Vom Umgang mit dem Wirken des Geistes, Missbrauchsprävention und mündiger Glaubensentwicklung. Herausforderndes über die Jahreslosung 2025 „Prüft alles, behaltet das Gute“ (1. Thessalonicher 5,21)

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Nein, die diesjährige Jahreslosung ist nicht vom TÜV. Und doch gibt es ein paar Ähnlichkeiten, denn sie soll helfen Gut und Böse zu unterscheiden: „Prüft alles, behaltet das Gute“ (1. Thessalonicher 5,21). Aber: Prüfet alles? Wirklich alles? Das klingt bei schätzungsweise 20.000 (unbewusste) Entscheidungen pro Tag nicht wie eine Orientierungshilfe, sondern eher nach viel Stress. Folgen wir aber Paulus, dann soll die Jahreslosung eher ein „Stressvermeider“ sein, denn der Imperativ lädt uns ein, innezuhalten und bewusst wahrzunehmen, was wir sehen, hören und fühlen. Es geht darum, die Vielfalt der Eindrücke, die der Heilige Geist uns gibt, sorgfältig zu betrachten und differenziert zu entscheiden. Diese Haltung setzt voraus, dass vieles, dem wir begegnen und vieles, was der Geist Gottes in uns wirkt, potenziell gut sein kann. Paulus betont zudem, dass der Heilige Geist der Motor und Kompass für ein Leben im Glauben ist. Er leitet, begabt und tröstet, und sein Wirken sollte nicht eingeschränkt werden (1Thess 5,19–20). Der Prüfauftrag ist somit keine Einladung zur Beliebigkeit, wie Kritiker:innen einwenden könnten. Vielmehr dient er dazu, das Gute zu erkennen, das aufbaut und weiterträgt, und das Schädliche abzuweisen. Denn es gibt das Böse, auch im Namen des Heiligen Geistes und es zerstört und muss benannt werden. Gleichzeitig ist die Jahreslosung eine Einladung zur Vielfalt und persönlichen Entwicklung im Lichte biblischer Weisheit. Aber an was prüft man dieses Wirken des Heiligen Geistes? In einer Zeit wo es keine Evangelien gibt? Kaum Strukturen und ein eher feindliches Umfeld? Paulus fordert uns in der Jahreslosung auf mündig und gemeinsam mit anderen zu entscheiden, was gut und hilfreich ist. Zu erwarten, dass die Geistkraft Gottes in unser Leben weht, uns Freiheit schenkt und uns erfrischt und verändert. In diesem Sinne bedeutet Freiheit durch Loslassen, sich von Vorurteilen und festgefahrenen Denkmustern zu befreien, um Raum für das Wirken des Geistes und für das Gute in all seinen Formen zu schaffen. Es ist ein aktiver Prozess des Prüfens und Bewahrens, der uns zu einem authentischen und erfüllten Glaubensleben führt.

Aber schauen wir uns die Jahreslosung 2025 mal genauer an und fangen mit dem 1. Thessalonicherbrief und dem gesellschaftlichen Kontext der damaligen Zeit an.

 

A) Das gesellschaftliche und politische Umfeld zur Zeit des 1. Thessalonicherbriefs

Thessalonich: Eine bedeutende Stadt

Thessalonich (heute Thessaloniki) war eine strategisch wichtige Hafenstadt in der römischen Provinz Makedonien. Sie lag an der berühmten Via Egnatia, einer der wichtigsten Handels- und Militärstraßen des Römischen Reiches, die den Osten und Westen verband. Dies machte Thessalonich zu einem pulsierenden Handelszentrum und einem Schmelztiegel verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen. Die Bevölkerung war ethnisch und religiös vielfältig: Neben Griechen und Römern gab es auch eine bedeutende jüdische Gemeinschaft sowie Anhänger verschiedener lokaler und römischer Kulte. Die religiöse Vielfalt bot einerseits Raum für Austausch, führte jedoch auch zu Spannungen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen.

Das Römische Reich und seine Politik

Thessalonich war eine römische Freistadt (civitas libera), was ihr eine gewisse Autonomie in der Selbstverwaltung ermöglichte. Dennoch war die Stadt fest in das politische und wirtschaftliche System des Römischen Reiches eingebunden. Das Jahr 50 n. Chr. fiel in die Herrschaft des Kaisers Claudius (reg. 41–54 n. Chr.), dessen Politik darauf abzielte, Stabilität und Ordnung im Reich zu wahren. Die Pax Romana (römischer Frieden) wurde durch eine starke militärische Präsenz und die Unterdrückung von Aufständen gesichert. Gleichzeitig war von den Untertanen des Reiches eine gewisse Loyalität gegenüber dem Kaiser verlangt. Dies äußerte sich nicht nur in politischem Gehorsam, sondern auch in der Verehrung des Kaisers als göttlicher Herrscher (Kaiserkult). Dieser Anspruch kollidierte mit dem Glauben der Christen, die allein Jesus Christus als Herrn anerkannten.

Religiöse Vielfalt und Spannungen

Thessalonich war geprägt von einer Vielzahl religiöser Praktiken. Neben dem Kaiserkult waren die griechisch-römischen Götterkulte verbreitet, darunter die Verehrung von Zeus, Athena und Dionysos. Zudem gab es Mysterienkulte wie den Kult um Isis oder Mithras, die auf persönliche Erleuchtung und ein Leben nach dem Tod fokussiert waren. Die jüdische Gemeinschaft spielte eine wichtige Rolle im religiösen und kulturellen Leben der Stadt. Sie lebte in einer oft angespannten Beziehung zu den nichtjüdischen Bewohnern, insbesondere durch die Exklusivität ihres Glaubens und ihrer Praktiken. Paulus predigte zunächst in der Synagoge der Stadt, was einige zum Glauben an Christus führte. Diese Bekehrungen sorgten jedoch für Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und mit anderen Bewohnern.

