1. Besser Streiten
Markus Till hat meinem Buch „Weiterglauben“ eine sehr ausführliche Rezension zukommen lassen – die u.a. auch von Ulrich Parzany auf der Seite des Netzwerks Bibel und Bekenntnis zusammen mit meinem Buch empfohlen wurde. Bei aller Kritik, die Till im Einzelnen äußert, nehme ich erfreut zur Kenntnis, wie gründlich und fair – und oft auch zustimmend – seine Wiedergabe wichtiger Inhalte ausfällt. Ich möchte daher zunächst festhalten, dass Till eine ganze Reihe von Punkten benennt, in denen er mit mir ausdrücklich Übereinstimmung sieht:
– in der Betonung, dass Jesus Christus selbst, nicht unsere Theorien über ihn und nicht unsere subjektiven Erfahrungen mit ihm, die Mitte unseres Glaubens ist.
– in der Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes, das wir nie in den Griff bekommen können.
– in der Betonung der Liebe als wesentlichem Kriterium der christlichen Ethik. Till zitiert ausdrücklich zustimmend den m.E. für jede christliche Ethik wesentlichen Satz: „Wer der Wirklichkeit eines menschlichen Schicksals nicht gerecht wird, weil er sich nicht genügend um ihre Wahrnehmung und um ihr Verständnis bemüht, hat das höchste Prinzip christlicher Ethik, die Liebe, schon im Ansatz verloren.“ (S. 144)
– in der doppelten Abgrenzung von rein individueller Frömmigkeit und drückender Enge in christlichen Gemeinschaften.
– in der Offenheit für erfahrungsoffene Spiritualität, egal, ob wir das nun mystisch nennen oder nicht. Und wenn er hinzufügt: jede Spiritualität die sich „vom Kreuz, von Christus und seinem Wort löst“, sei abzulehnen, stimme ich ebenfalls ausdrücklich zu.
All das ist keineswegs banal. In meinem Buch geht es nicht zuletzt um das Ziel: Besser streiten. Es gibt gegenwärtig erhebliche Spannungen, die sich quer durch unterschiedlichste christliche Kirchen und Strömungen ziehen. Viele strittige Fragen sind so heiß, dass sie kaum noch offen diskutiert werden. Produktiver Streit um die Wahrheit kann nur da gelingen, wo man den/die jeweils andere(n) überhaupt noch zu respektieren vermag als jemanden, mit dem man gemeinsame Werte und Einsichten teilt.
Auf unterschiedlichen Seiten der Christenheit (wie der Gesellschaft insgesamt) scheint heute der Traum um sich zu greifen, die jeweils „ganz anderen“ (die Linken, die Rechten, die Liberalen, die Fundamentalisten etc.) am liebsten gar nicht mehr in der Welt haben zu wollen und sie entsprechend jetzt schon: zu ignorieren, zu verachten, zu bekämpfen etc. Was immer die „ganz anderen“ sagen ist dann – nicht mehr diskussionswürdig. Ein solcher Kulturkampf macht echte Gespräche immer schon unmöglich. Schon Hinhören gilt dann als Schwäche, Toleranz als Feigheit, Kompromisse als Verrat. Wo sich so etwas durchsetzt, geht jede Gemeinde und jede Kirche zugrunde. Wo Menschen nicht mehr miteinander um die Wahrheit ringen, sondern sich gegenseitig bekämpfen, ist nichts mehr zu lernen. Und dabei verpasst man viel. In „Weiterglauben“ schreibe ich: „Diese Gruppe von Christen – man möge wahlweise an Fundamentalisten oder Relativisten, streng Konservative oder sehr Liberale denken – mag in die falsche Richtung gehen. Aber kann es sein, dass sie etwas vor Augen haben, was ich übersehe? Dass sie für etwas eintreten, und wenn auch auf problematische Art und Weise, dessen Wert sich mir zu meinem Schaden noch nicht erschlossen hat? Was ist, wenn die anderen wenigstens ein wenig recht haben? Wenn ich nicht alles, aber doch etwas von ihnen lernen könnte?“ Und vielleicht lerne ich ja in einem ersten Schritt auch nur, meine eigenen Gedanken präziser zu formulieren. Hier ließe sich viel von biblischer Weisheit lernen: „Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, so findet sich’s.“ (Spr 18,17) Und: „Ein Messer wetzt das andre und ein Mann den andern.“ (Spr 27,17). In diesem Sinne: Besser streiten!
