Spiritualität der Veränderung Teil 5/6: Geistliche Verlernprozesse und die Frage der Haltung einer Spiritualität der Veränderung

Theologie

„Wer geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung will, muss sehr grundsätzlich umdenken und um- kehren. Kirche vor Ort hat oft nicht einmal genug Zeit und Kraft für alles Notwendige, geschweige denn für alles Sinnvolle. In Situationen menschlicher Überforderung ist aber wenig Platz für das Wirken des Geistes Gottes. Wer geistliche Prozesse will, muss den Weinberg der Pastoral beschneiden – nicht ein paar Stunden im Monat frei räumen, sondern radikal herunterschneiden! Wie im Januar in den Weinbergen …“ Peter Hundertmark

Bevor ich in im nächsten abschließenden Blogbeitrag praktische Tools zur Anwendung in kirchlichen Veränderungsprozessen vorstelle, lohnt es sich die Erkenntnisse aus den ersten vier Blogbeiträgen vertiefend abzurunden. Dazu möchte ich mit sieben Begriffspaaren geistliche Haltungsrahmen beschreiben, in denen kirchliche Veränderungsprozesse ablaufen:

Mit Achtung und Aufmerksamkeit: Ignatius von Loyola (Mitbegründer des Jesuitenordens) hat im Kontext der geistlichen Entwicklung von drei Parametern gesprochen, die ich sehr hilfreich finde, um einen ersten Schritt zu wagen: Wahrnehmen – Unterscheiden – Entscheiden. Der erste Schritt „Wahrnehmen“ beschreibt den Blick auf die Realität, so wie sie von der Gruppe wahrgenommen wird. Genau hinsehen, entdecken und nachfragen. Das Positive zu entdecken, gehört genauso dazu, wie das Problematische zu sehen: im eigenen Leben, in der Gemeinde und in der Welt. Der zweite Schritt heißt „Unterscheiden“ und es geht vor allem darum, Bisheriges zu entdecken, zu erfragen und zu reflektieren, aber auch um eine Vergewisserung des eigenen Glaubens anhand des Evangeliums. Der dritte Schritt handelt davon, mutige Entscheidungen zu treffen. Was muss bestätigt, was verändert werden und was  ist als nächstes dran? Ein Kernpunkt dabei ist die Haltung des Hinhörens. Vor Gott zu kommen und zu hören meint dabei auch, den eigenen Denkrahmen dadurch sprengen zu lassen. 

Mit Innovation und Irritation: Veränderungsprozesse beinhalten immer auch innovative Methoden und Ansätzen, die auch Irritationen hervorbringen können, um zum Beispiel Unterbrechung bewusst gestalten zu können oder Phasen der Entschleunigung zu wagen. Dabei ist es wichtig, wahrzunehmen, dass Innovation nicht gemacht, sondern nur initiiert werden kann. Dazu braucht es Prozesse, Räume und Irritationen, die dies ermöglichen. In der Theorie findet das oftmals große Zustimmung, in der Praxis bleibt häufig nur die Irritation. Beides muss aber zusammenbleiben und ausgehalten werden, was durchauseine Herausforderung darstellt.

Mit Erbe und Eros: Das kulturelle Erbe von Kirche (vgl. kulturellen Habitus, Beitrag 3) ist Ressource und Herausforderung zugleich. Auf der einen Seite lebt Kirche von diesem Erbe und es wird eine Erneuerung nur aus diesem Erbe geben. Auf der anderen Seite muss der kulturelle Habitus überwunden werden, weil er nur noch eine kulturelle Elite in der heutigen Milieulandschaft anspricht und bedient. Damit dies geschieht braucht es einen Eros, eine brennende Leidenschaft für Kirche, die nicht nur von ihrer intellektuellen Redlichkeit (und Genügsamkeit) lebt, sondern Menschen in ihren Lebenslagen und Lebensnöten anspricht. 

Mit Komplexität und Kooperation: Der geistliche Gemeindebegleiter Franz Meures betont in seinem Ansatz die Komplexität der Gemeindebegleitung und setzt dem einen dreifachen Pol entgegen: Aufmerksamkeit für das Reden Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes, Aufmerksamkeit für äußere Ereignisse und Aufmerksamkeit für für innere Ereignisse. Die daraus entstehenden gruppendynamischen Prozesse verlangen von den beteiligten Gruppen zwar eine hohe Kooperationsbereitschaft, helfen aber, die Komplexitäten aufzuzeigen und in Beziehungen zu setzen, sodass sie konstruktiv bearbeitet werden können. 

