„Lass mich dich lernen, Dein Denken und Sprechen, Dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich Dir zu überliefern habe.“ Klaus Hemmerle
Spannungsfelder von Kirche im Reformstress
Wir leben in herausfordernden Zeiten, in denen die gesellschaftlichen Transformationsprozesse sich direkt auf unsere Kirchen und ihre Gemeinden auswirken. Religiöser Pluralismus, christlicher Traditionsabbruch oder eine neue spirituelle Suche außerhalb der institutionellen Kirchen sind nur ein paar der Stichworte, die viele Kirchengemeinden in einen inneren Reformstress bringen. Dabei steht Kirche in verschiedenen Spannungsfeldern, die zusammengehören und nicht einseitig auflösbar sind, einige will ich zu Beginn skizzieren, weil sich Spiritualität genau in diesen Spannungsfeldern bewegt:
Normativität und Devianz – In der evangelischen Kirche und faktisch ähnlich in den meisten Freikirchen hat sich über Jahrzehnte eine gewisse organisatorische Routine und Normalität in Rollen und Strukturen verfestigt, die immer wieder Sonderfälle zulässt, die aber eine Devianz, eine Abweichung von der Norm, darstellen. Die Aufgabe der Zukunft wird sein, zu hinterfragen, was Norm und was Devianz ist. Und sich wie beides zueinander verhält.
Tradition und Innovation – Innovation entsteht oftmals aus einer Tradition heraus, so dass beides in einer inneren Spannung zwischen Nähe und Distanz steht. Wie können aus der bisherigen Tradition Räume entstehen, die Innovation zulassen? Und was steht dieser Entwicklung entgegen?
Empirie und Ekklesiologie – Die empirische Wirklichkeit drückt zum Beispiel in Form von Kirchenaustritten massiv auf Kirche und ihre einzelnen Gemeinden. Wo müssen wir die Spannung zur theologischen Reflexion gegenüber der Empirie hochhalten?
Verfall und Wandel – Sprache und Apokalyptik. Manchmal kommt es einem vor, als ob Kirche auch gewisse Untergangsszenarien liebt. Deshalb ist es klug, auch in Stresszeiten auf die eigene Sprache zu achten und zu reflektieren, welchem größeren Narrativ gefolgt wird.
Diese Spannungen fordern Kirche heraus, sowohl nach innen, wenn es um Strukturen, Ehrenamt oder Ressourcenverteilung geht als auch nach außen, wenn es um die Sprachfähigkeit des eigenen Glaubens, die Anbindung an den eigenen Stadtteil oder die Kirche als traditionsreiche Institution geht. Auch Transformationen stressen – Menschen und Gemeinden. Ja, auch Organisationen können im Stress sein, denn der Umbau der Kirche geschieht bei voller Fahrt. Während das Bisherige weiter läuft, soll es zum einen gleichzeitig reflektiert und hinterfragt werden und zum anderen soll darüber hinaus das Neue gedacht und geplant werden. Nicht viele fühlen sich genau davon zerrissen und denken: Wie soll das gehen? Habe ich nicht genug zu tun? Anderen geht die Erneuerung nicht schnell und konsequent genug. Beides hat seinen Platz in der Kirche.
Diese Fragen sind ernst zu nehmen und sie sind zugleich Teil einer größeren Frage, der wir in diesem Text nachgehen wollen: Gibt es eine Spiritualität der Veränderung? Wie sehen die geistliche Begleitung und Durchführung eines Reformprozesses in den verschiedenen Ebenen aus? Damit meine ich das Ganze, also von den beteiligten Menschen über die Organisationsformen und angewandten Methoden bis hin zur Haltung, mit der dieser lange Prozess durchgeführt wird. Bei all diesem „Organisationsstress“, den Kirche erlebt, wünschen sich viele eine neue Orientierung und Priorisierung gegenüber der eigenen Tradition und Spiritualität.
Ein „neuer Geist“ darf, ja soll in der alten Organisation von Kirche wehen und das gleich doppelt: in der Beziehungsentwicklung nach innen zum Heiligen und nach außen zu den Menschen in ihren vielfältigen Lebenssituationen. Ich gehe also von einer doppelten Logik oder einem doppelten Blick aus: Organisational und geistlich/spirituell. Diese Logik ist nicht dual zu verstehen, sondern integral: Es sollen also gerade die organisationalen Prozesse geistlich verstanden werden und genauso gilt umgekehrt, dass die geistlichen Prozesse Teil der organisationalen sind.
