„Menschenwürde zwischen moralischer Allmachtsphantasie, ökonomischer Anpassung und existenzieller Notwendigkeit. Die Diskussion um die Menschenwürde und die Aufgabe der Christen.“

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Vor ein paar Wochen hat die Micha-Initative ihr zehnjähriges Jubiläum gefeiert und ich durfte einen Vortrag über ein sehr interessantes Thema halten: „Glaubens-Perspektive – Begründung zur Würde in der Bibel“. Ein spannendes Thema, nicht nur heute am Weltflüchtlingstag, sondern leider ein alltägliches Thema, denn die Menschenwürde ist umstritten wie schon lange nicht mehr. Obwohl die Menschenwürde in vielen Religionen und Philosophien eine sehr lange Tradition hat und seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem berühmten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in allen großen Gesetzesentwürfen verankert ist, sei es in unserem Grundgesetz mit Artikel 1 (1946), die Charta der Vereinten Nationen (1945) oder die neue Grundrechtscharta der Europäischen Union (2000). Aber auch (fast) alle anderen Länder dieser Erde kennen das, so wie die chinesische Verfassung in Artikel 38: „Die persönliche Würde der Bürger der Volksrepublik China ist unverletzlich. Jegliche Form der Beleidigung, Verleumdung oder falscher Anschuldigung und Diffamierung von Bürgern ist verboten.“

Was aber heißt Menschenwürde?

Auf die Interpretation kommt es an – auf diesen Satz kommt man wohl zuerst, wenn man sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und klar ist auch, dass dies immer einen gewissen Zeitbezug hat, bei allem, was die Diskussion über die Würde des Menschen auch eint, wie es der Ethiker Wilfried Härle sagt: „Menschenwürde ist das mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch.“ Die Würde des Menschen ist die Grundlage für die gleichen Rechte, die allen Menschen zustehen. Heute gilt deshalb das internationale bzw. universale Menschenrecht, dass der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Steiner zusammenfassend wie folgt formuliert:

Menschenrechte sind im Begriffsgebrauch des Völkerrechts und der nationalen Verfassungsstaaten Rechte, die jedem Menschen als solchem kraft seiner menschlichen Existenz zustehen, mithin also unabhängig sind von Kulturen, Volkszugehörigkeit und Zeit (Unversalitätsanspruch). Ihr Leitprinzip ist die Würde des Menschen (unverletzlich, unverfügbar, unveräußerlich). Menschenrechtsverbürgungen können auch dem besonderen Schutz von Teilgruppen der Gesellschaft dienen (Frauen, Kinder) und unter bestimmten Voraussetzungen juristischen Personen zustehen (Steiner 2002a:1088).

Sowohl Menschenwürde als auch Menschenrechte stellen somit eine zentrale Grundlage allen Zusammenlebens der Menschen dar und bilden für jegliches Zusammenleben die rechtliche und ethische Basis. Heute gehören dabei Menschenwürde und Menschenrechte untrennbar zusammen. Die ethische Bedeutung des Menschenwürdegedankens bildet dabei das Fundament der Menschenrechte, ja führt zur Formulierung der Menschenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der politisch-rechtlichen Absicherung durch eben diese Rechte. In diesem Sinne, fungiert die Menschenwürde sowohl als „Abwehr- als auch als Anspruchsrecht“ (Birnbacher). Menschenwürde ist also universal, normativ und vorstaatlich und somit kein Leistungsbegriff, sondern eine Zuschreibung und ein Grundwert jedes Menschen. So weit so gut, aber ist das Gerede um die Menschenwürde nicht eine einzige Leerformel? Angesichts von 35 Millionen Sklaven weltweit, von über 50 kriegerische Konflikte mit Folter und Mord, die es weltweit gibt, wenn Globalisierungsverlierer millionenfach für zehn Stunden und mehr am Tag für unter einem Dollar arbeiten und wenn Individualismus, Konsumethik und Turbokapitalismus dem Westen weitgehend dagegen abgestumpft haben?