2. Klarer Bekennen
Genug nun der Harmonie, streiten wir ein wenig. Dabei möchte ich mich nicht bei diesem oder jenem Detail aufhalten, wo ich mich un- oder missverstanden fühle. Tills kritische Anfragen drehen sich vor allem um Fragen des Schriftverständnisses (in meinem Buch die Kapitel 4-6). Bei aller Zustimmung, die er für einige Gedanken aufbringen kann, stellt er an entscheidender Stelle doch fest: Ich schütte „das Kind mit dem Bade“ aus. Und dabei sind wir offensichtlich nicht einig, was in Sachen Schriftverständnis das „Kind im Bade“ ist.
Nun liegt das nicht an Unklarheit auf meiner Seite. Im Kapitel 4 meines Buches mache ich meine Sicht dazu ja sehr klar: Das Evangelium von Jesus Christus bzw. Jesus Christus selbst ist das „Kind im Bade“. Markus Till widerspricht dem natürlich nicht. Er ist nur der Überzeugung: Ohne Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit bzw. Unfehlbarkeit der Bibel lässt sich auch das Christusbekenntnis nicht bewahren.
Nun stellt auch Till fest: „Soweit ich das sehe spricht Dietz in seinem Buch an keiner einzigen Stelle über Irrtümer in der Bibel, um seine These zu begründen.“ Nein, in der Tat: Ich selbst gehe mit einem großen Vertrauen an die Bibel, dass sie uns Gottes Heilshandeln zuverlässig und vertrauenswürdig bezeugt. Dann aber sieht Till einen „grundlegenden Argumentationsfehler“ meines Buches darin, dass ich nicht zwischen Bibel und Bibelauslegung unterscheide. Er schreibt „Die Argumentation von Thorsten Dietz misslingt aus meiner Sicht also im Kern an einer fehlenden Differenzierung zwischen einer unfehlbaren Schrift und einer unfehlbaren Auslegung.“
Nein, hier stimme ich nicht zu. Eine solche Unterscheidung treffe ich nicht, weil in dieser Differenzierung das erste unklar, das zweite selbstverständlich wäre. Zum Selbstverständlichen: So etwas wie eine unfehlbare Bibelauslegung vertritt in der Christenheit niemand (mehr). Gegen falsche Bibelauslegungen sind – alle. Ist die Ablehnung einer unfehlbaren Bibelauslegung also selbstverständlich, so ist die Behauptung einer unfehlbaren Bibel – klärungsbedürftig. Daher müssen wir vielmehr unterscheiden zwischen der Schriftauslegung und dem Schriftverständnis. Und dann muss man bei der Frage des Schriftverständnisses genauer erklären, was man sich unter einer „unfehlbaren Schrift“ vorstellt und was nicht.
Nun könnte man sich an dieser Stelle ja auch um einen schnellen Frieden bemühen. Worte wie „unfehlbar“ oder „irrtumslos“ werden in der gesamtchristlichen Lehrentwicklung zur Bibel seit der Antike ohne besondere Betonung tradiert – bis zur Gegenwart. In der wichtigen katholischen Erklärung Dei Verbum im 2. Vatikanischen Konzil heißt es über die biblischen Texte, „dass sie sicher (firmiter), getreu (fideliter) und ohne Irrtum (sine errore) die Wahrheit lehren […]“ Auch in der gemeinsamen Erklärung der weltweiten Evangelischen Allianz und der Katholischen Kirche können sich beide Seiten auf das Wort „irrtumslos“ einigen.
