„Spiritualität der Veränderung: Teil 2/6: Exnovation – oder vom würdevollen Sterben.“

Theologie

„Exnovation prüft Etabliertes im Hinblick auf dessen Zweck und Nutzen. Ferner wird auch nachhaltig und langfristig nach dessen Verantwortbarkeit gefragt.“ Sandra Bils

Der Begriff „Exnovation“ stammt aus der Innovationsforschung und bezieht sich auf den gezielten Prozess des Abschaffens oder Beendens von alten, ineffizienten oder nicht mehr benötigte Praktiken, Produkte oder Prozesse. Dabei werden zwei unterschiedliche Exnovationsprozesse unterschieden: a) Die natürliche Exnovation, die erfolgt durch die langsame Verdrängung bestehender Strukturen, Prozesse, Angebote etc., weil das Neue sich langsam durchsetzt und so das Bisherige verdrängt und b) die künstliche Exnovation, die durch strategische Entscheidungen getroffen wird, damit für das Neue Raum, Zeit und Finanzen bereitstehen.

„Drop your tools or you will die!“ Über die Theorie des Loslassens 

Bekannt geworden ist Exnovation durch den Organisationspsychologe Professor Karl Weick und sein Buch mit dem drastischen Titel „Drop your tools or you will die!“. Karl E. Weick beschreibt darin die Bedeutung des Loslassens von gewohnten Handlungen und Denkmustern. Der Titel bezieht sich auf reale Ereignisse, bei denen Feuerwehrleute während Waldbränden oder andere Einsatzkräfte in Notlagen nicht in der Lage waren, ihre Werkzeuge oder Ausrüstungsgegenstände loszulassen, obwohl dies ihre einzige Überlebenschance war. Weick analysiert, warum Menschen so stark an ihren gewohnten Handlungen und Denkmustern festhalten, selbst wenn diese lebensgefährlich werden.

  1. Psychologische Bindung: Menschen entwickeln eine starke Bindung an ihre Werkzeuge und Gewohnheiten, weil diese Teil ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses sind. Das Loslassen dieser Werkzeuge bedeutet nicht nur den Verlust eines physischen Gegenstands, sondern auch eine Bedrohung für das Selbstbild und die berufliche Identität.
  2. Situationale Bewusstheit: In Krisensituationen fällt es Menschen schwer, sich schnell an neue Gegebenheiten anzupassen. Der Druck und Stress solcher Situationen verstärken das Festhalten an Routinen und bekannten Handlungen, auch wenn diese irrational oder gefährlich sind.
  3. Institutionelle und kulturelle Einflüsse: Organisationen und berufliche Kulturen können das Verhalten ihrer Mitglieder stark beeinflussen. Vorschriften, Traditionen und ungeschriebene Regeln tragen dazu bei, dass Menschen an etablierten Praktiken festhalten, selbst wenn diese nicht mehr angemessen sind.
  4. Lernprozesse und Flexibilität: Weick betont die Notwendigkeit, in Organisationen und Teams flexibles Denken und adaptives Verhalten zu fördern. Training und Übungen sollten nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit zum schnellen Umdenken und Loslassen von Gewohnheiten einschließen.
  5. Beispiele aus der Praxis: Weick illustriert seine Argumente mit Beispielen aus der Praxis, insbesondere aus der Brandbekämpfung, wo das Versäumnis, Werkzeuge fallen zu lassen, zu tragischen Verlusten geführt hat. Diese Beispiele verdeutlichen, wie entscheidend es sein kann, in lebensbedrohlichen Situationen etablierte Muster zu durchbrechen.

Die zentrale Botschaft von Weick ist, dass das Loslassen von Werkzeugen – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne – lebensrettend sein kann. Organisationen und Individuen müssen lernen, in kritischen Momenten flexibel zu reagieren und bereit zu sein, alte Muster zu verlassen, um sich an neue Herausforderungen anzupassen. Ich finde, dass dieser Vergleich auch sehr gut zu den Prozessen in unseren Kirchen und Gemeinden passt. Loslassen fällt oft sehr schwer, aber Neues kann nur entstehen, wo Raum dafür geschaffen wird. Liebgewonnene Traditionen, Kreise oder Strukturen müssen verabschiedet werden, ja, müssen würdevoll sterben.