Kritik an der Menschenwürde

Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Menschenwürde nicht nur in Asien in Frage gestellt ist (sind die Menschenrechte eine westliche Erfindung?), sondern hier mitten unter uns. Der Freiburger Soziologe Hans Joas stellt leider zurecht fest: „Viele wollen die Rede von ‚den Menschenrechten‘ nicht mehr hören. Sie halten sie entweder für eine Leerformel oder einen machtpolitischen Trick, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.“

Ein paar kurze Beispiele aus der aktuellen Debatte sollen das veranschaulichen:

  • „Illusion Menschenwürde“ lautet der programmatische Titel eines Buches von Franz Josef Wetz. Er verkündet darin „das Ende einer metajuristischen Pathosformel im Recht, welche die Interpreten in einem liberalen Gemeinwesen zwangsläufig in Aporien verstrickt“
  • Bei Malte Hossenfelder handelt es sich bei der Würde um einen „windigen“ Begriff, der außerdem noch „starke emotionale Konnotationen“ aufweise und die rationale Auseinandersetzung daher nur belaste.
  • Ein „Einfallstor für bestimmte Partikularethiken“ in das Verfassungsrecht, schreibt Dreier und ähnlich fürchtet Herdegen das „Hohepriestertum einer höchstpersönlichen Ethik“
  • „Universalismus als moralische Falle“, denn der ethische Partikularismus, der dahinter steht, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Würde und Anerkennung haben, lässt sich nicht durchsetzen, so dass es klüger ist, sich um die Menschen zu kümmern, die einem nahe stehen. Intellektuelle wie den sonst von mir so geschätzten Hans-Magnus Enzensberger nennt die Idee von Menschenrechten eine „moralische Allmachtsphantasie“. Weiter nennt der die MR „Hypermoral und eine sittliche Überforderung“.

Mitten in diese Diskussion um den Sinn und den Zweck der Menschenwürde und der Menschenrechte gibt es auch die christliche Stimme, die die Menschenwürde nicht rein immanent versteht, sondern als Zuspruch Gottes – und das von sprichwörtlich der ersten Stunde an.

Ebenbildlichkeit des Menschen als theologische Grundlage der Menschenwürde

Die inhaltliche Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte geht auf das alttestamentliche Verständnis der ‚Imago Dei’ zurück, der Ebenbildlichkeit des Menschen gegenüber Gott in der Schöpfung (Gen 1, 26+27). Gott schafft den Menschen nach seinem Bilde und verschafft ihm dadurch, unabhängig von seinem Tun, einen absoluten und universalen Wert und eine Teilhabe an Vernunft und Macht, die der Mensch als Gestaltungsauftrag auf der Erde nutzen soll. Für den Tübinger Theologen Jürgen Moltmann ist dies die Grundlage und der Kernbegriff seiner Anthropologie und er ergänzt, dass der Mensch nicht nur Repräsentant und Abglanz von Gottes Herrlichkeit ist, sondern damit auch eine Erscheinungsweise Gottes selbst. Karl Barth ergänzt dazu: „Sie besteht nicht in irgendetwas, was der Mensch ist oder tut. Sie besteht indem der Mensch selber und als solcher als Gottes Geschöpf besteht. Er wäre nicht Mensch, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre“ (Barth 1947:206–207). Zur Geschichte des Menschen gehört aber auch der Sündenfall (Gen 3), durch den der Mensch in all seinen Beziehungsebenen gestört und entfremdet wurde von sich selbst, Gott und der ganzen Schöpfung. Trotzdem nennt der Psalmschreiber David den Menschen „mit Herrlichkeit gekrönt“ und „ein wenig niedriger gemacht als Gott selbst“ (Psalm 8). Diese Aussage zieht sich durch das ganze Alte und Neue Testament (Ps. 106, 20; Röm. 1, 23; Eph. 4, 24; Kol. 3, 10). Der Mensch steht bei aller Gefallenheit in einer unauflöslichen Beziehung zu seinem Schöpfer und in einer großen Geschichte der Wiederherstellung dieser Beziehung. Im Neuen Testament wird die Ebenbildlichkeit Gottes besonders in der Ebenbildlichkeit Christi (Imago Christi) deutlich. In Christus können wir Menschen Gott wieder neu erkennen und uns selbst widerspiegeln in seiner Herrlichkeit. Dies hat aber nicht nur Auswirkungen für die eigene Wahrnehmung, sondern kommt auch allen anderen Menschen zugute (Röm 9,28; 2. Kor 4,4; Kol 1,15). Durch die Rechtfertigung des Sünders entfaltet sich die Menschenwürde unabhängig von seiner Beschaffenheit und Leistung und dies in all seiner Fehlbarkeit.

