Ein Ergebnis der Studie „Spiritualität bei Jugendlichen“ beschäftigt mich immer wieder und ergab auch gestern große Diskussionen nach einem Vortrag von mir. Für viele Jugendlichen ist ihr Glaube in einer postsäkularen Welt oftmals eine subjektive Grenzerfahrung, in der bisherige traditionelle und konfessionelle Grenzen überschritten werden. Die eigenen Glaubenskonstruktionen sind individuell und werden subjektiv und anhand eigener Erfahrungen zusammengestellt. Dies zeigt sich vor allem daran, wie Jugendliche über ihre Glauben reden und dass sie traditionelle Glaubensbegriffe inhaltlich ganz anders füllen. Bildlich gesprochen könnte man von einem „Schengener Abkommen des Glaubens“ reden: (Das „Schengener Abkommen“ ist das Abkommen der EU, das die Öffnung der Grenzen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten garantiert). Die bisherigen Grenzen von Glauben, Konfessionen, gesellschaftlichen Normen und Traditionen werden aufgelöst, man geht neue Wege und damit entstehen ganz neue Identitäten des Glaubens. Dies lässt sich an zwei wesentlichen Punkten fest machen:
1. Es gibt kaum inhaltlichen Bezug zu den traditionellen konfessionellen Glaubenssätzen der Kirchen/Gemeinden und
2. kaum Anbindung an die institutionellen Kirchen/Gemeinden, die traditionell für Ersteres verantwortlich waren.
Diese Grenzüberschreitungen empfinden die Jugendlichen selbst meist als normal und stimmig. Sie wissen, was sie glauben, und können es auch selbstständig ausdrücken, tun es aber zumeist nur in einem geschützten Rahmen. Problematisch wird es, wenn sie im Kontext der Jugendarbeit auf Begriffe stoßen, die sie zwar kennen, aber ganz anders füllen. So kommt es nicht selten zu Verständnis- und Kommunikationsproblemen. Jugendliche glauben deshalb nicht weniger, sondern sogar mehr aber vor allem anders. Ich finde, dass dies eine der spannendsten Fragen ist, die Semantik der Jugendlichen zu verstehen und dadurch selbst neu sprachfähig im Glauben zu werden. Aber es ist auch eine große Herausforderung und gar nicht so einfach…
Nun, wie sollen die Jugendlichen auch zu einer Wertschätzung “traditioneller, konfessioneller Glaubenssätze” gelangen, solange wir ihre “individuelle Spiritualität lediglich in religions-psychologisch deskriptiven “Studien” behandeln?
p.s.
Deskriptive Religionspsychologie vermittelt nämlich genau das:
Die absolute Gültigkeit der aus dem eigenen Erleben entstehenden Deutung.
naja, jetzt verwechselst du glaub ich was: Eine empirische Erhebung versucht, so objektiv wie möglich, die Glaubenswirklich der Jugendliche abzubilden. Das Ergebnis spielt ja nur eine untergeordnete Rolle…
Deswegen “deskriptiv”: Die Studien bilden ab und beschreiben – und transportieren dadurch die Botschaft, es gebe mehrere, besser: viele, auch gern widersprüchliche, einander ausschließende Glaubensinhalte und “Spiritualitäten”, die bewertungsfrei, ergänzend nebeneinander existieren können und sollen.
Dadurch wird die Entwicklung der erfahrungsorientierter Dezentralisierung und Pluralität nach dem Muster selbsterfüllender Prophezeiungen natürlich beschleunigt.
ne, du interpretierst da zu viel und zu früh was rein, es geht ja erst mal um die Beobachtung und den Versuch der Wiedergabe der Glaubenkonstruktionen von Jugendlichen. Wie du das dann interpretierst, steht auf einem anderen Blatt….
Bewertungsfreie Beobachtung und Wiedergabe unterschiedlicher, auch widersprüchlicher Glaubenskonstruktionen durch empirisch-wissenschaftliche Studien eines christlichen Instituts transportiert ein pseudo-neutrales Wissenschaftsverständnis, das bewusst von dem biblischen Bewertungsinstrumentarium keinen Gebrauch macht und insofern alles andere als neutral ist, sondern eine klare Wertung, und zwar gegen den biblischen Maßstab darstellt.
