„Alles Sex oder was? Hintergründe zur großen empirica Sexualitätsstudie“

Kultur & Glaube

 

In den letzten Jahren gab es zunehmend öffentliche Auseinandersetzungen rund um verschiedene sexualethische Themen, die es teilweise bis vor das Oberlandesgericht „geschafft“ haben, wie im Fall des Bremer Pastors Latzel. Aber auch in den sozialen Medien ist das Thema „Sex“ in verschiedenen Schattierungen (von Purity Culture bis Polyamorie) allgegenwärtig und dies oftmals mit polarisierenden Zuspitzungen und emotionaler Empörung. Dabei hat man oft den Eindruck, dass es bei den Themen eher um Fragen der Deutungsmacht als um eine ehrliche ethische Auseinandersetzung geht. Was neben diesen „lauten Stimmen“ verloren geht, ist die Frage, wie Christinnen und Christen ganz alltäglich über Sexualität denken, wie sie ihre eigene Sexualität leben und was dies mit ihrem eigenen Glauben zu hat. Um diese Wirklichkeit abzubilden hat sich das Forschungsinstitut empirica im Auftrag der SCM Stiftung aufgemacht, die professionell zu untersuchen. Ein Team aus Theolog:innen, Soziolog:innen und Psycholog:innen arbeitet seit fast zwei Jahren an einer multimethodischen Studie, die zum einen qualitativ die biographischen Prägungen der eigenen Sexualität aufzeigen möchte und gleichzeitig einen fundierten Ein- und Überblick über das Gesamtthema erstellen möchte, mithilfe einer quantitativen Onlineerhebung im deutschsprachigen Raum. Als theoretische Grundlage für diese beiden Erhebungsformen wurden a) bisherige Studien zum Thema Sexualität in Deutschland und unter Christinnen und Christen ausgewertet, b) der aktuelle wissenschaftliche Stand zum Themenbereich Sexualität unter theologischen, ethischen soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten aufgearbeitet und c) exemplarisch Sexualratgeber (im SCM Verlag seit den 1970er Jahren) und weitere Veröffentlichungen (Zeitschriften, YouTube Predigten etc.) wurden mit einer Diskursanalyse ausgewertet, um einen Einblick zu bekommen, was Christinnen und Christen in Sexualfragen leitet, wie Informationen weitergegeben und wie sie theologisch begründet und gemeindepädagogisch gelehrt werden.

Gibt es eine Diskrepanz zwischen Einstellungen und eigenen Verhalten?

In vergangenen Studien mit der Zielgruppe tauchte immer wieder ein Phänomen auf, das wir gerne vertiefend untersuchen wollen: Eine Diskrepanz zwischen Sexualethik und reellem Verhalten, so zum Beispiel bei (hoch)religiösen Singles, die zu einer tendenziellen Unzufriedenheit mit der eigenen Sexualität führt. Zu beachten ist zudem, dass es zum Einen explizite ethische Normen und theologische Überzeugungen gibt (die in Ordnungen oder Leitlinien festgehalten sind, in Predigten versprachlicht werden und Einzelnen auch bewusst sind) und zum Anderen implizite Normen und Theologien (die Einzelnen meist nicht oder nur teils bewusst sind, die sie auch nur teils versprachlichen können und die sich historisch-gemeinschaftlich etabliert haben). Hier wäre eine empirische Erforschung beider von großem Interesse, um zu erfahren, was tatsächlich geglaubt und gelebt wird und wie sich dieses zu expliziten und impliziten Sexualethiken einzelner Christ:innen sowie den Lehrmeinungen der Gemeinden verhält.