Die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott besteht also keinesfalls nur im grundsätzlich Guten des Menschen, sondern gerade auch in seiner Unvollkommenheit. Liedke argumentiert, dass dies beispielsweise auch für Menschen mit Behinderungen bzw. Einschränkung gilt (Liedke 2009:83). Es gibt also nach dem Sündenfall eine Kontinuität der Ebenbildlichkeit Gottes in der ungebrochenen Würde und im Gestaltungsauftrag und eine Diskontinuität in der Gebrochenheit der Beziehungsebenen. Moltmann beschreibt die Kontinuität in dem Verhältnis Gottes zum Menschen und die Diskontinuität mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott:

„Gott setzt sich zum Menschen in jenes Verhältnis, in dem jener sein Bild ist. Die menschliche Sünde vermag wohl das Gottesverhältnis des Menschen zu verkehren, nicht aber das Menschenverhältnis Gottes zu zerstören. Dieses ist von Gott beschlossen und geschaffen und kann darum auch nur von Gott selbst aufgehoben oder zurückgenommen werden. Darum wird der Sünder subjektiv ganz und gar Sünder und gottlos. Er bleibt aber darum zugleich ganz und gar Gottes Bild und wird diese seine Bestimmung nicht los, solang Gott sie festhält und ihm treu bleibt“ (Moltmann 1985:238).

Der Theologe Paul Tillich unterscheidet dabei hilfreich zwischen dem Bereich der Schöpfung, der Essenz des Menschen (Essenz beschreibt eigentliche vollkommende Natur des Menschen) und dem Bereich des Falls, der Existenz des Menschen (Existenz beschreibt dabei den aktuellen Zustand des Menschen) (Tillich 1956:81). Diese doppelte Deutung des Menschen bezieht sich auf das, was der Mensch in der Schöpfung ist, eine essentielle Existenz die sich von ihrem Schöpfer (und der Schöpfung) entfremdet hat. Gerade in der Sündhaftigkeit des Menschen wird dies deutlich, wenn sich der Mensch auf der einen Seite von Gott entfernt und auf der anderen Seite essentiell mit ihm verbunden bleibt. So wird nirgends in der Bibel die Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen aufgelöst, im Gegenteil, die Geschichte Gottes mit dem Menschen ist eine Geschichte der Wiederherstellung (der Existenz) der unterschiedlichen Beziehungsebenen des Menschen, die in Kreuz und Auferstehung Christi. Moltmann weist aber zu Recht darauf hin, dass die eschatologische Dimension der Wiederkunft Christi eine zentrale Hoffnung ist, in der die Ebenbildlichkeit des Menschen durch die Gnade Christi wieder ganz hergestellt wird. Auch wenn wir heute in der Spannung leben noch immer Ebenbildlichkeit zu sein und doch in sündhaften Strukturen verhaftet zu sein, können wir doch erahnen, dass diese eschatologische Hoffnung unser Handeln und Denken schon heute verändert. Bonhoeffer beschreibt dies mit der Bestimmung des Menschen im „Vorletzten“ zu leben, das vom „letzten“ bestimmt wird. Das „Letzte“ ist die endgültige Erfüllung durch die Wiederkunft Christi, das „Vorletzte“ die Ambivalenz zwischen gefallen und erlöst sein. (Bonhoeffer 1992:137ff). Menschenwürde beschreibt demnach einen relationalen Begriff, der die unterschiedlichen Beziehungsebenen zwischen Gott und dem Menschen beschreibt. Dieses Verständnis der Ebenbildlichkeit des Menschen bildet die theologische Grundvoraussetzung für die Würde des Menschen und die daraus sich bildenden Menschenrechte. Das menschliches Leben ist dabei immer fragiles, bedrohtes und fehlerhaftes Leben. Dieses Wissen hat die Kraft bestehende Unterschiede zu überwinden und heilend in die Beziehungsebenen einzugreifen, in denen Menschenwürde und Menschenrechte nicht gewahrt wird. Denn die Würde des Menschen und seine Rechte stehen nicht individuell da, sondern tragen immer auch einen Auftrag mit sich. Der Mensch steht immer in unterschiedlichen Beziehungsebenen zu anderen Menschen und zur Schöpfung und hat die Aufgabe diese Teilhabe an Vernunft und Macht, die der Mensch als Gestaltungsauftrag gegeben ist, auszuüben. Dies bedeutet, dass gerade Christinnen und Christen für Menschenrecht einstehen und sich auf die Seite von Minderheiten und Entrechteten stellen. Weil sie aber mitten in der Verletzlichkeit der Beziehungen dieser Welt leben, brauchen sie immer wieder die Kraft der Versöhnung, die durch die Imago Christi in ihnen deutlich wird. Christus ist gekommen, um sich mitten in die Unversöhnlichkeit dieser Welt zu stellen und durch seinen gewaltsamen Tod, die Macht der Gewalt in dieser Welt zu brechen. Dies gilt es zu wissen, zu hören und zu teilen, gerade in dieser herausfordernden Debatte rund um die Menschenwürde.

 

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