Herausforderungen für die junge christliche Gemeinde

Die junge Gemeinde in Thessalonich bestand überwiegend aus Heidenchristen, die sich aus der griechisch-römischen Religionswelt zum Glauben an Christus bekehrt hatten. Ihre Abkehr von den traditionellen Göttern und ihre Weigerung, den Kaiserkult zu praktizieren, brachten sie in Konflikt mit der Gesellschaft. Zudem waren sie mit Anfeindungen und Verfolgung konfrontiert. In der Apostelgeschichte (Apg 17,1–9) wird beschrieben, wie Paulus und Silas während ihrer Zeit in Thessalonich von einer aufgebrachten Menge angegriffen wurden. Nach ihrer Flucht setzte sich die Feindseligkeit gegen die Gemeinde fort. Diese Bedrohung machte die Ermutigung und Stärkung durch Paulus‘ Brief besonders wichtig.

Politische und soziale Spannungen

Das römische System war stark hierarchisch geprägt. Wohlhabende Bürger, Händler und römische Beamte genossen Privilegien, während die Mehrheit der Bevölkerung – darunter viele Sklaven – in Armut lebte. Dieses soziale Gefälle führte zu Spannungen, die durch die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt zusätzlich verstärkt wurden. Die christliche Botschaft, die von Gleichheit und einer neuen Gemeinschaft in Christus sprach (Gal 3,28: „Da ist weder Jude noch Grieche, Sklave noch Freier“), bot eine alternative Lebensweise, die besonders für die unteren Gesellschaftsschichten attraktiv war. Gleichzeitig stellte sie jedoch eine Herausforderung für das etablierte römische Gesellschaftssystem dar.

Der Kontext des 1. Thessalonicherbriefes

Der 1. Thessalonicherbrief wurde von Paulus gemeinsam mit Silvanus (Silas) und Timotheus verfasst. Er richtet sich an die junge Gemeinde in Thessalonich, die überwiegend aus Heidenchristen bestand und in einer multikulturellen und multireligiösen Stadt lebte. Der Brief entstand etwa um 50 n. Chr., nachdem Paulus Thessalonich aufgrund von Verfolgung fluchtartig verlassen musste. Es ist der älteste Brief, den wir haben und deshalb auch von einer hohen Bedeutung. Es gab noch keine Evangelien, keine Ämter und kirchliche Strukturen. Die Gemeinde war sehr jung und alles war noch am Entstehen. Eine Zeit des Aufbruchs, durch die Kraft des Heiligen Geist geführt und begleitet und genau darin lagen auch die Probleme: Wie erkennt man das Wirken des Geistes? Aus dieser Sorge heraus entsteht die Jahreslosung, die den Glauben der jungen Christ:innen ermutigen und Glauben festigen soll. Der Brief spiegelt Paulus’ pastorale Fürsorge und seinen Wunsch, die Gemeinde auch aus der Ferne geistlich zu stärken.

 

B) Exegetische Gedanken zu 1Thess 5,21

Literarische Struktur
Der Abschnitt in 1Thess 5,19–22 lässt sich in zwei klar voneinander abgegrenzte Anweisungsblöcke gliedern:

Geistliche Gaben und Prophetie: „Den Geist nicht dämpfen, Prophezeiungen nicht verachten.“

Kritische Prüfung: „Prüft alles; behaltet das Gute, meidet jede Art des Bösen.“

In diesem Text macht Paulus eine bemerkenswerte Umkehr unserer üblichen Haltung zur Prüfung deutlich. Statt in erster Linie nach Fehlern und Schwächen zu suchen oder etwas zu entlarven, lädt er uns ein, in einer Haltung der Dankbarkeit zu prüfen und dann das Gute festzuhalten. Erst danach, als letztes Element, kommt die Ablehnung des „Bösen“. Die Struktur legt den Fokus auf eine aktive, positive Auseinandersetzung mit prophetischen Aussagen. Dabei ist besonders spannend, welche Betonung auf den einzelnen Elementen liegt. Beispielsweise lässt sich fragen: „Prüfe?“„Prüfe alles?“ oder gar „Prüfe alles und das Gute behaltet?“ Verschiedene Betonungen eröffnen unterschiedliche Perspektiven und laden zur Reflexion ein.

Sprachliche Aspekte

Die Rolle des Partikels „aber“ (δέ):

Der adversative Partikel „aber“ (δέ) deutet auf einen Kontrast hin: Prophetische Aussagen sollen weder gering geschätzt noch blind akzeptiert werden. Dieser feine Spannungsbogen betont, dass die Gläubigen sowohl Offenheit als auch Urteilsfähigkeit besitzen müssen.

Das Verb δοκιμάζετε („prüft“):

Das griechische Verb δοκιμάζετε bedeutet „prüfen“ oder „auf die Probe stellen“. Es trägt die Idee einer aktiven und kritischen Auseinandersetzung in sich. Interessanterweise wird der Begriff in der biblischen Tradition häufig mit einer göttlichen Perspektive verbunden:

In der Hebräischen Bibel wird etwa Gott als derjenige dargestellt, der „Herz und Nieren prüft“ (Ps 7,10).

Im Neuen Testament wird der Glaube mit Gold verglichen, das im Feuer geprüft wird (1Petr 1,7).

In diesem Kontext fordert Paulus die Gemeinde auf, prophetische Aussagen zu testen, um ihre Echtheit zu beurteilen.

Die Bedeutung von πάντα („alles“):

Das Wort πάντα („alles“) verweist nicht auf Personen, sondern auf Inhalte oder Dinge. Es geht darum, die Echtheit prophetischer Aussagen zu beurteilen. Paulus lädt die Gläubigen ein, alles zu prüfen, ohne jedoch in eine pauschale Skepsis zu verfallen.

Die imperativen Verben:

δοκιμάζετε („prüft“) und κατέχετε („haltet fest“) stehen im Imperativ und betonen die aktive Verantwortung der Gemeinde.