Zudem: Ein Schengen-Abkommen zwischen sämtlichen Glaubenskonstruktionen ist in niemandes Interesse.
Jugendliche sind gewöhnlich dankbar für Grenzen im Sinne von Richtlinien gemäß der drei Fragen “Was können wir wissen? Was dürfen wir glauben? Wie sollen wir handeln?”
Die von euch befragten und untersuchten Jugendlichen sind doch nicht in einem Vakuum oder geschlossenen Biotop aufgewachsen. Jede ihrer “Glaubenskonstruktionen” lassen sich auf Einflüse aus ihrer Umgebung zurückführen.
Wer hat es denn nur so weit kommen lassen, dass eine Kommunikation zwischen den Genarationen so gut wie nicht-existent ist?
Natürlich ist eine empirische Studie deskriptiv – in dem Sinne, dass sie eine wie auch immer geartete “Realität” abzubilden versucht. Von einem “biblischen Bewertungsmaßstab” (was soll das eigentlich sein?) kann sie dabei logischerweise keinen Gebrauch machen, sonst wäre sie nicht mehr deskriptiv und schlechterdings auch keine empirische Studie mehr.
Dass das nicht neutral ist, stimmt, aber wer oder was ist schon neutral? Immerhin folgt es anerkannten Maßstäben an wissenschaftliches Arbeiten, was bei Verwendung eines “biblischen Bewertungsmaßstabs” eher nicht der Fall wäre.
Dass die Glaubenskonstrukte (auch) auf Umgebungseinflüsse zurückführbar sind, ist richtig. Aber das ist bei dir und bei mir nicht anders. Außerdem war das für Tobys Beitrag (und die Studie) eher nachrangig. Ist es in diesem Fall nicht viel spannender, nach einer Gegenwart zu fragen, mit der und an der wir arbeiten können als nach einer nicht beeinflussbaren Vergangenheit? Und glaub mir, so etwas frage ich als Historiker nicht leichtfertig. 😉
Na, dann bleibt mir nur, euch zum gelungenen Nachweis mikro-evolutionärer Anpassung von “Glaubenskonstruktionen” zu gratulieren!
p.s. es ist der alte religions-psychologische Ansatz (seit Schleiermacher, so weit ich weiß), der sich einer “neutralen” Wissenschaftlichkeit verpflichtet sieht, und sämtliche Spiritualität und geistliches Erleben, völlig unabhängig vom Inhalt, gleichwertig nebeneinander stellt. Der Ansatz ist natürlich zutiefst anti-christlich, denn im christlichen Glauben bestimmt allein der Glaubensinhalt oder -gegenstand den Wert der Religiosität (“Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt …”).
Danke. 😉 Aber das ist nicht der Punkt und das weißt du auch.
Zur Frage, wie der semantische Graben zwischen traditioneller “kirchlicher” Sprache (oder auch: dem biblischen Bewertungsinstrumentarium :)) und den pluralen Konstrukten Jugendlicher überwunden werden kann, hast du jedenfalls auch noch keine überzeugenden Lösungen angeboten.
Zunächst mal sollten wir selbst mal wissen, was genau wir glauben, worauf wir das begründen, und weshalb dieser Glaube die einzig gültige Grundlage jeder (auch wissenschaftlichen) Aussage sein kann. Doch euer deskriptiv-neutrale Forschungsansatz ist so sehr von Kultur- und Geschichtsrelativität geprägt, dass ihr gar nicht in der Lage seid, irgendein “Glaubenskonstrukt” als falsch, und somit auch keins (oder alle?) als richtig zu bezeichnen.