Mit Wahrnehmung und Wunder: In den geistlichen Veränderungsprozessen geht es immer um die Anschlussfähigkeit an die Realitäten der Gemeinde und darum, der Frage nachzugehen: Welcher Ausgangspunkt hilft den Gemeinden an die eigene spirituelle Tradition anzuknüpfen, um eine geistliche Visionsentwicklung voranzutreiben? Dabei geht es darum, die Verheißung Gottes im Prozess zu erkennen und darüber hinaus Erwartungen zu haben, die über die eigenen Möglichkeiten hinausgehen. Dabei gilt, was Bernhard von Clairvaux sagte: „Was vom Himmel kommt, will aus der Erde wachsen.“ Deshalb wollen auch wir mit dem Himmlischen rechnen und nicht nur auf das menschlich Machbare setzen.

Mit Kairos und Krise: Kann die Krise ein Kairos sein? In kaum einer anderen Frage wird die geistliche Haltung deutlicher. Das Wort Kairos bezeichnet dabei Gottes Zeitpunkt, wo Veränderung möglich ist, etwas zum Guten zu wenden und zwar mitten und durch die Krise selbst. Bei der Frage nach dem Kairos geht es nicht darum, die Krise zu leugnen, sondern im Gegenteil anzuerkennen, dass die Kirchen über einen langen Zeitraum unter anhaltenden massiven Störungen im kirchlichen System leiden. Die Frage ist nun aber nicht, wie wir dieses System möglichst durch die Krise bringen und erhalten können, sondern was die Krise über das System sagt. Dadurch wird es nicht einfacher und auch die Komplexität bleibt bestehen, aber die Haltung und die geistliche Urteilskraft ändern sich und dies ist vielleicht genau das, was der Kirche vielfach im Wege steht (ausführlich in meinem Beitrag Kirche zwischen Krise und Kairos).

Geistliche Verlernprozesse gestalten

Wir müssen lernen zu verlernen, damit wir überhaupt bereit sind, wieder neu lernen zu können. Dies gilt auch für unser geistliches Lernen und Hören. „Re-Design“ nennt das die Organisationstheorie. Wir neigen alle dazu, die eigene Tradition, Geschichte, Erfahrung als das Wichtigste und Unverzichtbare anzusehen. Ein Kernpunkt dabei ist es, die eigene Haltung zu reflektieren und zu verändern, neu hinzuhören und zu Lernenden zu werden. 

Für Kirche heißt das, vor Gott zu kommen und dabei auch den eigenen Denkrahmen sprengen zu lassen. Umlernprozesse sind also (auch) geistliche Prozesse, die Kirchen herausfordern, gegenüber dem Reden Gottes und dem Wirken des Heiligen Geistes neu aufmerksam zu werden, sowohl gegenüber äußeren Ereignissen als auch gegenüber inneren Ereignissen. Dies bedeutet: Hörende Kirche werden und dahin gehen, wo Gott wirkt und nicht nur das wiederholen, was schon immer gemacht worden ist. 

Vielfältige Spiritualität partizipatorisch leben, sich neu von Gottes Geist ergreifen lassen und das Unverfügbare wagen (Hartmut Rosa) in einer Welt, in der wir sonst versuchen, alles im Griff zu haben. Diese Unverfügbarkeit ist Kirche bei geistlichen Veränderungsprozessen auf der einen Seite in Form des Heiligen Geistes bestens bekannt; genau diese Unverfügbarkeit stellt Kirche gleichzeitig vor große Herausforderungen, weil sie die Kontrolle abgeben muss. Unverfügbarkeit und Resonanz kann eben nicht erzwungen werden, sondern man kann sich nur in sie hineinbegeben.

Aufbauend auf diesen sieben Haltungsschritten möchte ich im nächsten Beitrag in einige konkrete Handlungsfelder von geistlichen Veränderungsprozessen hineingehen. 

Eine ausführliche Vertiefung und Weiterführung gibt es im Kompendium „Gemeinden geistlich begleiten“

Vertiefende Fragen: 

1. Achtung und Aufmerksamkeit: Wie können die drei Schritte „Wahrnehmen – Unterscheiden – Entscheiden“ konkret in einem Veränderungsprozess in Ihrer Gemeinde oder Organisation angewendet werden, um sowohl positive Aspekte als auch Herausforderungen besser zu erkennen?

2. Innovation und Irritation: Welche Rolle spielt Irritation in Veränderungsprozessen, und wie können sowohl die positiven Effekte von Innovation als auch die damit verbundenen Spannungen konstruktiv genutzt werden?

3. Kairos und Krise: Wie kann die Haltung, eine Krise als Kairos (Gottes Zeitpunkt für Veränderung) zu verstehen, helfen, tiefgreifende Veränderungen in der Kirche nicht nur zu bewältigen, sondern auch als Chance für geistliche Erneuerung zu nutzen?

4. Geistliche Verlernprozesse: Was bedeutet es konkret für eine Kirche oder Gemeinde, „geistlich zu verlernen“, und welche praktischen Schritte könnten unternommen werden, um den Denkrahmen zu sprengen und sich neu auf das Wirken des Heiligen Geistes einzulassen?

No Comments Yet.

Leave a comment