Warum sind gerade religiöse und hochreligiöse Christinnen und Christen so interessant

Ein wichtiges Merkmal hochreligiöser Christ:innen ist, dass ihre Religiosität und ihr Glaube so zentral innerhalb der Persönlichkeit verankert ist, dass sie sich auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt. In diesem Sinne wäre es von Interesse herauszufinden, wie sich ihr Glaube auf die eigene Sexualität und auf Einstellungen dazu auswirkt. Zum Beispiel, ob ein intensiverer Glaube tatsächlich zu verstärkten Schuld- und Schamempfindungen bezüglich Sexualität führt oder an welchen Punkten Glaube sich positiv auf die eigenen Sexualität auswirken kann. Interessant wäre beispielsweise der Fokus auf das Körperbild, das gesamtgesellschaftlich besonders für Jugendliche häufig ein problematisches Thema ist: weniger als 50 % der weiblichen Jugendlichen in Deutschland fühlen sich in ihrem eigenen Körper wohl, bei männlichen Jugendlichen sind es knapp 70 % (BZgA 2010: 92f.). Hier wäre es spannend zu überprüfen, ob christliche Jugendliche ein positiveres Körperbild haben.

Durchführung und Vorgehensweise der Studie

Methodisch ist die Studie mittels eines Mixed-Method-Ansatzes die Forschungsfragen nachgegangen und beantwortet werden. Dabei sollen in einem ersten Schritt die ersten beiden Methoden (qualitative Interviews und Diskursanalyse) durchgeführt werden, um in einem zweiten Schritt gezielt und passgenau eine große quantitative Befragung durchzuführen.

Qualitative Interviews: um ein tieferes Verständnis über typische Sexualbiografien in (hoch)religiösen Kreisen, deren Sprachfähigkeit zum Thema Sexualität und die Begründungszusammenhänge mit Gemeinde und Theologien zu erlangen.

Diskursanalyse: Außerdem sollen Medien (Bücher, Zeitschriften und/oder Onlinepredigten) seit den 1970er Jahre im Kontext des SCM Verlags analysiert werden, welche auf Individuen und den Diskurs über Sexualität maßgebend prägend eingewirkt haben. Außerdem sollen Bücher und Predigten und deren Wording untersucht werden, um den Ist-Zustand darzustellen.

Quantitative Onlinebefragung:
Durchführung einer standardisierten Befragung mittels eines standardisierten Onlinefragebogen von ca. 50 bis 60 Items.

 

Erstes Feedback und konkrete Fragen zur Studie – beantwortet von meinem Kollegen Tobias Künkler

Das Thema ist so voller Spannungen bzw. so vermint, dass man es in nicht wenigen Aspekten nicht allen recht machen kann. Einerseits schreibt mir eine Bibelschülerin entsetzt, dass sie mehrere Fragen zum Thema Selbstbefriedigung beantworte muss, obwohl sie solcherlei doch noch nie praktiziert hätte. Andere beschweren sich, dass spezifische Fetische sowie Kinks/ spezifische sexuelle Vorlieben zu wenig vorkommen. Der eine kritisiert, dass es in der Befragung „augenscheinlich vor allem um die Frage ginge, wie gläubig Menschen mit sexueller Vielfalt und Queersein umgehen“ und der Aspekt, „dass Sex zur Zeugung führt“ zu wenig thematisiert würde.

Gendern als Triggerpoint

Andere sind enttäuscht, dass die „queer-christliche Perspektive“ in der Tendenz fehle und queere Christ*innen nur eingeschränkt teilnehmen können. Ich will für Interessierte (sonst einfach zum nächsten Punkt springen) nur am Beispiel „gendern“ diese Schwierigkeit und unseren Umgang damit offenlegen. Auch hier gibt es Kritik aus zwei Richtungen. Zum einen wird kritisiert, dass wir nur binär gendern (also in den meisten Aussagen z.B. von Partner/ Partnerin sprechen und nicht Partner*in oder Partner:in schreiben) und z.B. beim Thema sexuelle Orientierung nicht berücksichtigen,

„dass es nicht-binäre oder intergeschlechtliche Menschen gibt, die andere nicht-binäre oder intergeschlechtliche Menschen begehren (also nicht nur Mann und Frau)“.