Alles Beobachtete ist interessant und gut – mal sehen, wohin sich das noch entwickelt …
Mann, woher sollen Jugendliche dann wissen, was sie glauben dürfen. Oder, wie du es formulierst, wie willst du den “semantische Graben zwischen traditioneller, kirchlicher Sprache und den pluralen Konstrukten der Jugendlichen” überwinden, wenn du biblische Bewertungsmaßstäbe nur mit Smily und Gänsefüßchen verwendest?
Ja, jetzt sind wir am Kern der Dinge. Wie sollen sie es wissen, wenn sie überhaupt nicht verstehen, wovon wir sprechen? Wenn sie die Begriffe (evt.) kennen, aber für sich ganz anders füllen? Und warum sollten sie es auch nicht tun, wenn ihnen die Gesellschaft, in der sie leben, Tag für Tag suggeriert, sie müssten ihren eigenen (sic!) Weg finden.
Ob ich das gut finde oder nicht, ist dabei im ersten Schritt doch unerheblich. Es ist eine Realität, die ich zu begreifen versuche, um mich ihr stellen zu können. Wenn ich es nicht tue, kann ich mit meiner Kritik an diesem Zustand (oder einem Alternativangebot) doch kein Gehör finden, weil es keine Anschlussfähigkeit gibt und ich als ewiggestriger Wunderling von der diskursiven Welle entweder ignoriert oder weggeschwemmt werde.
Mich interessiert eben nicht allein der Glaubensinhalt, sondern auch seine Verbreitung (“machet zu Jüngern alle Völker”). Das richtige zu glauben fordert uns doch auch dazu heraus, das richtige zu tun, oder?
An diesem “Richtigen” würde ich übrigens entgegen deiner Vorwürfe festhalten. Kultur- und Geschichtsrelativität: ja, Jesusrelativität: niemals!
Ja, das Problem sehe ich auch. Wir werden wohl nicht darum herumkommen, in aller Liebe und Geduld das gute alte Evangelium ganz von vorn zu buchstabieren. Ähnlich war es doch in der Ex-DDR, wo 40 Jahre SED-Regime es fertig gebracht hat, die Grundparameter des Christentums (fast) vollständig aus dem kollektiven Bewusstsein auszulöschen.
Und zur Verkündigung der Wahrheit gehört das Detail. “Gebt mir Details”, schrieb Stendhal einmal, “Ohne Details gibts keine Wahrheit!” Ein gestutzes Evangelium ist kein Evengelium.
Ich meine, wie war das denn damals bei den Jesus People? Die Leute hatten auch keine Ahnung, wovon die Rede war. Aber sie hörten zu und lernten. Ich habe es selbst erlebt. Ich war mit 19 Jahren drogenabhängig, fühlte mich, wenn schon, ebenso sehr Buddha oder Krishna verbunden, doch die Leute predigten, ohne Rücksicht auf meinen Hintergrund, bis mir plötzlich die Schuppen von den Augen fielen und ich wusste, dass sie Recht hatten. Und dann habe ich gelernt, jeden Tag, immer die Bibel dabei. Alle rannten mit der dicken Thompson Chain Bibel rum und studierten. Das nennt man Umdenken, radikale, umfassende Metanoia! Keine ethischen Kompromisse, kein Synkretismus, keine Grauzonen, sondern Schwarz-Weiß, wenn du weißt, was ich meine. Ich habe dann viele Jahre in Städten wie London, Berlin und Hamburg in genau dieser Szene missioniert und wir erlebten, wie mehrere tausend Jugendliche zum Glauben kamen.
Ich will auch nicht in nostalgischen Erinnerungen hängen bleiben, sondern was ich sagen will ist: Das funktioniert, man muss es nur machen: Volles Vertrauen in die gute alte Botschaft und auf die Wirkungskraft des Heiligen Geistes.
“Wir werden wohl nicht darum herumkommen, in aller Liebe und Geduld das gute alte Evangelium ganz von vorn zu buchstabieren.”
Willkommen in der emergenten Bewegung! 😉
Im Ernst: Ich bin mir recht sicher, dass wir nicht darum herum kommen, uns zu fragen, was das gute alte Evangelium uns (und jedem!) heute zu sagen hat und mit welchen Formen und Worten wir unserer Begeisterung für dieses Evangelium Ausdruck verleihen können.