Auf katholischer Seite wird dieses Wort seit dem 2. Vatikanum in ziemlicher Weite verwandt. In der direkten Fortführung des Satzes heißt es in Dei Verbum: „[…] die Gott um unseres Heiles willen (nostrae salutatis causa) in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.“ Irrtumslos ist die Bibel – weil sie nicht in die Irre führt, sondern zu Gott. Wir können der Bibel ganz und gar vertrauen in ihrem Zeugnis vom Heilshandeln Gottes. Darin ist die Bibel unfehlbar. So formuliert – gerne.
Ein solches offenes Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit der Bibel bedeutet natürlich nicht, dass man alle biblischen Berichte für historisch halten müsse oder die vermeintlichen Verfasserangaben zu biblischen Texte für zutreffend hält. Ein solches weites Verständnis von „Irrtumslosigkeit“ ist mit der modernen historisch-kritischen Bibelauslegung grundsätzlich vereinbar. Vgl. Die Interpretation der Bibel in der Kirche (1993) von der Päpstlichen Bibelkommission, in dem das Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit der Bibel wiederholt und gleichzeitig die Historisch-kritische Auslegung der Bibel weitgehend anerkannt wird.
Nun sind viele konservative Evangelikale mit einer solchen Auslegung von „irrtumslos“ nicht einverstanden. Darum haben sie mit der Chicagoer Erklärung (1978) ein Bekenntnis verfasst, das ausdrücklich festschreiben soll, wie das Wort zu verstehen ist: Auch im Blick auf historische, naturkundliche und literarische Fragen ist die Bibel uneingeschränkt wahr. So weit ich sehe, macht Markus Till sich diese Zuspitzung nicht völlig zu eigen, aber er zeigt zumindest eine starke Tendenz in diese Richtung.
Nun könnte ich es mir wieder leicht machen und darauf verweisen, dass dieses zugespitzte Verständnis von Irrtumslosigkeit im deutschen Sprachraum selbst unter Pietisten und Evangelikalen stets das Anliegen einer Minderheit war. Im Raum der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung wurde es an fast allen Ausbildungsstätten noch nie vermittelt oder von leitenden Geistlichen vertreten. In der Evangelischen Allianz ist es ebenso. Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die leitenden Brüder der Ev. Allianz beschlossen, sich nicht der Weltweiten Allianz anzuschließen, weil man ihrem Bekenntnis von Unfehlbarkeit der Bibel nicht zustimmen wollte. (Holthaus 2003:309ff)
Aber ich möchte mich hier nicht einfach auf einen weitgehenden Konsens selbst im Pietismus zurückziehen, sondern diesen auch begründen. Im 5. Kapitel meines Buches versuche ich genauer zu erklären, warum ich eine solche Zuspitzung für unsachgemäß und auch unbiblisch halte.
3. Ehrlicher Urteilen
In Weiterglauben stelle ich anhand der Sintflutgeschichte ausführlich dar, warum man sie nicht als Tatsachenbericht lesen kann und ich sie zugleich theologisch sehr hoch schätze. Mir ist aus Tills Rezension nicht klar geworden, wie er die Sintflutgeschichte versteht, weil er selbst sehr schnell auf eine grundsätzliche Ebene wechselt. Er macht es sich dabei nicht leicht. Freimütig räumt der promovierte Biologe Till ein: „Ich möchte die biblische Urgeschichte eigentlich nicht als historischen Bericht sehen. Mir fiele es wesentlich leichter, ihn nur symbolisch zu verstehen […]“
‚Ja Mensch‘, werden vielen sagen. Warum tut er sich das an? Auch wenn ich an dieser Stelle eine andere Position vertrete: In meinem Buch breche ich ja immer wieder eine Lanze für solche Menschen. Warum wollen sie die Bibel ernst nehmen, auch wenn es ihnen schwer fällt? Weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass die Bibel anders ist, als alle anderen Bücher. Und dass sie trägt, tröstet, begeistert und verwandelt, wenn man sich ganz auf sie verlässt. Und weil sie mit Gründen befürchten: Wenn man erst einmal anfängt, sich die Bibel zurechtzumachen, wie man es gerade gerne hätte, gerät man immer mehr auf eine schiefe Ebene. Darum wollen sich viele Gläubige auch dann zur Bibel bekennen, wenn es schwer fällt. Darum halten sie auch historische Randfragen nicht für nebensächlich.
