mancherorts der Eindruck entstehe“, Hochreligiöse repräsentierten evangelikale Milieus. Dabei gilt: Dieser Eindruck wurde nicht von uns erzeugt. Wenn andere Akteure diesen Eindruck erwecken, ist das kein Fehler der Studie.

Die Argumentation des Verfassers folgt an dieser Stelle einer wiederkehrenden Logik:

  1. Er misst unsere Begriffe an seiner theologischen Kategorisierung.
  2. Dann kritisiert er die Studie dafür, nicht seiner theologischen Logik zu folgen.
  3. Das führt dazu, dass er wissenschaftliche Konzepte (wie Fundamentalismus) theologisch problematisiert.
  4. Daraus entsteht der Eindruck, die Studie benenne theologische Urteile, obwohl sie empirische Muster beschreibt.

Das ist ein klassischer Kategorienfehler.

Vorwurf 5: Polarisierung, „Spaltpilz“ und weltweiter Kontext

In den letzten Abschnitten seines Artikels erhebt der Verfasser zwei miteinander verbundene Vorwürfe:

  1. Die Studie verstärke Polarisierung im evangelikalen Raum („Spaltpilz“).
  2. Sie entferne sich vom weltweiten kirchlichen Konsens zur Sexualethik.

Diese Vorwürfe sind weitreichend. Sie adressieren nicht nur die Studie selbst, sondern deuten zugleich an, dass die empirica Sexualitätsstudie eine Gefahr für kirchliche Einheit sei und eine problematische Sonderentwicklung im deutschen Kontext befördere. Wir nehmen diese Vorwürfe ernst, prüfen sie aber kritisch.

Polarisierung ist ein empirischer Befund – kein Produkt der Studie

Der Verfasser schreibt, die Studie bestätige die Realität zweier getrennter Lager und fragt, was die Ursache sei. Er deutet an, die Studie oder ihre Autor:innen könnten Polarisierung fördern.

Die Studie beschreibt empirisch:
– dass es in bestimmten sexualethischen Fragen zwei deutlich unterschiedliche Cluster gibt,
– dass diese Unterschiede emotional stark aufgeladen sind,
– dass sich entlang bestimmter Themen (z. B. Homosexualität, Geschlecht, vorehelicher Sex) klare Trennlinien zeigen.

Diese Polarisierungsdiagnose ist kein normatives Urteil, sondern eine deskriptive Analyse. Polarisierung entsteht nicht dadurch, dass man sie misst, sondern dadurch, dass sie faktisch existiert. Wenn man auf einem Thermometer abliest, dass es draußen 0 °C hat, liegt die Ursache des Frosts nicht im Thermometer.

„Triggerfragen“ vs. „rote Linien“

Der Verfasser kritisiert die Rede von „Triggerfragen“ und argumentiert, es handle sich nicht um emotionale Reizthemen, sondern um theologisch definierte „rote Linien“. Hier zeigt sich eine grundlegende Differenz zweier Ebenen: Empirie fragt, warum Menschen stark auf bestimmte Themen reagieren, Theologie fragt, welche Fragen normativ entscheidend sind. Beides kann nebeneinander bestehen. Problematisch wird es, wenn empirische Beschreibungen als theologische Entscheidungen gelesen werden.

SCM als „Spaltpilz“?

Der Verfasser fragt, warum die Stiftung Christliche Medien eine solche Studie gefördert habe, und suggeriert, sie würde bewusst einen liberalen sexualethischen Paradigmenwechsel fördern. Die Fakten sprechen dagegen:
– die Stiftung Christliche Medien hat sich selbstkritisch einem sensiblen Thema gestellt, das die Leserschaft ihrer Verlage betrifft.
– Die Studie hat SCM-Publikationen kritisch analysiert (z. B. traditionelle Ratgeberliteratur) – das ist kein Indiz für eine Agenda, sondern ein Beispiel bemerkenswerter Offenheit.
– Die Stiftung Christliche Medienhat keinerlei inhaltliche oder methodische Vorgaben gemacht.
– Die Daten wurden wissenschaftlich unabhängig erhoben und ausgewertet.

Es ist eine gewagte Unterstellung, hier eine strategische „Liberalisierungsagenda“ zu vermuten.