Die Gemeinde ist nicht nur kollektiv verantwortlich, sondern Paulus fordert auch die Einzelnen auf, eigenständig zu prüfen und das Gute festzuhalten.

Gemeinsam prüfen:

Die Gemeinde soll gemeinsam prüfen. Nicht eine geistliche Autorität fragen, nicht Paulus schreiben, sondern gemeinsam in einen Prüfvorgang gehen. Andreas Loos und Thorsten Dietz sehen in diesem Aufruf eine „Demokratisierung im frühen Christentum“. Während im Römischen Reich der Kaiser herrscht und das Gesetz des Stärkeren gilt, ruft Paulus hier zur gemeinschaftlichen Prüfung auf. Das ist mehr als auffällig, hier wird ein Grundprinzip von Kirche deutlich, die nicht durch Hierarchie und Macht bestimmt wird, sondern durch ein gemeinsames Ringen um Wahrheit und Verständnis, was und wie das Wirken Gottes verstanden und gelebt wird.

Zusammenfassung der zentralen exegetischen Gedanken:

1Thess 5,21 fordert eine Haltung, die Offenheit und kritische Reflexion miteinander vereint. Paulus ruft dazu auf, sich nicht vorschnell von geistlichen Aussagen abzuwenden, aber auch nicht alles unkritisch hinzunehmen. Stattdessen soll gemeinsam geprüft werden, um das Gute – das Gottgewollte – zu bewahren. Diese Anweisung spiegelt die Balance zwischen geistlicher Sensibilität und der Notwendigkeit zur Unterscheidung. Die Verantwortung liegt dabei sowohl bei der Gemeinschaft als auch bei jedem Einzelnen.

 

C) Die theologischen Kernaussagen

Der 1. Thessalonicherbrief vermittelt zentrale theologische Botschaften, die für damalige und heutige Leser:innen relevant sind. Paulus lobt die Gemeinde in Thessalonich als Vorbild im Glauben, da sie trotz Verfolgung standhaft blieb und damit ein Zeugnis für andere wurde. Ein Schwerpunkt des Briefes ist die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi, die Trost und Ermutigung bietet, besonders in Zeiten von Verlust. Paulus betont zudem die Notwendigkeit eines heiligen Lebens im Alltag und hebt die Bedeutung der gegenseitigen Unterstützung in der Gemeinschaft hervor. Der Brief verbindet praktische Anweisungen mit geistlichen Prinzipien, die das Leben in der christlichen Gemeinschaft prägen und stärken sollen. Für die Jahreslosung bedeutet dies, dass Paulus die Prophetie als eine spontane, durch den Geist gewirkte Rede, die zur Erbauung der Gemeinde dient (vgl. 1Kor 14) beschreibt. Diese Gabe konnte von jedem Gemeindemitglied ausgeübt werden, jedoch ohne den Anspruch auf absolute Autorität, wie Paulus sie in den Schriften der Hebräischen Bibel verortet. Gleichzeitig weist Paulus auf das Risiko von Missbrauch und Manipulation hin, weshalb er die Gemeinde dazu auffordert, prophetische Aussagen sorgfältig zu prüfen. Dies ist auch notwendig, da es sowohl in der Hebräischen Bibel (Bsp. Jeremia) als auch zur Zeit des Paulus (Diskussion um falsche Prophetie) bis heute (Aussagen wie „Der Herr hat mir gesagt …“) Missbrauch von prophetischer Rede stattgefunden hat. Auch deshalb ist diese Stelle so wichtig für uns heute, da „geistlicher Missbrauch“ in vielen Gemeinden und Vergemeinschaftungen nicht gut aufgearbeitet wurde und wird. Dazu gleich noch mal mehr, zunächst zu den Kriterien der Prüfung von prophetischen Eindrücken. Die Prüfung erfolgt im Corpus Paulinicum anhand bestimmter Kriterien:

Kriterium der Lehre: Eine prophetische Aussage muss mit der apostolischen Verkündigung übereinstimmen (vgl. 2Thess 2,15; 1Kor 13,3; 1Joh 4,1–3).

Kriterium der Wirkung: Die prophetische Botschaft soll den Aufbau und die Ermutigung der Gemeinde fördern (vgl. 1Kor 14,3) oder es mit der Jahreslosung zu sagen: „das Gute fördern und behalten“.

Kriterium der Gemeinschaft: Die Prüfung einer prophetischen Aussage soll gemeinschaftlich geschehen, wie unsere Jahreslosung aufzeigt.

In Römer 12,2 wird deutlich, dass das Prüfen mit der Erneuerung des Denkens verbunden ist. Es geht darum, den Willen Gottes zu erkennen und entsprechend zu handeln. Das Prüfen ist nicht nur eine kritische Analyse, sondern auch ein Prozess geistlicher Erneuerung, bei dem der Gläubige Gottes Perspektive einnimmt. Die Verbindung von „prüfen“ und „festhalten“ findet sich auch in der frühchristlichen Tradition und unterstreicht den Wert von getesteten und bewährten Wahrheiten oder Lehren (vgl. Lk 8,15; Hebr 3,6; 10,23).

