“Transformation der Herzen. Quergedachtes zur Jahreslosung 2017: Warum wir gerade jetzt eine Erneuerung von Vernunft und Willen brauchen.”

Theologie
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Wie können wir vernünftig leben und richtige Entscheidungen treffen in dieser spannungsgeladenen und herausfordernden Zeit, in der die Politisierung des Alltags uns neu gefangen nimmt? In einer Zeit, in der die Fakten verdreht und Wahrheiten keine Rolle zu spielen scheinen. In der die Rhetorik verroht und die Übertretungen von persönlichen Grenzen lächelnd in Kauf genommen werden. Da kommt die Zusage der diesjährigen Jahreslosung gerade richtig, denn es geht um ein neues Herz und einen neuen Geist, der eine neue Klarheit in unsere schwankende Weltsicht bringen will. Die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen hätten sich vor ein paar Jahren wahrscheinlich nicht vorstellen können, wie aktuell und wichtig die diesjährige Jahreslosung ist. Aber fangen wir mit Hesekiel an.

Das verrückte Leben als Prophet

Der Prophet Hesekiel hatte, wie viele alttestamentlichen Propheten, kein leichtes Leben; Verschleppung mit Teilen des Volkes Israel ins Exil nach Babylonien (597 v. Chr.), wo er dann über 20 Jahre als Prophet wirkte. Der plötzliche Tod der Ehefrau und das Trauerverbot Gottes, sowie eine ganze Menge sonderbarer Zeichenhandlungen als Prophet Gottes. So musste Hesekiel gleich nach seiner spektakulären Berufung eine Schriftrolle essen, Brot mit Kot backen und essen sowie 390 Tage auf der linken Schulter liegen, um dem Volk seine Schuld aufzuzeigen. Wie haben wir es da heute gut, wo unsere Schuld auf den Schultern Christi liegt. Und Christus ist als Menschensohn eine zentrale Figur im Hesekielbuch und kommt alleine 87 Mal vor. Keine andere Bezeichnung beschreibt die Spannung zwischen Niedrigkeit und Hoheit sowie Göttlichkeit und der Menschlichkeit Jesu so treffend und mit keinem anderen Begriff beschreibt sich Jesus in den Evangelien selbst so oft wie mit dem Begriff Menschensohn. Dabei steht der kommende Menschensohn für den Anbruch des neuen Reiches Gottes, für Gnade in Zeiten des Gerichts und Erneuerung mitten im Exil. Sieben Mal wird vom „neuen Geist“ gesprochen und sieben Mal macht dieser lebendig, was eigentlich schon hoffnungslos und verloren ist. Den Alttestamentler Zimmerlin erinnert das große Thema deshalb zu Recht an den Schöpfungsakt in der Genesis, wo Gott aus dem Nichts Neues schafft. Und nirgends im Hesekielbuch wird dies so plastisch wie in Kapitel 37, wo die Totenbeine durch den Geist Gottes lebendig werden und dann, wie in einem Zombiefilm, Sehnen und Fleisch die Skelette Stück für Stück bedecken. Der Geist Gottes steht sinnbildlich für die Lebenskraft. Hier in der äußeren Wiederbelebung der Totengebeine, in unserer Jahreslosung in der Wiederbelebung des neuen Menschen. Die Skelette stehen zuerst für das Volk Israel, das zum neuem Leben im verheißenen Land wiederhergestellt werden soll. Und das Volk ist aufgefordert auf diese Vision des Propheten zu hören und umzukehren, sich erneuern zu lassen und zu erkennen, dass Jahwe ihr Gott ist. Wie ein Mantra durchzieht sich diese Prophetenformel das ganze Buch, insgesamt 54 Mal wiederholt Hesekiel: „Dann werdet ihr (werden sie) erkennen, dass ich Jahwe bin.“ Dies zeigt das große Werben Gottes um sein Volk, seine Bereitschaft zur Gnade und zum Neuanfang.