„Würdevoll sterben!“

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt, wird es keine Frucht bringen, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Johannes 12,24

In der Natur nennt man diesen Prozess „Keimung“. Damit ein Same keimen kann, braucht er bestimmte Voraussetzungen wie Wärme, Wasser, Licht und Sauerstoff. Wenn alles zusammenkommt, kann der Wachstumsprozess des fruchtbaren Samens beginnen. Er bildet eine Keimwurzel, aus der dann die Streckung der Sprossachse beginnt. Danach bildet sich der vollständige Keimling heraus. Jetzt stirbt Stück für Stück der Same ab, nährt dadurch den neu entstehenden Keimling mit allem, was er braucht, da dieser noch keine Photosynthese betreiben kann. Während dieser Phase sind Same und Keimling fest miteinander verbunden. Deshalb spielt zu Beginn der Same eine entscheidende Rolle, mit der Zeit nimmt dieser mehr und mehr ab und andere Faktoren wie Wasser, Licht und Sauerstoff werden zu wichtigen Faktoren für das weitere Wachstum. Viele Samen sind zunächst nicht keimungsfähig. Sie brauchen eine bestimmte Wärme, damit der Keimungsprozess starten kann. Deuten wir diese Metapher auf unser Thema, dann ist die Kirche der Samen, aus dem das Neue herauswachsen wird. Die Wärme stellt den Kairos dar, der das Wachstum des Samens auslöst. Er stirbt eben nicht einfach, sondern beginnt einen Transformationsprozess, in dem er sich Stück für Stück in einen Keimling verwandelt. Dabei sind Same und Keimling am Anfang eng verbunden und erst nach und nach erwächst das Neue und wird selbstständig.

Die zentralen Fragen sind: Wie sieht der Transformationsprozess aus? Was wird in das Neue übergehen und was muss sterben? Der Umgang mit dem eigenen Erbe wird so zu einem schöpferischen Akt. Denn es gibt eine Verbindung zwischen Exnovation und Innovation. Der Einsparungszwang der Finanzen zwingt die Kirchen zum Glück der Veränderung. Natürlich kann das Bild überreizt werden und hat seine Grenzen, aber die zentrale Frage ist: Wie sieht der Transformationsprozess aus? Was wird in das Neue übergehen und was muss sterben? Auch in dem Wissen, dass das vermeintlich Neue wiederum sterben wird. So einfach diese Fragen zu sein scheinen, so schwierig sind sie in der Praxis, weil dahinter über Jahrzehnte gewachsene Strukturen mit Menschen stehen, die sich dafür haupt- und ehrenamtlich immens eingesetzt haben. Sterben ist nicht leicht. Es ist schmerzvoll. Nehmen wir diese Fragen ernst, dann können wir feststellen, dass die Kirchen in einem Prozess der Sterbebegleitung von Liebgewordenem, das einen selbst geprägt hat, stehen und gleichzeitig Geburtshelferin des Neuen sein dürfen. In der Biologie nennt man diese Vorgänge, die die Entstehung etwas Neuem auf organische Art und Weise beschreiben, Emergenz.

Was gilt es loszulassen?

  • Was darf gestört werden?
  • Was darf/muss/soll aufhören?
  • Was geschieht freiwillig? Was gezwungen?

Dabei ist das würdevolle Sterben eine zentrale Aufgabe in einem Prozess des Neuen. Würdevolles Sterben heißt, dass wir die Arbeit der Vergangenheit würdigen, ernstnehmen und aufnehmen. Heißt aber auch, wenn manches beendet wird, gemeinsam darüber zu trauern, um so wieder Raum, Zeit und Kraft für Neues zu schaffen.

