“Mehr Wut bitte! 2010 – ein Rückblick”

Politik

In den verschiedenen Jahresrückblicken spielt das Wort des Jahres „Wutbürger“ eine zentrale Rolle und es herrscht allgemeine Verwunderung darüber, dass Bürger wieder (sic!) gegen was sind. Ich denke, dass es nicht genug Wut und ich mir für das neue Jahr mehr wütende Bürger wünsche. Aber bleiben wir erstmal beim Jahr 2010:
Nun ja, es war wohl nicht immer Wut, manchmal war es auch Raffgier oder Frustration, aber die Rücktrittsdichte der Politiker 2010 war so hoch wie noch nie. Auffallend dabei war sicherlich, dass es im Volk dabei kaum Wut gab. Als vor ein paar Jahren Lafontaine von allen politischen Ämtern zurücktrat wurde sein Haus für Tage belagert und er als „Landesverräter“ gebrandmarkt und bis heute nicht rehabilitiert. Jetzt treten die Politiker reihenweise zurück und das Volk quittiert es mit einem Achselzucken, immer nach dem Motto: Der Nächste wird es auch nicht besser machen. Also geh. Aber genau diese Lethargie bringt die Demokratie in Bedrängnis und selbstgefällige Politiker wie Roland Koch sind die Brandstifter dafür. Wer stolz erzählt, dass sein Rücktritt von langer Hand geplant war, also vor der letzten Hessenwahl, der betrügt die Wählerinnen und Wähler und muss sich nicht wundern, wenn das Vertrauen in die Politik nachlässt. Da nützt es auch nichts, wenn das Bildungsbürgertum im Schwabenland ihre gefühlte Ohnmacht gegenüber der Politik im neuen Bahnhof kanalisieren und aufgebracht auf die Straße gehen. Sicher, ein guter Schritt, aber die Wut muss die treffen, die es verdienen und die verteidigen, die es wirklich brauchen. Denn nur auf die Straße gehen, wenn es um meine eigenen Belange geht, reicht für eine Solidargemeinschaft nicht aus. Schon gar nicht, wenn es darum geht auf die Schwächsten der Gesellschaft draufzuhauen und da sind wir schon beim Wutbuch des Jahres und da kann es ja nur eines geben mit dem programmatischen Titel „Deutschland schafft sich ab“ vom Didi Hallervorden der Politik: Thilo Sarrazin. Er hat das anstrengende Buch des Jahres 2010 geschrieben und ich habe mich durch alle seine wilden Thesen und Statistiken durchquälen müssen. Sein Buch über einige „Problemviertel Berlins“ enthält eben für diese einige Wahrheiten, vor denen man nicht die Augen verschießen sollte. Aber die Grundmotive des Buches sind weder zu tolerieren noch zu entschuldigen. Das Spiel mit der Angst hat in der Geschichte schon oft funktioniert und Sarrazin macht es sich schamlos zu nutze, immer nach dem Motto: „Palim Palim, der Moslem, der ist schlimm“. Dazu einen guten Schuss Darwinismus, ein paar schöne Statistiken, die die eigenen Thesen untermauern und schon ist der Trunk der angstbesessenen Fremdenfeindlichkeit fertig, der rechtfertigt dass die Starken die Schwachen „fressen“. Natürlich hat Herr Sarrazin das alles nicht so gemeint und natürlich wollte er konstruktiv auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hinweisen und natürlich hat es so die breit zustimmende Bevölkerung auch verstanden. Nur eben ich nicht und ich habe eine Wut auf das Wutbuch des Jahres und zwei Dinge müssen da noch gesagt werden. In den letzten Jahren gab es viele Diskussionen um die immer mehr „verhärtenden“ Milieus in Deutschland. Bei der „Sarrazindiskussion“ gab es plötzlich milieuübergreifende Koalitionen, die vorher scheinbar kaum denkbar gewesen waren. Da hat sich das Bildungsbürgertum mit dem Stammtischen der Welt gegen die nicht integrierte muslimische Masse verbündet. Na, das ist ja auch was. Was mich allerdings am meisten gewundert hat, war die latente Zustimmung von vielen Christinnen und Christen zu Sarrazins Thesen. Natürlich nicht so laut, aber es war schon verwunderlich, dass ausgerechnet christliche Kreationisten mit Sarrazins darwinistische Thesen sympathisieren. Aber lassen wir das und wenden uns der Wut an sich zu. Wir brauchen mehr Wut, mehr Wut gegen die schleichende Ungerechtigkeit, an die wir uns schon zu lange gewöhnt haben. An die Ungerechtigkeit, die wir im Alltag nicht mehr sehen, weil sie ein Teil von uns selbst geworden ist. Beim Einkaufen, in der Nachbarschaft und in der Politik. Hier wünsche ich mir mehr Wut, die nicht unkontrolliert das Eigene sucht, sondern sich solidarisch für die einsetzt, die im Jahr 2011 Beistand, Gemeinschaft und Hilfe brauchen. Das ist für mich eine große Herausforderung, an der ich vielleicht auch im nächsten Jahr scheitern werde und auch das macht mich jetzt schon wieder wütend…

Jahreslosung 2011:
“Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.” (Römer 12,21)

4 Comments

  1. Leider blieb das “Sparpaket” dieses Jahr komplett Wutlos unbeachtet…oder die Wut, dass die Asse vom Steuerzahler saniert wird, vermisse ich auch noch (und somit die big four Energiekonzerne die am Besten subventionierte Energie produzieren dürfen aber Handelsblatt etc sich auf die Solarenergie einschiessen)…oder die Wut auf die scheinbar unbegründet steigenden Strompreise….Oder Wut über die Gesundheits”reform”…. wenn Wut, dann hätte ich gerne ein bisschen mehr davon
    Um es mit Volker Pispers zu sagen: Was denken Sie was hier los wäre, wenn mehr Leute mitbekommen würden was hier los ist?

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  2. Anonymous

    Toleranz… Gleichgültigkeit… Gruppenzwang… Politikverdrossenheit… Resignation… Toleranz… Toleranz…

    …verwischen und löschen eine mögliche “heilige Wut”.
    Traurig!

    Eine ewige Herausforderung.
    Bleibt zu hoffen, dass Menschen aufwachen durch aufrüttelnde (Welt-)Geschehnisse und Christen den Mut haben, Profil zu zeigen und sich nicht aus Angst, Beliebtheitspunkte zu verlieren, hinter undeutlichen Aussagen und möglichst geschickt diplomatischen Standpunkten zu verkriechen.
    Da muss ich bei mir anfangen…
    angie

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