Das neue Herz als Zeichen der Wiederherstellung der Beziehung

Und hier sind wir mitten im Zentrum der diesjährigen Jahreslosung aus Hesekiel 36,26: „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Und es geht hier um mehr als um neue Gefühle, denn das Herz ist im Hebräischen nicht nur das Zentrum der Gefühle, sondern Sitz der Vernunft, der Weisheit, des Willens, ja des Urteilsvermögens, also eher die Funktion, die wir heute dem Gehirn zuordnen. Man könnte sagen, dass das Herz das Innere des Menschen, der Sitz seiner Lebenskraft ist, aber noch mehr, es ist das moralische Kontroll- und Lenkungsinstanz im Inneren des Menschen. Das Herz ist somit das Zentrum der Willensbildung und Entscheidung (Krüger 2009). Mit dieser Transformation des Herzens wird das Volk das Gesetz halten und mit Gott verbunden sein. Das neue Herz und der neue Geist sind jeweils eine Gabe Gottes und somit schon ein Bild der neutestamentlichen Gnade, die unverdient ins neue Leben führt. Und auch wie mit der Gnade gilt es diese anzunehmen und zu leben. Dabei geht es Gott um die Wiederherstellung der Beziehung zu seinem Volk (Hes 18), nicht um Perfektion oder gar Sündlosigkeit. Damit steht die Jahreslosung im großen biblischen Kontext von Deuteronomium 6, 5-6, dem Gebot der Gottesliebe: “Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Im NT zieht sich diese Linie bei Jesus (Mt 22,34-36) und Paulus (Rö 13,9) weiter. Das Volk soll sich seines Bundes sicher sein und sich zu Herzen nehmen, sich bewusstmachen, darüber nachdenken, sich daran erinnern, wer ihr Gott ist. Diese Anerkennung, wer der Herr ist, ist der zentrale Ausgangspunkt der Erkenntnis, dass Gott das Verhalten des Volkes nicht duldet. Sein Zorn bildet den zentralen Erkenntnisgrund (Hes 25,5ff; Hes 26,6) zur Umkehr. Dabei kündigt Gott sein Strafgericht am eigenen Volk (und auch an anderen Völkern) nicht nur an, sondern vollzieht es auch, denn Gott ist ein eifernder Gott, der sein Volk liebt und in Beziehung zu ihm sein möchte (Hes 5,13; Hes 7,4ff). Und in dieser so typischen Spannung der Beziehung zwischen Umkehr und Erneuerung lebte das Volk Israel und diese Spannung zeigt sich dann auch neutestamentlich im Reich Gottes, das sich im „jetzt und noch nicht“ zeigt, zwischen der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten und der Schwerkraft der Sünde im Alltag zeigt. Aber die Transformation hat begonnen, der neue Geist wirkt und das neue Herz schlägt und Gottes Umgestaltung lässt aus dem toten Gebein neues Lebens erwachsen.

Wie sieht diese Erneuerung des Herzens aber aus?

Neben dem Hinweis auf Pfingsten und den Geist Gottes, der nun auf alle ausgegossen wird, Juden wie Heiden, Männer wie Frauen und der Spannung zwischen „jetzt und noch nicht“ steht eine weitere Spannung im Mittelpunkt, die der Erneuerung des Herzens. Dieses neue Herz ist auf der einen Seite ein Geschenk Gottes, auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Israeliten es auch annehmen und leben sollen und die Gebote und Weisungen Gottes dafür die praktischen Hilfestellungen sind. Diese Spannung zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln des Menschen sehen wir nicht nur in der Jahreslosung, sondern sie zieht sich durch die ganze Bibel. Im Englischen wird dafür nach Röm 12,2 das Wort “transform” benutzt, das beides in sich trägt: “Do not be conformed to this world, but be transformed by the renewal of your mind, that by testing you may discern what is the will of God, what is good and acceptable and perfect.” Die grammatikalische Form des Verbs in Römer 12,2 im griechischen Grundtext beschreibt dabei einen Imperativ im Passiv (‚sich umgestalten lassen‘), der beides vereint, sowohl den Menschen, der alles tut, um sich Gott hinzugeben, als auch Gott, der das handelnde Subjekt ist. Das Volk damals und wir heute wenden uns Gott zu, geben ihm die Ehre und werden so durch Ihn verwandelt und bekommen ein neues Herz, ein neues Zentrum des Verstehens, des Willens und des Urteilens. Sich Gott zuwenden bedeutet bereit sein, um sich verändern zu lassen. Sich und die Welt mit neuem Herzen zu sehen, mit der neuen Optik Gottes. Deshalb bedeutet Transformation im tiefsten Verständnis Anbetung Gottes. Und dies mitten in einer gefallenen Welt.