Die zehn Schritten des würdevollen Sterbens (nach Donders[1])

  1. Identifizieren: Wer verliert etwas?
  • Was wird sich ganz konkret ändern?
  • Wer muss etwas loslassen?
  • Was bleibt in der neuen Struktur für den einzelnen Mitarbeiter übrig?
  1. Seien Sie nicht überrascht, wenn es zu Überreaktionen kommt
  • Menschen erfahren Verluste durch Veränderungen
  • Die gewohnte Welt der Menschen wird durcheinandergebracht
  1. Akzeptieren Sie die Realität und Wichtigkeit der subjektiv empfundenen Verluste
  • Ihre ,,objektive“ Sicht der Lage reduziert niemals den subjektiv empfundenen Schmerz
  • Nehmen Sie sich Zeit, den Mitarbeitenden zuzuhören, ernst zu nehmen und zu verstehen
  1. Erkennen Sie die Verluste öffentlich und verständnisvoll an
  • Reden Sie einfach, offen und klar über die Verluste, die die neue Struktur mit sich bringt
  • Drücken Sie Respekt vor dem Geleisteten und Anteilnahme aus
  1. Erwarten und akzeptieren Sie Anzeichen der Trauer
  • Dazu gehört: Ablehnung der Realität, Ärger, Ausweichen, Angst, Orientierungslosigkeit und depressives Verhalten, Rückzug
  1. Kompensieren Sie den Verlust
  • Wer nur Schmerz spürt, ist nicht motiviert, eine neue Struktur zu akzeptieren, die diesen Schmerz auslöst
  • Was kann ich zurückgeben, um die Verlusterfahrung auszubalancieren?
  1. Informieren Sie Mitarbeiter regelmäßig
  • Bei ersten Informationen werden nur ca. 50% verstanden
  • Ehrliche Information baut Vertrauen auf
  1. Definieren Sie genau, was sich ändern wird und was nicht
  • Menschen haben oft nicht den Mut, mit dem Alten aufzuhören.
  • Gleichzeitig fangen sie an, auch Neues zu realisieren. Das brennt sie aus.
  • Sind Erwartungen unklar, dann macht jeder, was er will, und alle produzieren gemeinsam ein Chaos
  • Lässt man alles vom Alten sterben, dann ,,schüttet man das Kind mit dem Bade aus“
  1. Behandeln Sie die alten Strukturen mit Respekt
  • Sprechen Sie fachlich und mit Respekt über die Vergangenheit
  • Erkennen Sie das Gute an, das durch die alte Struktur entstanden ist
  1. Zeigen Sie, wie ein Sterben der alten Strukturen so ermöglicht werden kann, dass sich die Kernkompetenzen weiterentwickeln
  • Manches muss beendet werden, damit etwas Größeres zur Vollendung kommt
  • Zeigen Sie dies auf, damit es für jeden der Sinn der Änderung verständlich wird

 

 

Fragen für das Gespräch: Deutung- und Handlungsmuster erkennen lernen:

  • Was ist zu beenden? Frage nach der Ablösung von Mustern
  • Was ist fortzusetzen? Die Frage nach der Weiterentwicklung von Mustern
  • Was zu beginnen? Die Frage nach der Neuentwicklung von Mustern
  • Was muss wie beendet werden, bevor etwas Neues entstehen kann? Was gilt es dabei zu beachten?

 

Vertiefung:

Sandra Bils und Gudrun L. Töpfer: „Exnovation und Innovation. Synergien von Ende und Anfang in Veränderungen“, Schäffer und Poeschel.

Podcast: Herzen und Systeme, Staffel 2, Folge 16: Sandra Bils und Christian Brunner “Exnovation – Beenden für Erneuerung”

 

Teil 1: „Aufbruch ohne Landkarte“

 

2 Comments

  1. Das sind sehr gute Gedanken! Vielen Dank dafür! Aus der Trauerarbeit weiß ich, dass sich unsere Gesellschaft mit dem Thema Trauer extrem schwer tut. Das ist bei notwendigen Abschieden leider nicht anders. Hinzu kommt mangelndes Gottvertrauen… Obwohl wir an die Auferstehung der Toten (!) glauben, fällt es uns schwer, dass nach dem Sterben Neues entstehen kann.

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