Gleichzeitig sind sie in ihrer methodischen Durchführung zu unterscheiden: Das Ziel ist die geistliche Mündigkeit der beteiligten Menschen für die kirchliche Transformation. Sie sollen in ihrer Haltung und in ihrer spirituellen Sichtweise gestärkt werden. Darüber hinaus ist die Organisation Kirche auch Bewegung und braucht in ihrem Reformprozess spirituelle Ankerpunkte, an denen sie sich in großen Reformbewegungen orientieren kann und Halt findet. (Vertiefender Erfahrungsbericht zum Thema: „Gemeinde im Burnout“)
Spiritualität der Veränderung als gemeinsamer Entdeckungsprozess. Dreifach Hören lernen
Kirche hört Menschen zu, was sie bewegt, was sie über Kirche denken und was ihre Hoffnungen und Bedenken sind. Diese Rolle der „Hörenden“ ist für viele Kirchen neu und auch eine Herausforderung, denn Kirche ist oftmals in der Rolle der „Machenden“, der „Helfenden“, ja der „Sprechenden“. Dies ist auch gut und eine wichtige Aufgabe von Kirche, aber dabei darf das Hören nicht verloren gehen. Hören als aktives Wahrnehmen bedeutet ruhig zu werden, sich neu zu orientieren, Kraft zu schöpfen, sich auf Gott neu auszurichten. Gerade in Zeiten von Veränderungsprozessen und Reformstress ist dies besonders wichtig. Wenn ich von „Hören“ rede (inspiriert von Andreas Kusch), dann meine ich ein dreifaches:
Auf die Menschen hören: Was denken sie über Kirche? Welche Bedenken oder Ängste haben sie? Welche Hoffnungen und Erwartungen?
Auf die Umwelt hören:Was sind die gesellschaftlichen Transformationen, worauf muss Kirche reagieren? Was haben die Krisen der Gesellschaft für Auswirkungen auf Kirche? etc.
Auf Gott hören:Wo spricht Gott durch seinen Geist zu uns, vielleicht durch a) und b), aber auch in einer besonderen Achtung mit Raum und Zeit für dieses Hören. Nicht nebenbei, sondern mit Freiräumen und Sorgfalt.
Es geht beim Hören lernen also nicht um eine geistliche Begleitung organisatorischer Prozesse und auch nicht um eine geistliche Auswertung von Ergebnissen, sondern es geht um einen geistlichen Prozess insgesamt. Ein Hören auf allen Ebenen, hier zusammengefasst in Sinn, Beziehung und Leistung.
Die Sinndimension.Jede Organisation hat eine eigene DNA, ein Identitätsbewusstsein aus Werten, Normen, Visionen und Zielvorstellungen. Diese normative Sinnsetzung bildet das Zentrum einer Organisation. Sie wird in der Wirtschaft in einer Corporate Identity zusammengefasst. Kirche ist eine lebendige Organisation und der Geist Gottes ist das Element, das die Organisation lebendig macht (Apg. 1,8). Der Geist Gottes macht den Unterschied und den Sinn von Kirche aus und macht somit den zentralen Unterschied zu anderen Organisationen aus, die von ihrer Struktur vielleicht sogar ähnlich aufgebaut sind. Auch deshalb ist Kirche neben Organisation und Institution immer auch Bewegung (Hauschild/Pohl-Patalong).
Die Beziehungsdimension.In einer Organisation kommunizieren und arbeiten Menschen auf unterschiedlichsten Hierarchiestufen miteinander. Kommunikation, Strukturen, Leitung und Führung sind deshalb zentrale Elemente innerhalb einer Organisationsstruktur. In der Kirche gibt es zusätzlich den Geist Gottes, der auf alle – unabhängig ihrer Position oder Funktion – gleichermaßen ausgegossen ist und alle miteinander verbindet.
Die Leistungsdimension.Eine Organisation hat immer eine finale Zielsetzung, die durch Handlungen und Aktivitäten der Mitarbeitenden erreicht werden soll. Bei uns als Kirche ist es die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat, wie wir sie in den sechs Grundaufgaben von Kirche beschrieben haben.
Nehmen wir diese zwei mal drei Ebenen, dann geben sie uns ein gutes erstes Bild von dem, was wir unter spiritueller Transformation und organisationale Achtsamkeit verstehen.
(ausführlich Franz Meures: „Was ist ein geistlicher Prozess?“, midi)
Organisationale Achtsamkeit einüben
Eine Grundfrage in Transformationen lautet: Können auch soziale Systeme Anzeichen von Erschöpfung zeigen, erkranken oder ausbrennen? Wenn ja, was bedeutet dies für die Kirche als Organisation? Jede Organisationsstruktur steht mit den äußeren (gesellschaftlichen) Veränderungsprozessen (externer Systemstress) und den inneren Kommunikationsprozessen (interner Ressourcenstress) in ständigen Herausforderungen. In diesen Herausforderungen kann Unaufmerksamkeit zu Unverbundenheit und zu einem Ungleichgewicht im System führen, was dann zwangsläufig zu einem Unwohlsein führt. So entstehen, verkürzt gesagt, gestresste Organisationen.