Die Abwendung von Gott bedeutet immer auch eine Zuwendung zur Macht

Und wie bei fast allen Propheten, so gibt es auch bei Hesekiel einen Zusammenhang zwischen einer geistlichen Entfremdung von Gott (Hesekiel 16) und dem gleichzeitigen Griff nach Macht (Hesekiel 18,8ff; 45,8+9). Die Aushöhlung der Gottesdienste, die Zuwendung zu anderen Göttern und die Ausbeutung der Armen und Entrechteten gehen immer Hand in Hand. Wer sich von Gott abwendet, wendet sich auch von den Ausgegrenzten und Schwachen ab, wer sich Gott zuwendet, wendet sich immer auch den Ausgegrenzten und Schwachen zu. Beides steht in einer geistlichen Kausalität und lässt sich weder bei Hesekiel, noch im Rest der Bibel trennen. Gott schreibt seine Geschichte besonders durch die Kleinen, Ohnmächtigen, Benachteiligten und Armen (5Mo 15 & 16; Jes 6 & 54 etc.). Es gibt keinen Triumphalismus, dies zeigt sich schon bei der Erwählung des Volkes Israel als Licht für die übrigen Völker. Gott hat das Geringste und Kleinste ausgesucht, um mit ihm Geschichte zu schreiben (5Mo 7,6-8) und selbst das Königtum Israels hat Gott eigentlich abgelehnt. Im Neuen Testament wurde dieser Weg durch Krippe und Kreuz Christi bestätigt, ja erweitert, in dem die Machtmaßstäbe dieser Welt auf den Kopf gestellt wurden. Indem Gott den Gewaltlosen gewaltsam am Kreuz sterben ließ und dadurch die Mächte und Gewalten durchbrochen hat. Miroslav Volf merkt zu Recht an, dass Gott seine Geschichte immer wieder vom Rand der Gesellschaft und vom Rand der Macht hergeschrieben hat (Volf 2012:367ff.). Immer dann, wenn die Christenheit in der Geschichte diesen unbequemen Rand verließ und ins Zentrum der Macht rückte, gab es nicht nur Gewissenskonflikte, sondern zumeist große Probleme. Deshalb war im Neuen Testament die Bedingungslosigkeit der Liebe Gottes für die Nachfolger Christi von zentraler Bedeutung. Gott ist Liebe und schafft Liebe unter den Menschen, dies ist die Grundvoraussetzung jeglichen Christseins. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass eine wichtige Grundlage des christlichen Glaubens die Feindesliebe Christi ist (Mt 5,43-48).

Dem Götzen „Populismus“ widerstehen

Gerade in unseren politischen herausfordernden Zeiten brauchen wir ein moralische Kontroll- und Lenkungsinstanz im Inneren von uns. Ein neues Herz der Willensbildung und der Entscheidung, das Richtige zu tun. Interessant ist, dass es nicht um eine individuelle Erneuerung oder gar um eine Bekehrung geht, sondern um eine umfassende Transformation des Volkes Israels, um ein neues Verstehen, Erkennen und Wollen. Aber solch ein Satz versteht natürlich jede und jeder individuell, die einen wünschen sich eine Art politisch-moralische Erneuerung, die anderen versuchen gerade dies zu verhindern. Vor ein paar Wochen hatte ich eine längere Diskussion mit ein paar Leuten der „Christen in der AfD“ und ich muss sagen, dass mich die absolute Überzeugung, dass Gott dieses Land durch die AfD umgestalten will, nachhaltig verstört hat und mir deutlich geworden ist, dass ich mit klugen Argumenten oder Tatsachen nicht weit komme, sondern dass es tatsächlich eine Erneuerung des Erkennens braucht. Und ich bin mir sicher, dass sie dasselbe von mir denken. Die Trump-Wahl hat dabei gezeigt, wie schnell Christinnen und Christen bereit sind, die zentralen Gebote Gottes auf dem „Altar des Populismus“ zu opfern. Und jetzt stehen wir 2017 mit der Bundestagswahl in Deutschland vor ähnlichen Herausforderungen. Auch wenn es keine perfekte Partei gibt und es immer um Abwägungen, Interessen und persönliche Vorlieben geht, unterscheidet sich die AfD aus meiner Sicht deutlich von den anderen Parteien, indem sie national-völkische Interessen vertritt, die Sozialsysteme schwächen will und Randgruppen diskriminiert werden. Es ist ein Irrweg, zu glauben, dass ausgerechnet der Griff zur Macht eine geistliche Erneuerung geben wird. Dagegen spricht die Kritik Hesekiels, denn die Abwendung von Gott und seinen Geboten und die Unterdrückung von Armen und Benachteiligten gehen Hand in Hand.

