„Eisenkinder – meine Jugend zwischen Lenin und Jesus“

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Nach Esther Maria Magnis („Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung“) legt jetzt Sabine Rennefanz („Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration“) ihre biographische Auseinadersetzung mit ihrem Leben und Glauben vor. Auf den ersten Blick gibt es viel gemeinsames, zwei junge Frauen, beide aus Berlin, beide gebildet und mit existenziellen, religiösen Erfahrungen und einer intensiven Auseinandersetzung damit. Und doch gibt es kaum inhaltliche Parallelen und einen ganz unterschiedlichen Ausgang.
Eine kurze Warnung voraus:
Der Prozess gegen Beate Zschäpe läuft seit einigen Tagen und wer noch die passende „Ost-Lektüre“ dazu sucht, und einfache Antworten in der ostdeutschen Jugend als Nährboden der „Zwickauer Zelle“ finden möchte, dem sei das Buch von Sabine Rennefanz „Eisenkinder“ nicht empfohlen.
Wer aus einer pietistisch-evangelikal-charismatischen (Frei-)Kirche kommt, Missionseinsätze in anderen Ländern gemacht hat, für den Freundschaftsevangelisation und die vier geistlichen Gesetze keine Fremdwörter sind, dem sei gesagt, dass dieses Buch den eigenen Glauben hinterfragt.
Aber der Reihe nach. Sabine Rennefanz, Journalistin in Berlin (BZ) und 1974 in der Nähe von Eisenhüttenstadt geboren, schreibt über ihr bisheriges Leben. „Eisenkinder“ ist kein Geschichtsbuch, erhebt keinen Anspruch auf Objektivität, sondern ist eine Autobiographie und genau darin liegt die Stärke dieses Buches. Es geht um ihren Weg, ihre Identität als „Ostfrau“ zu suchen und zu finden. Mit 15 Jahren wird ihr durch die Wende die Heimat genommen und sie muss lernen sich in einem neuen System zurechtzufinden. Ihr beschriebener Weg zwischen Selbstzweifel und westlichen Vorurteilen ist dabei witzig, klug und ironisch zugleich geschrieben. Eingebettet in das Geschehen um die gleichaltrigen Protagonisten der „Zwickauer Zelle“, die aus ähnlichem Milieu kommend, fragt sie, warum ihr Leben diesen Verlauf genommen hat und nicht einen anderen? Ob eine ostdeutsche Jugend rechtsradikales Gedankengut fördert und wie Ideologien entstehen. Sabine Rennefanz Leben verlief aber ganz anders, sie wurde weder rechtsradikal, noch linksradikal, sondern bekehrte sich zu Jesus und begann ihm radikal nachzufolgen. Das Spannende: Es vermischen sich die Ebenen, Motive, Hoffnungen und Hintergründe. Der Herrschaft im Osten entkommen, kommt Sabine Rennefanz in ein Milieu evangelikaler Freikirchen und lernt die Herrschaft ihres Lebens jemand ganz anderem hinzugeben. Schnell eignet sie sich den frommen Habitus an, lässt sich taufen, arbeitet in der Gemeinde mit und macht Missionsarbeit (bis nach Russland). Sie schreibt über diese Zeit nicht neutral, nicht verbittert, distanziert, vielleicht etwas anklagend, aber nicht so sehr gegenüber den Mitchristen der damaligen Zeit, sondern sich selbst gegenüber: Wie konnte ich denn so naiv sein? Wie konnte mir das passieren, wo ich doch gebildet und gescheit bin. Die Lösung sieht sie im Systemwechsel von DDR zur BRD und der fehlenden „Betriebsanleitung“ für das neue Leben. Da kamen freikirchlichen Evangelikalen mit ihrem Fundamentalismus gerade recht.
Sabine Rennefanz schreibt ein interessantes und kurzweiliges Buch. Die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte liest sich spannend wie ein Krimi: Ihre ostdeutsche Jugend, die Frage nach Identität und Heimat in einem „übernommenen“ Staat, die religiöse Auseinandersetzung mit der Anskar Kirche Hamburg, die Parallelen der Systeme, all das reicht aus, um einen nachdenklich zu machen, so dass es die Klammer um die „Zwickauer Zelle“ am Anfang und Ende des Buches nicht unbedingt nötig gewesen wäre. 
Was bleibt: Ein grandioser Mittelteil, der mitreißend geschrieben ist und mein Bild von der Wende und Ostdeutschland durch ihren Blickwinkel der Geschichte erweitert hat und eine Auseinandersetzung mit meinem eigenen Glauben, der einige geschichtlichen Parallelen aufweist. Wie deute ich die Naivität meiner früheren Missionsversuche? Was darf und muss in gemeindlichen Strukturen hinterfragt werden? Wo fängt Fundamentalismus an und hört Manipulation auf?
Esther Maria Magnis kam in ihrem Glauben nach langer Auseinandersetzung zu einer „zweiten Naivität des Glaubens“, Sabine Rennefanz nicht, sie stieß ihren Glauben mit all ihren Erfahrungen wieder ab. Zwei Frauen, zwei Wege und beide helfen mir meinen eigenen zu gehen. Danke.
 Einige Zitate: 
„Es geht nicht darum, die Taten des NSU-Trios zu verharmlosen, es geht um die Jugendlichen, die abdrifteten und Halt in einem radikalen Weltbild suchten. Nicht bei allen fand das so extrem statt, aber viele erlebten Absetzbewegungen, Erschütterungen, Ausbrüche. Bei vielen klafft bis heute ein Loch in der Biografie. Manche suchten Halt in den festen Strukturen der Bundeswehr, die nächsten reisten um die Welt und wandten sich von der Zivilisation ab, wieder andere richteten ihre Aggressivität gegen sich selbst und wurden magersüchtig. Auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sieht Bürgel als Teil einer “verlorenen Generation”.“ (242)