Das, was hier so technisch klingt, erleben meiner Beobachtung nach tatsächlich viele Gemeinden. Sie merken, dass die gesellschaftlichen Transformationen (Pluralisierung, Individualisierung, Privatisierung des Glaubens, Säkularisierung und Traditionsabbruch des Glaubens und der Sprache etc.) große Auswirkungen auf das Gemeindeleben haben und dass Formate, die über Jahrzehnte gut funktioniert haben, plötzlich weitgehend ins Leere laufen. Dies bringt die verschiedenen Gruppen der Gemeinde unter Stress, den Hauptamtlichen fehlen die Erfolge, die motivierten Ehrenamtlichen verlieren Stück für Stück ihre Motivation, die Leitung hinterfragt finanzielle Zuschüsse für die Arbeit, was wieder die Verantwortlichen für einzelne Kreise in ihrer geistlichen Haltung verletzt. Diese kleinen Beispiele können beliebig fortgesetzt werden. Jetzt steigt parallel dazu das innere Stresslevel, wenn weniger miteinander kommuniziert und mehr übereinander geredet wird. Das System des Unwohlseins beginnt auf allen Ebenen zu greifen.
Da Gemeinde natürlich ein geistlicher Ort ist und alle Beteiligten Christ:innen sind, spiegeln die unterschiedlichen geistlichen Deutungen des ganzen Prozesses einen weiteren Stressfaktor wider. Gleichzeitig liegt darin auch ein großer Reichtum und die Chance einer gemeinsamen geistlichen Deutungsgemeinschaft. Denn geistliche Vitalität, organisatorische Strukturen und sozialer Wandel bedingen und beeinflussen einander. Außerdem gibt es Dialogpartner*innen, die in einer inneren Spannung stehen, wie beispielsweise:
Organismus und Organisation
Beziehungen und Programm
Herzensverbindung und Mitgliedschaft
geistliche Bewegung und organisatorische Strukturen
Ich schreibe bewusst „und“ und nicht „versus“, da ich glaube, dass immer beides zusammengehört. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, immer wieder die Verbindung zu überprüfen und darauf zu achten, wo wir einseitig geworden sind, wo unsere blinden Flecke sind und wo die sozialen Transformationen uns in eine Richtung geschoben haben. Kirche in all ihren Ebenen ist und muss eine lernende Organisation sein, die sich ihrer Tradition bewusst ist und diese aktiv gestaltet.
Der tschechische Theologe Tomáš Halík hat es mal prägnant auf den Punkt gebracht, als er schrieb: „Die Bewahrung der Tradition ist ein schöpferischer Akt.“ Wir müssen uns aus der eigenen Tradition heraus erneuern. Kein einfaches Unterfangen, aber darin stehen wir, wie übrigens jede andere Organisation in Deutschland, nicht allein.
Einen Punkt möchte ich dabei herausheben, den ich für wichtig und oftmals unterbewertet halte:Veränderungsprozesse sind immer auch Verlernprozesse. Verlernprozesse beschreiben die Notwendigkeit, unsere eigene Tradition mit unserem Denken und Fühlen zu hinterfragen und uns von manchem Liebgewonnenen zu distanzieren, um wieder Raum für Neues zu bekommen. Denn wir neigen alle dazu, die eigene Tradition, Geschichte, Erfahrung als das Wichtigste anzusehen und beurteilen das Neue aus der eigenen biographischen Voraussetzung.
Fragen zum Vertiefen und Anwenden:
Welche Spannungsfelder sind in deiner Kirche gerade besonders zu spüren?
Was bedeutet „organisationale Achtsamkeit“ für unsere Kirche und Gemeinde in der aktuellen Situation?
Wo können wir gemeinsam unsere Stresspunkte identifizieren, um ein „Burnout“ zu vermeiden?
Wo müssen wir neu Hören lernen (welche der drei Dimensionen?) und wie könnten wir damit konkret anfangen?
Wo sehe ich oder wir Möglichkeiten eine gemeinsame geistlichen Deutungsgemeinschaft einzuüben?
Recap: „Spiritualität der Veränderung“
Teil 1/6: „Aufbruch ohne Landkarte“
Teil 2/6: „Exnovation – oder vom würdevollen Sterben.“
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