Die Verdrehung der Wahrheit: Wer hält stand?

Der Blick weg von Gott und hin zu den scheinbar mächtigen Götzen der Populisten wird deshalb aus meiner Sicht nicht die erhoffte geistliche und/oder moralische Wende bringen, sondern Unterdrückung, Ausgrenzung und Machtmissbrauch. Es ist genau diese Umdrehung der Werte, die so verführerisch anmutet und vor der schon Dietrich Bonhoeffer gewarnt hat, als er fragte: „Wer hält stand? Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“

Gerade deshalb ist die Bitte der Jahreslosung so wichtig, ja entscheidend in ihrer Aussage bis in unsere Zeit. Hesekiel sprach zum Volk Israel und spricht heute hinein in unsere Situation, warnt vor falschen Götzen und Machtoptionen und erinnert uns an die Weisung seines Gesetztes: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn wir diese Grundlage verlassen, betrügen wir nicht nur Gott, sondern uns selbst. Und dies gilt selbstredend für alle und das Gebet für ein neues Herz, ist ein gemeinsames Gebet. Denn im „durcheinander gewirbelt werden“ stehen wir alle und gerade deshalb ist das neue Herz so entscheidend. Es drückt den Willen, die Vernunft und das Urteilsvermögen aus, sich an Gott und seinen Weisungen zu orientieren und nicht an den Machtoptionen dieser Welt. Dies bedeutet nicht unpolitisch zu sein, sondern im Gegenteil, es bedeutet wachsam zu sein und die öffentliche Auseinandersetzung zu suchen. Nicht Rückzug ist das Gebot der Stunde, sondern eine konstruktive Auseinandersetzung. Noch einmal Bonhoeffer: „Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser oder jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Aber er muß seine Augen und seinen Mund verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges kann er sich von der Befleckung durch verantwortliches Handeln reinerhalten. Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterläßt, nicht zur Ruhe kommen lassen. Er wird entweder an dieser Unruhe zugrunde gehen oder zum heuchlerischsten aller Pharisäer werden. Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?“

Es sind die Verantwortlichen, die aus Gottes Gnade leben, sich beschenken lassen mit einem neuen Herzen und einem neuen Geist. Die den Machtoptionen dieser Welt widerstehen und den Weisungen Gottes folgen, denn: „Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Ich nehme das versteinerte Herz aus eurer Brust und schenke euch ein Herz das fühlt. Ich erfülle euch mit meinem Geist und mache aus euch Menschen, die meinen Willen leben, die auf meine Gebote achten und sie befolgen.“

 

Zur Vertiefung:

Thomas Krüger, „Das menschliche Herz und die Weisung Gottes. Studien zur alttestamentlichen Anthropologie und Ethik“, TVZ, Zürich, 2009.

Dietrich Bonhoeffer: „Wer hält stand?“ (Dezember 1942); abgedruckt in Dietrich Bonhöffer, Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge. 15. Auflage, Gutersloh, 1994.

Miroslav Volf: “Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität”, Verlag der Franckebuchhandlung, Marburg, 2012.

1 Comment

  1. Mary Güttel

    Your words remind me how we should speak to other people, be they friends or strangers, when they express resentment or rejection of the weak, the poor or the sick among us. As individual Christians we have to bear witness to what we profess in words and deeds.It is easier said than done. Much easier to send money to a charity than to explain why, for instance.

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