Das Wirken des Heiligen Geistes & die „prophetische Rede“

Die Betonung auf der Wirkung des Heiligen Geistes ist im Kontext unserer Jahreslosung mehr als klar, „dämpft“ ihn nicht in seinen Gaben und seiner Kraft. Besonders die „prophetische Rede“ steht hier im Fokus, folgen wir Paulus hier, ist der Sinn und Zweck von Prophetie zum einen Erbauung, Ermahnung und Trost für die Menschen in der Gemeinde (1Kor 14,3). Es geht also nicht um Zukunftsvorhersagen, sondern – ganz im Sinne der alttestamentlichen Propheten – um eine Ansage in die Gegenwart. Der Theologe Heinrich Schlier kommt zu dem Ergebnis, dass christliche Prophetie „nicht eigentlich ein Vorhersagen der Zukunft, sondern ein Aufdecken z. B. des verborgenen Herzens und ein Verkündigen des göttlichen Willens … “ ist (Schlier, Römerkommentar). Dabei die „prophetische Rede“ gemäß Röm 12 und 1Kor 12-14 eine Geistesgabe, die aus der Gnade Gottes geschenkt wird und kann nicht verdient werden. Die Gabe kann von Gott erbeten werden und soll, ja muss miteinander geprüft werden. Diese „Unterscheidung der Geister“ hat schon in den ersten Gemeinden eine zentrale Rolle gespielt (1Kor 12,10). Ein gesunder Umgang mit Prophetie erfordert das Bewusstsein, dass prophetische Rede unbewusst von persönlicher psychologischer Verarbeitung beeinflusst sein kann. Ein glaubwürdiger Dienst entsteht durch regelmäßige Selbstprüfung und die Bereitschaft, Korrektur anzunehmen. Gleichzeitig betont Paulus, dass die Möglichkeit von Fehlern kein Grund sein darf, prophetische Gaben nicht auszuüben. Er fordert dazu auf, diese Gabe im Einklang mit dem Glauben einzusetzen (Röm 12,6). Prophetische Rede wird somit nicht im Wissen, vielmehr im Glauben weitergegeben. Es handelt sich hierbei also nicht um eine einmalige Handlung, sondern um eine fortwährende Haltung des Glaubens. Das „Gute“ bei Paulus ist mehr als nur eine einzelne Tat. Es beschreibt eine grundlegende Orientierung des Lebens, die sich auf Christus ausrichtet. Die Botschaft des Evangeliums sowie die Prinzipien der Liebe und Friedfertigkeit sind die Maßstäbe, an denen prophetische Aussagen geprüft werden. Damit fordert Paulus die Gemeinde auf, sich einer Haltung zu verschreiben, die das Gute nicht nur erkennt, sondern es auch aktiv festhält und lebt.

Der Umgang mit Geistesgaben im Kontext der Gemeinde

Paulus fordert die Korinther mehrfach dazu auf, nach den Geistesgaben zu streben (1Kor 12,31; 14,1; 14,39). Geistesgaben gehören zum geistlichen Leben von Christ:innen und zur gesamten Gemeinde, sind jedoch nicht das Wichtigste. Sie machen das Christsein weder „heiliger“ noch dienen sie als Maßstab für die Errettung (1Kor 14). Sie sind ein Geschenk Gottes, der sie nach seinem Willen austeilt (1Kor 12,11). Dennoch ermutigt Paulus die Gläubigen, darum zu bitten (1Kor 14,13). Um einen gesunden Umgang mit den Geistesgaben zu fördern, gibt Paulus Regeln vor und ordnet die Gaben hierarchisch ein. So hat die prophetische Rede Vorrang vor dem Zungengebet, da sie die Gemeinde direkt erbaut und ermutigt. Gleichzeitig betont Paulus, dass alle Gaben zusammengehören und ein Teil des Leibes Christi sind (1Kor 12). Keine Gabe steht für sich allein, sondern trägt zur Einheit und zum Wachstum der Gemeinde bei. Im berühmten „Hohe Lied der Liebe“ (1Kor 13,1–7) setzt Paulus die Geistesgaben in Bezug zur Liebe. Ohne Liebe sind die Gaben bedeutungslos. Sie sind nicht dazu gedacht, Egoismus zu fördern, sondern dienen dem Aufbau der Gemeinschaft. Liebe und Geistesgaben stehen nicht im Widerspruch, sondern ergänzen sich. Der Umgang mit Geistesgaben ist ein Prozess, den man lernen kann. Es braucht Raum, um diese Gaben zu entdecken und im Glauben zu wachsen. Dies gilt sowohl für das persönliche Leben als auch für die Gemeinde. Wachstum im Bereich der Geistesgaben bedeutet, ihre Bedeutung zu verstehen, sie verantwortungsvoll einzusetzen und sich immer von der Liebe leiten zu lassen. So tragen die Geistesgaben dazu bei, den Leib Christi zu stärken und Gottes Wirken sichtbar zu machen.

 

D) Sitz im Leben von 1Thess 5,21: „Prüfet alles“

Jüdisches Verständnis

Die Idee des Prüfens, die Paulus in 1Thess 5,21 betont, hat tiefe Wurzeln in der jüdischen Tradition und insbesondere in der Tora. Deuteronomium 18,21–22 beschreibt die Notwendigkeit, prophetische Aussagen auf ihre Wahrheit und Authentizität hin zu prüfen. Der Test für „echte“ Prophetie bestand darin, ob sie mit Gottes Offenbarung übereinstimmte und ob die Aussagen tatsächlich eintrafen. Dabei bleibt jedoch offen, ob und wie Prophetie überhaupt verifiziert werden kann. Deuteronomium 18 macht deutlich, dass eine Prophetie, die nicht eintrifft, nicht von Gott stammt. Allerdings lässt sich daran keine generelle Regel für die Verifizierung von Prophetie ableiten, da sich viele Prophetien erst im Nachhinein bewerten lassen.

Die Tradition unterscheidet drei Kategorien von Prophetie:

Prophetie, die sich erfüllt hat.

Prophetie, die sich als falsch herausgestellt hat.

Prophetie, über die man noch nicht urteilen kann.