Zum anderen bekomme ich Mails, in denen jemand schreibt:

„ich bin durch eine Zeitschrift auf die von Ihnen geplante Umfrage zum Thema Sexualität gestoßen, was mein Interesse geweckt hat. Ich beschloss, daran teilzunehmen. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen: Daraus wird nichts! Schon im Titel der Umfrage musste ich den Begriff Christ*innen ertragen. Diesen sprachlichen Irrsinn, der Teil einer umfangreicheren Ideologie zu sein scheint, lehne ich strikt ab. Ebenso verzichte ich auf Angebote und Zusammenarbeit mit Organisationen die diese Welle des Zeitgeistes aktiv surfen.“

Tatsächlich ist es ein Anliegen der Studie möglichst sowohl eine sehr konservativen Christen zu erreichen, der im Genderstern das Zeichen „des Biestes“ erblickt als auch queere und progressive Christ*innen, die kritisch auf eine „cis männliche, eher heteronormative, eher monogame Perspektive“ schauen. Dass dies nahezu unmöglich ist, war uns im Vorhinein bewusst. Hier gibt es schlicht keine Neutralität und an anderer Stelle positioniere ich mich hier auch klar. Aufgabe der Studie ist es aber, hier gute Kompromisse zu schließen, um eine möglichst große Bandbreite zu gewinnen.

Der Versuch möglichst viele mitzunehmen

So haben wir uns aus mehreren Gründen z.B. für das binären Gendern entschieden (Partnerin/ Partner), das ich persönlich z.B. sonst nie nutze: Erstens machen das fast alle Messinstrumente so, die wir nutzen. Und diese darf man  nicht oder nur minimal ändern. Zweitens hätte das Verwenden eines Gendersterns wahrscheinlich dazu geführt, dass einige sehr konservative Christ*innen an der Befragung erst gar nicht teilgenommen hätten oder die sehr früh abgebrochen hätten. Drittens ist aus der empirischen Sexualforschung ohnehin bekannt, dass die Ergebnisse einer Befragung zu diesem Thema immer etwas verzerrt dadurch ist, dass Menschen, die konservative Einstellungen zum Thema Sexualität haben, weniger an solchen Studien teilnehmen. Für einen Kompromiss haben wir uns auch bei der Frage nach Geschlecht und sexueller Orientierung entschieden. So hatten wir z.B. zunächst direkt danach gefragt, welche sexuelle Orientierung jemand hat und ein offenes Feld, bei dem man dies eintragen konnte und beim Eintragen eine Vielzahl an Möglichkeiten angezeigt bekam. Beim Pretest bekamen wir aber zahlreich die Rückmeldung, dass dies problematisch sei. Zum einen, weil das manche sehr konservative Menschen sehr irritieren könnte, wenn man „h“ eintippt und dann heterosexuell, homosexuell, heteroflexibel und homoflexibel angezeigt bekommt und dieser Mensch dann vielleicht abbricht. Zum anderen sind die Begriffe „sexuelle Orientierung“ und „heterosexuell“ nicht gerade niedrigschwellig und nicht für Menschen mit allen Bildungshintergründen verständlich. Aus diesen Gründen haben wir uns dafür entschieden dies zu ändern und zunächst zu fragen „Zu wem fühlen Sie sich sexuell hingezogen?“ a) zu Männern, b) zu Frauen, c) zu Männern und Frauen und d) weder noch. Alle die nicht „straight“ sind (also bei Geschlecht Mann oder Frau angegeben haben und das andere Geschlecht begehren) bekommen dann in einem zweiten Schritt noch die Möglichkeit ihre sexuelle Orientierung genauer zu beschreiben (wie im Pretest). Trotzdem gibt es jetzt Stimmen wie: „wenn mich die ersten zwei, drei Fragen als nicht-binäre Person schon ausschließen, finde ich es schwierig, weiter zu machen, weil mir das wenig Sensibilität oder Kenntnis für das Themenfeld zeigt“. Anderen ist das alles schon viel zu viel und kommentieren:

„Ach herrje, bei den Antwortmöglichkeiten sieht man woher der esoterische Wind weht.“

Wer noch mehr Hintergründe wissen möchte, der kann den ganzen Artikel von Tobias Künkler lesen.

Es bleibt also spannend. Danke an alle, die die Studie trotzdem und gerade deshalb ausgefüllt und geteilt haben! Wir sind gespannt auf die Ergebnisse!

Und hier der direkte Link zur Sexualitätsstudie.

Mehr über die Studie und das Forschungsinstitut empirica und deren Forschungsschwerpunkte gibt es hier.

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