„No compromises ist drei Mal unterstrichen, Kompromisse sah ich als Zeichen der Schwäche und Unterordnung. … Jesus ist für mich gestorben, er hat mich neu gemacht, ich will ihn durch mich erleben lassen, ich unterwerfe mich seinem Willen. Herr, gib mir Weisungen, wo ich wirken soll.“ (141)

„Sechs Jahre nach der Wende sehnte ich mich nach Vorbildern, nach Halt, nach Orientierung. Wenn Katharina eine clevere Neonazie-Frau gewesen wäre oder eine radikale Muslimin, hätte sie mich vielleicht ganz genauso auf ihre Seite gezogen. Der Inhalt schien fast austauschbar. Ich kam aus einer Welt, in der Gut und Böse unterschieden wurde. Man konnte nichts beides sein, man musste sich entscheiden. Das machte mich anfällig für einfache Wahrheiten.“ (138)

Interview mit Sabine Rennefanz in der Zeit.

4 Comments

  1. Christian Döring

    ich hab diesen Titel schon vor Wochen gelesen und da ich in der- selben Gegend wohne und Ossi bin, erlaube ich mir zu sagen, die Autorin hat ein sehr authentisches Buch vorgelegt!
    Grüße Christian

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  2. Anonymous

    Bei all der guten und kritischen Auseinandersetzung sollte berücksichtigt werden, dass Frau Rennefanz ihren “Ausflug in die evangelikale Welt” aus ihrer jetztigen und subjektiven Sicht beschreibt und dabei, vermutlich durch den radikalen Schnitt, welchen sie für sich hinsichtlich dieser Erfahrungen machte, Einiges ausblendet, verallgemeinert und an manchen Stellen (und besonders in Interviews) wenig differenziert berichtet. Es gab nämlich auch in diesen schlimmen evangelikalen Kreisen Menschen, die mit ihr diskutiert, geweint, gelacht und gelebt haben…. Vielleicht waren manche Dinge auch gar nicht so radikal, wie sie das für sich ausgeglegt und dann auch gelebt hat. All diejenigen, die gemeinsam mit Frau Rennefanz diese Phase ihres Lebens durchlebten stehen jetzt “im Regen” und es ist schade, dass es wohl nicht möglich schien,diese Beziehungen, trotz divergierender Einstellungen und Auffassungen, aufrechtzuerhalten oder weiterzuführen und das lag sicherlich nicht nur an der “evangelikalen Seite”.

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  3. ja, sicher, das ist nur ihre subjektive Sicht und da gibt es bestimmt noch vieles zu berichten, aufzuarbeiten und zu lernen – wahrscheinlich für alle Seiten damals und für mich heute…

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