In der Weisheitsliteratur wird das Prüfen als lebenspraktische Übung dargestellt. Weisheit (חָכְמָה) wird dabei nicht nur als theoretische Erkenntnis verstanden, sondern als eine Gabe Gottes, die Menschen befähigt, ein gelingendes Leben zu führen (vgl. Sprüche 4,7–8). Weisheit wird oft personifiziert als weibliche Gestalt, die Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit und Lebensfreude verkörpert (vgl. Sprüche 8). Diese Perspektive betont die persönliche Unterscheidungskraft und die Notwendigkeit, Wahrheit auf das eigene Leben anzuwenden. Auch in der rabbinischen Tradition spielte das Prüfen eine zentrale Rolle. Die Methode des Pilpul, eine scharfsinnige Analyse und Debatte über die Tora, wurde entwickelt, um Lehren und Praktiken zu hinterfragen und das Gute zu bewahren. Mit der Zeit führte jedoch die Exilerfahrung und die Begegnung mit anderen Kulturen zu einer Verhärtung der ursprünglichen Offenheit im Umgang mit Prophetie. Diese Entwicklung spiegelt das menschliche Bedürfnis wider, in unsicheren Zeiten klare Antworten zu finden.

Griechischer Kontext

Paulus schreibt seinen Brief an die junge Gemeinde in Thessalonich, die aus „gottesfürchtigen“ Griech:innen bestand. Die Stadt war geprägt von einer multireligiösen und multikulturellen Umwelt. Paulus‘ Aufforderung, alles zu prüfen und das Gute zu bewahren, bot der Gemeinde eine klare Anleitung, wie sie mit den unterschiedlichen religiösen Einflüssen umgehen konnte. Der Imperativ sollte helfen, inmitten der Unsicherheit und der Vielfalt an Glaubensrichtungen eine geistliche Orientierung zu finden. In der griechischen Philosophie war das Streben nach Weisheit (sophia) ein zentraler Wert, der ebenfalls mit der Fähigkeit zur Unterscheidung verknüpft war. Weisheit galt als Tugend, die es erlaubte, zwischen dem Wahren und dem Falschen zu unterscheiden. Ähnliche Gedanken finden sich auch im Islam, der wie das Judentum die Notwendigkeit betont, Aussagen und Lehren sorgfältig zu prüfen. Konzepte wie Hikmah (Weisheit) und Istikhara (Gebet um Klarheit) spiegeln die paulinische Betonung der geistlichen Unterscheidung wider. 1Thess 5,21 steht in einer reichen Tradition, die das Prüfen als Ausdruck von Weisheit, Unterscheidungskraft und geistlicher Verantwortung versteht. Paulus greift jüdische und griechische Elemente auf und kontextualisiert sie für die junge Gemeinde in Thessalonich. Er ermutigt die Gläubigen, ihre Offenheit mit kritischem Denken zu verbinden, um so in einer komplexen Welt den Willen Gottes zu erkennen und das Gute festzuhalten. Prophetie wird dabei nicht als absolut betrachtet, sondern als eine Gabe, die geprüft und im Licht der göttlichen Weisheit bewertet werden muss.

 

E) Kirchengeschichtliche Perspektiven zu 1Thess 5,21

Frühchristliche Tradition – Die Didache

In der frühen Kirche betonte die Didache (11,8–12) die Notwendigkeit, nicht nur die Worte eines Propheten zu prüfen, sondern auch sein Verhalten und seinen Charakter. Diese Perspektive steht in Übereinstimmung mit der Mahnung Jesu: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,15–20). Die frühe Kirche verstand Prophetie nicht allein als inhaltliche Offenbarung, sondern als Ausdruck eines gelebten Glaubens. Ein Prophet sollte durch sein Leben und seine Taten zeigen, dass seine Botschaft von Gott inspiriert ist.

Augustinus: Geisterunterscheidung für ein sittliches Leben

Augustinus betonte die Bedeutung der Geisterunterscheidung (discretio spirituum) als Teil eines moralischen und geistlichen Lebens. Für ihn war das Prüfen der Geister eine zentrale Übung, um zwischen göttlicher Führung und Täuschung zu unterscheiden. Dies war eng verbunden mit der Suche nach Wahrheit und einem Leben, das sich an christlichen Tugenden orientiert. Augustinus sah die Unterscheidung als notwendigen Schutz vor Irrtümern und als Hilfsmittel zur Heiligung.

Die Reformation: „Prüft alles“ als Grundlage für die Kritik an Traditionen

Die Reformatoren wie Martin Luther griffen 1Thess 5,21 auf, um die Notwendigkeit zu betonen, kirchliche Traditionen und Lehren anhand der Schrift zu prüfen. „Prüft alles“ wurde zu einem zentralen Prinzip der Reformation, das den Anspruch unterstrich, alle kirchlichen Lehren und Praktiken am Maßstab der Bibel zu messen. Dieses Verständnis stellte einen Bruch mit der unkritischen Akzeptanz kirchlicher Autoritäten dar und führte zu einer Rückbesinnung auf das Evangelium als alleinige Grundlage des Glaubens.

Charismatische Bewegungen des 20. Jahrhunderts

Im 20. Jahrhundert griffen charismatische Bewegungen die Idee des „Prüfens von Geistern“ auf, insbesondere in Hinblick auf prophetische Gaben und die Gefahr von Missbrauch. Ziel war es, den Missbrauch geistlicher Autorität zu verhindern und die Echtheit von geistgewirkten Aussagen zu überprüfen. Die Ergebnisse waren jedoch gemischt. Während manche Bewegungen diese Praxis effektiv nutzten, führten andere zu Spaltungen und Misstrauen aufgrund übermäßiger oder fehlender Prüfungen. Aus diesen Erfahrungen lässt sich einiges lernen, dazu später mehr.