Till legt auch Wert darauf, dass es nicht einfach irrational ist, der Bibel in ihren Erzähltexten historisch Glauben zu schenken. Er beruft sich dabei auf Armin Baum, Professor für Neues Testament an der FTH in Gießen. Das finde ich grundsätzlich sehr positiv, denn das Problem ist ja: viele Gläubige, die sich als bibeltreu verstehen, ignorieren nach meiner Beobachtung häufig nicht nur „liberale“, sondern jegliche Theologie. Ich hoffe daher sehr, dass sie nicht nur Baums idea-Interview zur Kenntnis nehmen, sondern auch in seine Einleitung ins Neue Testament hineinsehen.
Armin Baum macht deutlich, dass wir die neutestamentlichen Autoren als Zeugen geschichtlicher Ereignisse durchaus ernst nehmen können. Sie wussten zwischen Mythos und Geschichte zu unterscheiden, weil das seit Thukydides (ca. 460-395 v.Chr.) für die antike Geschichtsschreibung insgesamt gelte.
Nun stimme ich Baum gegenüber einer deutschen Neigung zu radikaler Skepsis tendenziell zu. So viel ist dann aber auch klar: Wir müssen schon genau hinsehen, welches Geschichtsverständnis wir bei biblischen Texten voraussetzen können – und welches nicht. Denn wenn man von Thukydides in der griechischen Literatur weiter zurückschreitet – auf der Linie Herodot, Hesiod oder Homer – merkt man schnell, dass man eine klare Unterscheidung von Historie und Legende immer weniger voraussetzen kann. Das heißt aber auch: Wir können das Geschichtsverständnis der klassisch griechischen Geschichtsschreibung seit Thukydides nicht einfach für alttestamentliche Texte voraussetzen, die viel älter sind. Und so sehr es angemessen ist, für die Auslegung z.B. der Apostelgeschichte einmal zu vergleichen, was die Standards antiker Geschichtsschreibung etwa bei Thukydides waren, so sehr muss man bei einem Text wie der Sintfluterzählung ebenfalls nach zeitgenössischen Parallelen suchen; und dann stößt man eben auf das Gilgamesch-Epos, wie ich in meinem Buch.
Fragen der historischen Zuverlässigkeit können nicht einfach nach heutigen Maßstäben beurteilt werden. „Unsere“ Alternativen: Will der Text historisch verständen werden oder (nur) symbolisch, wird vielen alttestamentlichen Texten schlicht und einfach nicht gerecht. In meinem Buch gehe ich diese Frage durch am Beispiel der Sintfluterzählung mit der schlichten These, dass diese Erzählung ein historischer Bericht weder sein will noch kann – und dass diese Einsicht ihr nichts von ihrer theologischen Tiefe nimmt, im Gegenteil, erst zur Frage danach befreit (Vgl. z.B. auch den Vortrag von Prof. Dr. Helmut Brücker „Geoarchäologische Aspekte zur Sintflut“, gehalten im Zinzendorf-Institut Marburg im November 2017).