Außerdem ist Kommunikation für mich keine Einbahnstraße. Ich lerne, auch von Nichtchristen, und bin ganz gut damit gefahren, meine Erfahrungen nicht über die meiner Gesprächspartner zu stellen. Oder, um einen Freund zu zitieren: Wir sind doch alle nur Praktikanten.
Ich habe großen Respekt vor der Jesus People-Bewegung, bin mir aber nicht sicher, ob das heute noch so funktionieren würde (s.o.). Alles hat seine Zeit.
Aber vielleicht muss man das gar nicht gegeneinander ausspielen…
Danke Hans-Christian für dein Zeugnis, was hilft dich und dein Anliegen (und deine Kritik) zu verstehen. Auch der und letzte Satz zeigen die gemeinsame Zielsetzung die uns verbindet. Herzlich toby
Nein, Daniel, ich bin nicht in der emergenten Bewegung angekommen. Sie ist meiner Auffassung nach eine konkurrierende Religion, die die alten Parameter des christlichen Glaubens nacheinander genüsslich demontiert, um an ihre Stelle eine Art Nützlichkeits-Evangelium mit postmoderner Situationsethik zu setzen.
Und warum sollte das, was zu Wesleys und Whitefields Zeiten oder eben bei den Jesus People funktioniert hat, heute nicht ebenso funktionieren? Wer könnte weiter vom christlichen Glauben entfernt und vom Evangelium unerreichbarer sein, als die Leute in England zu Beginn des 18.Jahrhunderts, oder eben die Hippies der 60er Jahre? Das lässt sich kaum toppen!
Nicht die zu erreichenden Nicht-Christen sind anders geworden, sondern die Christen haben vergessen, was eigentlich ihr exklusive Botschaft und vorrangige Aufgabe ist.
Du kannst ja gern alles Mögliche von den Nichtchristen lernen, solange du im Auge behältst, dass ihr Denkansatz in radikaler Antithese zu demjenigen des christlichen Theismus steht.
Ok, ich verstehe, was du meinst. Ich kann nichtmal ausschließen, dass du Recht hast. Ich kann nur nach bestem Wissen und Gewissen versuchen Jesus nachzufolgen.
Und ist es nicht das, worauf es ankommt? Sind die “Parameter des christlichen Glaubens” nicht genauso menschengemacht und damit kulturell bedingt wie die Glaubenskonstrukte der Jugendlichen vom Anfang unserer Diskussion?
Die Wahrheit, um die es uns geht, ist doch kein philosophisches Gedankengebäude oder moralisches Regelwerk, sondern in Christus eine Person und damit überzeitlich und über-kulturell.
Das sollte uns doch verbinden. Die neue Religion sehe ich irgendwie nicht.
Lieber Daniel, ich fühle mich euch sehr verbunden, und bitte versteh das, was ich schreibe, nicht als Wertung eurer persönlichen Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit im Glauben. Was du schreibst, stimmt: Die Wahrheit ist eine Person. Doch um diese Person richtig zu verstehen, brauchen wir Offenbarung. Der von mir erwähnte “biblische Bewertungsmaßstab” besteht nicht allein aus historischen Berichten, sondern auch aus inspirierter, vollmächtiger, ultimativ verbindlicher Deutung. Deshalb schreibt Paulus in Galater 1,9 nicht: “Wenn jemand euch Evangelium predigt anders, als das ihr empfangen habt (und damit meint er nicht nur die Evangelien, sondern auch seine interpretierende Römerbrief-Theologie usw.), dem hört gut zu und lernt von ihm, denn er eröffnet neue Perspektiven für unsere Zeit!”, sondern: “… der sein verflucht!”
“und damit meint er nicht nur” = all is yellow to the jaundiced eye, nicht wahr? 🙂
Aber ich finde ja ansonsten sehr sympathisch, was du geschrieben hast und will es damit fürs erste bewenden lassen. Danke für den diesmal wirklich angenehmen Austausch.