Vorwurf 6: „Die Studie widerspricht dem weltweiten Konsens der Christenheit“

Der Verfasser verweist auf weltkirchliche Mehrheitspositionen und Texte wie das Seoul-Statement der Lausanner Bewegung. Daraus entsteht der Eindruck, die empirica-Studie wolle globale Sexualethik übergehen oder korrigieren.

Hier liegt ein grundlegendes Missverständnis vor. Die empirica Sexualitätsstudie ist:
– kein theologisches Grundsatzpapier,
– kein Lehrdokument,
– kein normativer Entwurf,
– kein kirchliches Positionspapier,
– kein Kommentar zum globalen Lehramt.

Sie ist eine empirische Bestandsaufnahme der gelebten Sexualität deutschsprachiger Christ:innen. Sie hat keinen Anspruch,
– globale Dogmatik zu beurteilen,
– weltkirchliche Positionen zu korrigieren,
– oder Sexualethik neu zu formulieren.

Empirische Forschung beschreibt, was ist. Theologische Instanzen entscheiden, was sein soll. Diese beiden Ebenen zu vermischen führt zwangsläufig zu falschen Erwartungen – und falschen Vorwürfen.

Schluss

Die Kritik des Verfassers zeigt deutlich, wie tief die Konflikte um Sexualethik, Bibelverständnis und kirchliche Identität im evangelikalen Raum geworden sind. Sie macht auch sichtbar, wie schnell empirische Forschung als Bedrohung erlebt wird, wenn sie nicht innerhalb eines vorab gesetzten theologischen Rasters argumentiert.

Diese Replik sollte nicht beweisen, dass wir unfehlbar gearbeitet hätten oder jede Formulierung glücklich wäre. Wohl aber sollte sie zeigen: Viele zentrale Vorwürfe gegen die empirica Sexualitätsstudie beruhen auf Missverständnissen, kategorialen Verwechslungen und teilweise auch auf falschen Tatsachenbehauptungen. Gleichzeitig nehmen wir die Irritationen ernst und verstehen sie als Einladung, künftig noch klarer zu unterscheiden zwischen empirischer Beschreibung, theologischer Deutung und persönlichen Bewertungen.

Die Studie will keine neue Sexualethik schreiben. Sie will sichtbar machen, wie Christ:innen heute in Deutschland tatsächlich leben, lieben, glauben, scheitern, hoffen und ringen. Was daraus theologisch folgt, bleibt Aufgabe der Kirchen, Gemeinden, Werke – und der Menschen, die die Ergebnisse lesen. Wenn es uns gelingt, mit Hilfe dieser Daten differenzierter, wahrhaftiger und barmherziger über Sexualität und Glaube zu sprechen, hat die Studie ihren Zweck erfüllt. 

Herzliche Einladung dazu!

Tobias Künkler, Tobias Faix, Daniel Wegner, Jennifer Paulus, Leonie Preck & Ramona Wanie 


[1] https://www.idea.de/artikel/reaktionen-auf-sexualitaetsstudie-massstab-wird-verschoben & https://www.idea.de/artikel/sexualethik-wenn-forschung-theologie-ersetzt

[2] https://blog.aigg.de/?p=7547

[3] https://www.youtube.com/watch?v=2zCSf7LYJbM; Kritik an Studie ab ca. einer Stunde

[4] https://www.instagram.com/p/DRE5vcYjMD_/

[5] https://www.instagram.com/liebezurbibel/p/DQyjH2oDCTE/

[6] Der Text zu den Slides lautet „Warum diese Bücher nichts mit dem Christentum gemein haben, erfährt ihr in den Slides PS. Ein wenig besser verstehe ich jetzt auch den Beitrag von @liebezurbibel über die verschiedenen christlichen Verlage. Wir werden zur Wachsamkeit berufen, bei der Auswahl der Bücher, die wir lesen 🙌🏼 Diese aufschlussreichen Studien wurden nämlich vom SCM Verlag finanziert, ihr könnt daher selbst entscheide9n, was das für euch bedeutet ❤️ #scmverlag #brockhausverlag“ (https://www.instagram.com/p/DRSBq7BiCzN/

[7] So ein Kommentator auf Tills Facebookbeitrag zur seiner Kritik an der Studie.

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