Manche Christen verstehen das „allein die Bibel“ bisweilen so, als wären auch alle außerbiblischen Texte und Beobachtungen überflüssig, um die Bibel zu verstehen. Aber das ist ein unhaltbares Missverständnis. Es ist schlicht und einfach unmöglich, die Bibel ohne ihren historischen Hintergrund zu verstehen. Es gibt keine Bibelübersetzung ohne intensive Beschäftigung mit dem damaligen Kultur- und Sprachraum.
Viele Fragen sind dabei alles andere als leicht zu klären. Es gibt keinen Grund zur radikalen Skepsis. Aber auch Christinnen und Christen, die möchten, dass alle Texte so gemeint sind, wie sie mit ihrem modernen Kopf sich angewöhnt haben zu verstehen, machen es sich zu einfach. Mehr Zurückhaltung wäre ehrlich. Es sind maßlose Übertreibungen, dass in der modernen Schriftauslegung alles in Frage steht. Viele geschichtliche Grundlinien des neutestamentlichen Christuszeugnisses sind allgemein anerkannt. Und bei manchen Texten wie der biblischen Urgeschichte gibt es keine seriöse Grundlage, von einer historischen Tatsächlichkeit der Erzählungen auszugehen. Es kann nicht bibeltreu sein, Texten eine Aussageabsicht zuzuschreiben, die sie in ihrer Entstehungszeit gar nicht gehabt haben konnten. In Sachen Schriftverständnis halte ich daher eine Festlegung auf die Begriffe irrtumslos und unfehlbar im engeren Sinne für biblisch unbegründet und sachlich unangemessen. Hier werden an die biblischen Texte Maßstäbe herangetragen, die ihnen selbst fernlagen.
In diesem Sinne empfehle ich nachdrücklich die gründliche Lektüre des gerade erschienen Grundlagentextes im Bund Freier evangelischer Gemeinden: Gottes Wort im Menschenwort. Zum Schriftverständnis in Freien evangelischen Gemeinden. Ich teile ganz die dort vorgenommene Konzentration der Schriftauslegung auf das Zeugnis von Jesus Christus wie die Betonung, die biblischen Texte historisch verantwortungsbewusst als Texte der Antike auszulegen. Diesem Maßstab wird der klassische Fundamentalismus nicht gerecht.
4. Neu Denken
Auch Markus Till deutet im Blick auf historische Fragen ja eine gewisse Offenheit an, wenn er schreibt: „Nun kann man an diesem Punkt tatsächlich unterschiedlicher Meinung sein.“ Auch im Netzwerk Bibel und Bekenntnis ist ja klar, dass viele Christinnen und Christen, die diese Initiative unterstützen, eine Irrtumslosigkeit im Sinne der Chicagoer Erklärung gar nicht vertreten.
Viel gewichtiger scheint die Frage: Darf es echte theologische Sachkritik an der Bibel geben? Daran entzündet sich für viele der Protest gegenüber der modernen Theologie und den Volkskirchen, am Eindruck: in der Kirche wird die Bekenntnis zu Kreuz und Auferstehung Jesu verwässert oder aufgehoben. Eindeutige ethische Maßstäbe werden relativiert oder ignoriert. Um solche zentrale Fragen geht es, und darum sind manche Pietisten und Freikirchler auch bereit zur Zusammenarbeit mit sehr konservativen Evangelikalen, die sich früher selbstbewusst Fundamentalisten nannten.
Bei diesen Fragen geht es nicht einfach um das richtige Schriftverständnis. Denn offenbar kommen auch Gläubige mit sehr ähnlichem Schriftverständnis zu unterschiedlichen Überzeugungen. Hier geht es um die Frage angemessener Schriftauslegung. Und diese Frage verdient noch einmal besondere Aufmerksamkeit.