 

F) Anwendung: Einfluss auf die Glaubenspraxis in der Gemeinde

Der Imperativ „Prüft alles, behaltet das Gute“ (κατέχετε τὸ καλόν) betont die Gemeinschaft und die Erbauung als zentrale Aspekte in paulinischen ethischen Reflexionen. Paulus fordert die Gläubigen dazu auf, prophetische Aussagen und andere Impulse im Licht des Glaubens kritisch zu prüfen und sich auf das Gute zu konzentrieren. Diese Aufforderung verweist innerbiblisch auf zeitgenössische ethische Herausforderungen und ermutigt dazu, mit Unsicherheiten im Glauben und in der Bibel ähnlich wie mit Weisheit umzugehen:

Mündiges Christsein: Paulus ruft die Gemeinde dazu auf, Verantwortung für die eigene Urteilsbildung zu übernehmen. Glaube ist kein blinder Gehorsam, sondern ein reflektiertes, verantwortungsvolles Handeln.

Ambivalenzen erkennen: Vieles, was auf den ersten Blick eindeutig erscheint, ist es nicht. Der Prüfprozess lädt ein, tiefer zu gehen und zwischen Schein und Substanz zu unterscheiden.

Das Prüfen ist dabei kein destruktiver Prozess, sondern eine Einladung, das Gute und Ermutigende zu erkennen und zu bewahren. In der Ethik und Spiritualität führt dies zu einer Haltung der Offenheit, die jedoch nicht naiv, sondern von göttlicher Weisheit geleitet ist.

Persönliche und gesellschaftliche Relevanz

Die Aufforderung, alles zu prüfen, hat auch in der modernen Lebenswelt große Bedeutung. Wissenschaftliche Schätzungen zeigen, dass Menschen täglich wie eingangs beschrieben zwischen 20.000 und 25.000 Entscheidungen treffen. Nur ein Bruchteil dieser Entscheidungen wird bewusst reflektiert. Der Prüfauftrag der Bibel bietet eine Orientierungshilfe, um in dieser Fülle an Entscheidungen bewusster zu handeln. Paulus lädt dazu ein, sich Zeit zu nehmen, um wahrzunehmen, was wir sehen, hören oder fühlen. Es geht darum, die Vielfalt der Welt zu erkennen, sie zu reflektieren und dann bewusst zu entscheiden, was wir als gut und wertvoll festhalten möchten. Diese differenzierte Betrachtung fördert nicht nur Urteilsfähigkeit, sondern auch Toleranz und Weltoffenheit.

Einfluss auf Ethik und Glaubenspraxis: Freiheit durch Loslassen

Die Aufforderung „Prüft alles, behaltet das Gute“ (1Thess 5,21) ist mehr als eine pragmatische Handlungsanweisung – sie spiegelt einen tiefgreifenden Einfluss auf Ethik und Spiritualität wider. In den paulinischen Schriften spielt die Gemeinschaft und ihre Erbauung eine zentrale Rolle. Glaube ist nie nur individuell, sondern findet immer auch im Miteinander der Gemeinde statt. Paulus betont dabei, dass es nicht darum geht, starr an Traditionen oder Meinungen festzuhalten, sondern den Glauben durch kritisches Prüfen lebendig zu gestalten. Die Aufforderung, das Gute festzuhalten (κατέχετε τὸ καλόν), verweist innerbiblisch auf die Umsetzung zeitgenössischer Aussagen. Sie lädt dazu ein, mit Unklarheiten und Unsicherheiten ähnlich wie mit der Weisheit in der Hebräischen Bibel umzugehen. Wie Weisheit fordert der Prüfauftrag eine mündige Haltung – ein Christsein, das Verantwortung für die eigene Urteilsbildung übernimmt. Vieles, was auf den ersten Blick eindeutig scheint, ist es in Wahrheit nicht. Es bedarf der Unterscheidungskraft, die durch Gottes Geist geleitet wird. Dieser Prozess des Prüfens ist nicht destruktiv. Es geht nicht darum, zu zerstören oder bloßzustellen, sondern darum, das Gute und Ermutigende im Glauben zu erkennen und zu bewahren. Es ist eine Einladung zur geistlichen Freiheit, die uns erlaubt, Altlasten loszulassen und uns auf das zu konzentrieren, was für unser Leben und unseren Glauben essenziell ist. Das bewusste Prüfen und Loslassen hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Ethik und Spiritualität. Es fördert nicht nur persönliche Reife, sondern auch eine stärkere Verbundenheit mit Gott und der Gemeinschaft. Indem wir offen und zugleich kritisch mit unserem Glauben umgehen, schaffen wir Raum für das Wirken des Heiligen Geistes und vertiefen unsere Beziehung zu Christus, der uns zur Freiheit berufen hat (Gal 5,1). So wird der Prüfprozess zu einem Weg, der uns in unserer ethischen Orientierung und geistlichen Reife stärkt.

Heiliger Geist – Das Aschenbrödel der Trinität?

Es kann an dieser Stelle nicht eine Dogmatik des Heiligen Geistes erstellt werden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass der Geist Gottes im durchschnittlich protestantischen Glauben eher eine unterdurchschnittliche Rolle spielt oder wie es der Theologe Allister McGrath sagt: „Der Heilige Geist war lange Zeit das Aschenbrödel der Trinität. Die anderen beiden Schwestern sind zum theologischen Ball gegangen, der Heilige Geist mußte immer zu Hause bleiben.“(Der Weg der christlichen Theologie, 289). Dabei ist der Heilige Geist der Atem Gottes, ohne den es kein geistliches Leben gibt. Er ist die Lebenskraft, die alle Christinnen und Christen der Welt eint und gleichzeitig für eine unglaubliche Kreativität, Vielfalt und Verschiedenheit steht. Ein Geist, viele Gaben (1Kor 12,28-31; Eph 4,11); ein Geist viele Ämter (1Kor 12, 8-12, Eph 4, Röm 12) und aus dem allen eine Frucht des Geistes (Gal 5,22+23). Aber vielleicht macht uns genau diese Ambivalenz zwischen Einheit und Vielfalt und manchmal Angst, die uns hindert, uns darauf einzulassen. Aber der Heilige Geist will das Gute in unserem Leben, auch wenn wir Menschen es oftmals nicht wollen und nach Macht durch Missbrauch streben. Deshalb soll nun einmal kritisch auf möglichen geistlichen Missbrauch geschaut werden.