Im 6. Kapitel meines Buches geht es mir um die Einsicht: Angemessene Bibelauslegung muss stets schrift- und sachgemäß sein. Sie muss biblische Texte im Kontext ihrer Zeit angemessen verstehen. Und sie muss bei jeder Übertragung der Bibel auf gegenwärtige Fragen den heutigen Kontext von Sprache und Kultur ernstnehmen. So verhält es sich auch bei dogmatischen Fragen: wer über das Kreuz Christi nachdenkt, kann die Differenz von antiken und heutigen Denkvoraussetzungen nicht einfach ignorieren. Noch stärker gilt dies für ethische Fragen.
Ich halte es da ganz mit dem lutherisch-pietistischen Theologen Johann Georg Hamann, der im Blick auf die Bibel betonte, wir wissen von „keinen ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich Zeitlichen“ (Hamann 1951:303). Diese Formulierung schließt ja so etwas wie ewige Wahrheit nicht aus, macht aber deutlich, dass diese immer in zeitbezogenen Formulierungen gegeben ist – die immer wieder neu und anders versucht werden müssen. Viele sich hier stellende Fragen sind erheblich komplexer, als vielen Christinnen und Christen bewusst ist. So gibt es bekanntlich viele klare Aussagen Jesu bzw. des Neuen Testaments in ethischen Fragen wie:
– Du sollst keine Geschiedene heiraten. (Lk 16,18)
Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. (Mt 5,40)
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. (Mt 25,43)
– Die Frau schweige in der Gemeinde. (1Kor 14,34)
Christinnen und Christen ringen bis heute mit diesen Aussagen – und sie finden unterschiedliche Wege, sie auszulegen. Bei einigen biblischen Geboten aus dem Bereich des Sozialen bzw. der Politik sind nicht zuletzt konservative Gläubige sehr (oft zu) schnell bereit zu sagen: Aber wir müssen doch die Realität berücksichtigen! Den Rechtsstaat, die Grenzen der Belastbarkeit bzw. des Zumutbaren! Das kann so nicht wörtlich gelten. Andere kommen bei anderen Geboten zur Einsicht, dass ein wörtliches Verständnis weder der heutigen Wirklichkeit noch dem Maßstab der Liebe gerecht wird.
Wenn Ulrich Parzany z.B. sagt: „Ich war immer dafür, dass auf die Kanzel gehört, wer von Gott berufen und begabt ist. Da geht es nicht ums Geschlecht“ stimme ich ihm grundsätzlich und in der Sache völlig zu. Eine andere Frage ist es, ob man eine solche Haltung biblisch gut begründen kann, so, dass auch konservative Gläubige merken, dass man biblische Aussagen nicht einfach ignoriert, sondern begründet zeigen kann, warum sie heute nicht mehr gelten, sondern gelesen werden müssen im Horizont ihrer damaligen Zeit. Um einen solchen Nachweis bemühe ich mich z.B. in meinem Worthausvortrag „Die christliche Gemeinde – der Mann als Gottes Repräsentant, die Frau als schweigende Zuhörerin?“
Ethische Fragen stellen uns heute vor komplexe Herausforderungen. Christinnen und Christen kommen nicht nur zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie können häufig kaum erklären, wie sie überhaupt zu ethischen Urteilen kommen. An dieser Stelle haben viele ernsthafte Auseinandersetzungen gerade erst begonnen.
5. Weiter Diskutieren?
Ich kann mir gut vorstellen, dass viele längst aufgestöhnt haben: Du lieber Himmel: hören diese Diskussionen um Adam und Eva denn nicht auf? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Was ist denn hier los? Da sehen sich evangelikale Christinnen und Christen besonders der Aufgabe verpflichtet, missionarische Zeugnis zu geben, und ja, da gäbe es in Europa schon etwas zu tun. Aber anstatt ihre Kräfte zu bündeln, haben sie sich in lähmende Streitfragen verwickelt, wer wann seine Sexualität ausleben darf und wieviel Konsens im Schriftverständnis man braucht, um noch als bibeltreu zu gelten.
Aber das Schlimme ist ja: Spannungen gibt es nicht nur in Evangelikalien. Da ist die Römisch-katholische Kirche der letzte globale Player dieser krisengeschüttelten Erde. In Zeiten wachsenden Nationalismus könnte ein solches weltweites Netzwerk enorm wichtig sein. Und: Seit Jahren fließt ungeheuer viel Energie in Fragen wie: Dürfen wiederverheiratete Geschiedene unter ganz bestimmten Umständen an der Eucharistie teilnehmen? Oder die deutsche Debatte, inzwischen auch unter Beanspruchung weltkirchlicher Zeitressourcen: Dürfen konfessionsverschiedene Ehepaare, die seit langer Zeit faktisch gemeinsam an der Messe teilnehmen – dies künftig vielleicht sogar offiziell? Man vergleiche auch die protestantischen innerkirchlichen Debatten, ob im Reformationsjubiläum zu viel oder zu wenig, zu kritisch oder zu unkritisch von Luther die Rede war…
Ich bin gewiss nicht der einzige, der all diese Fragen zwar durchaus für diskussionswürdig hält, aber der den Stellenwert dieser Streitfragen und die damit verbundenen Lagerbildungen etc. oft für grotesk überzogen hält. Was ist denn los in Christianien, dass solche Fragen Gremien und Synoden lahm legen? Eine Christenheit, die sich chronisch in Konflikte um solche Sachfragen verstricken lässt, hat viel größere Probleme als die, um deren Lösung sie sich zerstreitet.
Sehr viele Menschen haben es heute aufgegeben, in die christliche Richtung ernsthaft zu horchen. Sie sind auch nicht mehr daran interessiert, ob unsere Selbstbeschäftigung durch einen langen Reformstau oder eine spirituelle Gotteskrise verursacht ist. Wir stehen heute alle vor grundlegenden Herausforderungen, den christlichen Glauben so für uns und für andere zu formulieren, dass die Mitte des Evangeliums spürbar wird. Wir finden wir in unserer Zeit Worte des Glaubens, eine Sprache der Liebe und eine Haltung der Hoffnung? Was sagen wir auf die von Bonhoeffer klassische formulierte Frage, wer Jesus Christus für uns heute ist?
Unsere wesentlichen Herausforderungen sind zu groß, als dass eine zersplitterte und zerstrittene Christenheit ein hilfreiches Zeugnis geben könnte. Ich halte es da ganz mit dem Wort aus dem Film Black Panther: „In Zeiten der Krise bauen die Weisen Brücken, während die Narren Mauern errichten.“ Die wirklich wichtigen Fragen unserer Zeit kann keine christliche Strömung mehr allein klären. In diesem Sinne: Weiter Diskutieren, vor allem auch über die wirklich wichtigen Fragen.
Quellen:
Stephan Holthaus, Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf und die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Holzgerlingen 2003, 309ff.
Johann Georg Hamann, Sämtliche Schriften. Hg. von Josef Nadler, Bd. III, Wien 1951, 303.
In der Tat hat man überall das Zentrum aus den Augen verloren und ist voll mit Nebenfragen beschäftigt. SO werden wir immer weniger Menschen erreichen. Es bedarf keiner Rückkehr zu Bibel und Bekenntnis, sondern hin zu echter christlicher Spiritualität. Nur aus einem lebendigen, alltäglichen Glauben, erwächst durch Anfechtungen und Erkenntnis der Wahrheit die echte Erlösungslehre und die Fähigkeit als Erlöster zu leben.
Voll und ganz ist zu unterstreichen: “Unsere wesentlichen Herausforderungen sind zu groß, als dass eine zersplitterte und zerstrittene Christenheit ein hilfreiches Zeugnis geben könnte.”
Mein Blogbeiträge stammen aus dem christlichen Lebensvollzug und sind für den christlichen Lebensvollzug. Dass man dabei zu tiefen Einsichten und Erkenntnissen kommt, geht daraus hervor.
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