Wider den geistlichen Missbrauch

Wie gesehen spielt das „Prüfen“ eine zentrale Rolle in unserer Jahreslosung, dies ist auch deshalb so wichtig, da es viel Missbrauch – auch im Namen des Heiligen Geistes – gab und gibt und genau dieses gemeinsame Prüfen zu wenig Beachtung findet. Paulus betont besonders den Gegensatz von „Gut und Böse“, sozusagen als geistliche Antithese. Deshalb möchte ich auch darauf einen Fokus werfen. Geistlicher Missbrauch beschreibt die Ausübung von Macht und Kontrolle durch eine Person, die ihre Autorität im gemeindlichen Kontext missbraucht, um andere emotional, psychisch oder geistlich zu manipulieren und zu schädigen. Dies geschieht häufig durch fehlerhafte oder bewusste Interpretationen prophetischer Rede oder den Missbrauch der Autorität des Heiligen Geistes, der Gehorsam und Unterordnung erzwingen und Abhängigkeiten schaffen will. Die Auswirkungen auf Betroffene sind gravierend: Sie reichen von psychischen Verletzungen und Traumata bis hin zu einem Vertrauensverlust in Gemeinde und Glauben. Geistlicher Missbrauch kann sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen, wobei er oft schwer erkennbar ist, da er häufig als Fürsorge oder geistliches Wohlwollen getarnt wird. Betroffene haben Schwierigkeiten, den Missbrauch zu benennen, da sie mit Selbstzweifeln und Glaubensfragen kämpfen wie: „Ist das Gottes Wille?“ oder „Wer bin ich, das infrage zu stellen?“. Dies zeigt, wie tief verwurzelte Hierarchien und Denkweisen diesen Missbrauch begünstigen und seine Komplexität verstärken.

Merkmale geistlichen Missbrauchs

Geistlicher Missbrauch äußert sich in verschiedenen Formen, die häufig auf Kontrolle und Manipulation abzielen:

Manipulation durch biblische Lehren: Biblische Inhalte werden missbraucht, um Verhaltensweisen durch Angst, Schuldgefühle oder Scham zu kontrollieren. Autoritäre Theologien, die unkritischen Gehorsam gegenüber Leitern fordern, sind dabei besonders verbreitet.

Kontrolle über persönliche Entscheidungen: Geistliche Autoritäten beeinflussen wichtige Lebensentscheidungen, z. B. in den Bereichen Partnerschaft, Sexualität oder Berufung, indem sie göttliche Weisheit für sich allein beanspruchen. Dies schränkt die Selbstständigkeit der Betroffenen ein.

Erzeugung von Angst und Schuld: Drohungen mit göttlicher Strafe oder Verdammnis werden eingesetzt, um Druck auszuüben und Kontrolle zu behalten. Betroffene bleiben oft aus Angst in der Gemeinschaft.

Isolation von der Außenwelt: Mitglieder werden von Außenstehenden abgeschottet, um die Kontrolle und ein dualistisches Weltbild (gut vs. böse) aufrechtzuerhalten. Weltliche Gerichte oder externe Meinungen werden als schädlich abgelehnt.

Verweigerung professioneller Hilfe: Betroffenen wird oft geraten, psychische oder gesundheitliche Probleme ausschließlich durch Gebet oder spirituelle Disziplin zu bewältigen, was die Situation verschlimmern kann.

Überwachung und Machtmissbrauch: Geistliche Autoritäten nutzen ihre Position, um das Leben anderer übermäßig zu kontrollieren. Narzisstische Persönlichkeiten in Leitungspositionen verwechseln ihre Macht mit göttlicher Autorität.

Geistlicher Missbrauch kombiniert häufig mehrere dieser Merkmale und führt zu einer tiefgreifenden Einschränkung von persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung.

Wer sich mit geistlichen Missbrauch (auch im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt) auseinandersetzen möchte, dem sei der Podcast Heaven Bent empfohlen, über den Missbrauchskandal  im Kansas House of Prayer, aber Vorsicht, harter Stoff:

Präventionsstrategien und Schutzfaktoren gegen geistlichen Missbrauch

Angesichts der schädlichen Auswirkungen von geistlichem Missbrauch sind präventive Maßnahmen und Unterstützungsstrukturen von entscheidender Bedeutung, sowohl für Betroffene als auch für ganze Gemeinden. Dabei ist es, wie Paulus es schreibt, Aufgabe der ganzen Gemeinde und nicht die Aufgabe einzelner Leitungspersonen:

Transparente Leitungsstrukturen: Gemeinden sollten transparente und partizipative Führungsstrukturen schaffen, bei denen die Macht nicht in den Händen einzelner Personen liegt. Leitende müssen Rechenschaft ablegen und für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden. Dies gilt besonders für die Auslegung und Interpretation von prophetischer Lehre.

Bildung und Aufklärung: Ein wichtiger Präventionsansatz ist die Bildung der Gemeindemitglieder. Durch Aufklärung über die Gefahren autoritärer Strukturen und die Förderung eines gesunden, reflektierten Glaubens werden Gemeinden widerstandsfähiger gegenüber Missbrauch. Dies umfasst Predigten und Schulungen in der Gemeinde.

Sicherheitsmechanismen und Beschwerdeverfahren: Es sollten klare, unabhängige Mechanismen zur Meldung von Missbrauchsverdachtsfällen existieren. Diese Verfahren sollten von der Leitung der Gemeinde unabhängig sein, um Transparenz und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Neutrale Ansprechpartner:innen sind notwendig.

Seelsorge und psychologische Unterstützung: Für die Opfer geistlichen Missbrauchs ist der Zugang zu professioneller Seelsorge und psychologischer Unterstützung entscheidend, um die erlittenen Schäden zu verarbeiten und ihre spirituelle sowie emotionale Gesundheit wiederherzustellen.

Mündigen Glauben fördern: Ein mündiger Glaube, der Zweifel zulässt und offen für unterschiedliche Meinungen ist, dient als Schutzfaktor. Es müssen sichere Räume geschaffen werden, in denen offen über Glauben, Zweifel und persönliche Erfahrungen gesprochen werden kann. Ein solcher Glaube entwickelt sich nicht nur durch den Gottesdienst, sondern auch durch Freiraum zur persönlichen Entfaltung.

Kooperationen und Vielfalt fördern: Der Umgang mit unterschiedlichen ethischen, theologischen und politischen Meinungen fördert Toleranz und Ambiguitätstoleranz. Die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen, Gemeinden und lokalen Vereinen, wie Sportvereinen oder der Feuerwehr, trägt zur Stärkung dieser Kultur der Vielfalt und Zusammenarbeit bei.

Diese Maßnahmen helfen dabei, den geistlichen Missbrauch zu verhindern und eine gesunde, unterstützende und respektvolle Gemeindekultur zu fördern. Geistlicher Missbrauch ist ein schwerwiegendes Problem, das tiefgreifende Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Die Aufgabe der ganzen Gemeinden ist es, Strukturen zu schaffen, die Machtmissbrauch verhindern und einen Glauben zu fördern, der Resilienz und Mündigkeit unterstützt. Nur so kann der Glaube in der Kraft des Heiligen Geistes lebendig und gesund bleiben. Dazu müssen vielleicht auch alte Muster des eigenen Glaubens und der Gemeinde überdacht und losgelassen werden.

Hilfestellungen für Präventionen. 

Freiheit durch Loslassen: Ein befreiter Glaube

Es gibt Zeiten im Leben, in denen wir eingeladen sind, loszulassen. Das Ablegen alter Gewissheiten und Traditionen kann uns herausfordern, doch es eröffnet zugleich einen Freiraum, in dem Neues entstehen darf. Dieser Prozess des Loslassens ist nicht zwangsläufig ein Bruch mit der Vergangenheit, sondern vielmehr eine Haltung, die uns zur Freiheit führt. Im Galaterbrief schreibt Paulus: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ (Gal 5,1). Diese Worte erinnern uns daran, dass der christliche Glaube kein starres Regelwerk ist, sondern ein Leben in der Freiheit Christi. Diese Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern die Fähigkeit, Überzeugungen und Traditionen zu prüfen und bewusst zu entscheiden, was wir beibehalten und was wir hinter uns lassen. Es geht um eine innere Haltung, die offen ist für Veränderung und doch tief verwurzelt bleibt in Gottes Liebe. Welche Überzeugungen und Traditionen schleppen wir mit uns als emotionalen oder geistlichen Ballast? Vielleicht tragen wir Ansichten mit uns, die uns nicht mehr guttun, die uns festhalten, anstatt uns freizusetzen. Befreiter Glaube braucht Freiraum zum Atmen. Er lädt uns ein, uns von dem zu trennen, was uns beschwert, und uns auf das zu konzentrieren, was unser Leben bereichert und unseren Glauben stärkt. Das Loslassen erfordert Mut, denn es bedeutet, Altbekanntes aufzugeben, ohne die Garantie für etwas Besseres zu haben. Doch dieser Schritt ermöglicht es uns, Gottes Wirken neu zu erfahren. In der Haltung des Prüfens und Loslassens entdecken wir die Freiheit, die Christus uns schenkt – eine Freiheit, die nicht nur das Herz leichter macht, sondern auch den Glauben lebendiger. Freiheit im Glauben heißt: Raum schaffen für Neues, offen sein für Gottes überraschendes Wirken und dankbar das Gute bewahren. So kann unser Glaube wachsen und gedeihen – frei, lebendig und voller Vertrauen.

 

Danke an Christian Hilbrands für alle Unterstützung.

 

Literatur zur Vertiefung:

Traugott Holtz/Wolfgang Trilling (2014) Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, EKK, Bd.14, Der erste Brief an die Thessalonicher. Studienausgabe. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag.

Susanne Luther und Michael Domsgen (2024) 1. Thessalonicher 5,21 | Jahreslosung 2025, https://www.die-bibel.de/ressourcen/efp/reihe1/jahreslosung-1-thessalonicher-5, abgelesen am 20. Dezember 2024.

Stefan Schreiber (2014): Der erste Brief an die Thessalonicher (ÖTK 13/1), Gütersloh 2014.

Tobias Faix, Martin Hofmann & Tobias Künkler (2015) Warum wir mündig glauben dürfen: Wege zu einem widerstandsfähigen Glaubensleben. SCM Verlag.

Inge Tempelmann (2024) Religiöser Missbrauch: Auswege aus frommer Gewalt – Ein Handbuch für Betroffene und Berater. SCM Verlag.

Stephanie Butenkemper (2023) Toxische Gemeinschaften: Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen. Herder Verlag.

 

Bild: melitas

Rechte: Thoms Verlag

4 Comments

  1. Lieber Tobias, sehr differenziert, reich und tiefschürfend… Danke. Besonders die Situation der Komplexität und dem daraus sich zwingend ergebenden Orientierungsauftrag, sind deutlich herausgearbeitet. Ich hätte da noch einen Vorschlag, der das duale „gut-schlecht“-Schema auflöst in ein komplexeres (mit spannungsvollen Widersprüchen, die sich gegenseitig balanchierend im „Gut-Feld“ halten… das Wertequadrat von Schulz von Thun. … Wir haben dieses Modell für die „Prüfaufgabe“ unserer Gemeinde als gemeinschaftliches Orientierungssystem 2015 eingeführt und ausprobiert. Wenn du magst, hier zum Nachlesen: https://nuperspective.de/products/der-metamoderne-gemeindekompass-neue-wege-zur-balance-bei-werte-konflikten/

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