„Jahreslosung 2018: Gottessehnsucht und Alltagspragmatismus: Über die Sehnsucht des Menschen und die Hoffnung des Glaubens.“

Theologie

 

 

Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Offenbarung 21,6

 

Ist da jemand, der mein Herz versteht?

Und der mit mir bis ans Ende geht?

Ist da jemand, der noch an mich glaubt?

Ist da jemand? Ist da jemand?

 

Adel Tawil

 

Fulminant kommt die Jahreslosung 2018 daher, ein Wort aus dem letzten Buch der Bibel, dem vorletzten Kapitel. Der Seher Johannes beschreibt das neue Jerusalem, das auf der „runderneuerten“ Erde entsteht. Gott selbst wird in diesem neuen Jerusalem wohnen und die Völker werden Gottes Völker sein und Gott selbst wird abwischen alle Tränen. Ein Bild, dass schon der Prophet Sacharja gesehen hat und wunderbar beschreibt, dass das neue Jerusalem keine Mauern der Abgrenzung mehr braucht, sondern die Menschen sich um Gottes Heiligkeit gruppieren. Ein wunderbares und tröstendes Wort, das uns heute gilt und einen Ausblick der Hoffnung gibt, auf das was noch kommt und einen Einblick in das gibt, was wir heute schon in dieser Hoffnung leben können, in dieser Spannung zwischen dem angebrochenen Reich und noch nicht vollendeten Reich Gottes. Und mitten in diese Spannung spricht Gott: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Durstig sein – existenziell und körperlich

Durstig sein – im wörtlichen Sinn – kennen wir im Westen kaum. Dieses existenzielle Gefühl, dass der ganze Körper, die ganze Seele nach Überleben schreit. Die Strapazen, die aufgenommen werden müssen, um an Trinkwasser zu kommen. Wer einmal in der Wüste „Death Valley“ eine Autopanne hatte, kennt dieses Panikgefühl und dies in einem Luxusurlaub als eine Art existenzielles Überflussgefühl. Für Millionen Menschen ist dies ein täglicher Existenzkampf – sauberes Trinkwasser. Der mühsame und beschwerliche Weg zur Quelle. Ein Kampf ums Überleben. Oft von den Frauen eines Dorfes im Sudan, Angola oder Papua-Neuguinea. 844 Millionen Menschen haben nach dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des UN-Kinderhilfswerks Unicef (2017) noch nicht einmal Zugang zu einer elementaren Trinkwasserversorgung. 263 Millionen Menschen müssen mehr als eine halbe Stunde pro Weg in Kauf nehmen, um zu einer Wasserquelle zu gelangen. Gar 2,1 Millionen haben kein Trinkwasser in ihrer Wohnung und 361 000 Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an den Folgen von Durchfallerkrankungen – vor allem, weil sie kein sauberes Trinkwasser haben.

Durstig sein – existenziell und seelisch

Aber es geht in diesem Text um noch mehr als um sauberes Trinkwasser, was nicht zynisch klingen soll, angesichts der beschriebenen Umstände, sondern eine weitere Dimension unseres Lebens ins Auge fasst: Meine Seele dürstet nach Leben. Nach Erfüllung, nach Sinn, nach gesehen und gebraucht werden. In einer Kultur, die schon alles hat, beschleicht viele das bittere Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, es sei denn, ich falle auf, mache mich einzigartig und unverzichtbar. Der Schlüsselsatz der Moderne zur eigenen Lebensführung lautet „Was wir tun und wie wir leben wollen.“ Was aber sind die Kriterien dafür? Die ethischen Leitlinien? Die Vernunft? Die Natur? Die Erfordernisse des Gemeinwohls? Nein, sagt der Soziologe Hartmut Rosa und antwortet mit Charles Taylor: Es ist die Authentizität! Sie wird immer mehr zum Maßstab, sich selbst verwirklichen zu können. Ich muss mir selbst treu bleiben. Sich selbst finden, treu bleiben, nicht verbiegen lassen, endlich das finden, was zu einem passt. Aber diese Suche, diese Sehnsucht ist nicht so einfach und bringt eine Fülle an neuen Fragen mit sich: Was gibt mir Energie? Vitalisiert mich? Lässt mich innerlich aufjubeln? Zieht die Blicke anderer neidvoll auf mich? Wo bekomme ich dieses „erfrischende Wasser“ her? Und dies sind keine postmodernen Luxusprobleme einer verwöhnten jungen Generation, sondern ist der Ausdruck einer Suche nach dem, was die innere Sehnsucht so sehr verspürt. Diese Suche ist komplex. Folgen wir den Glückratgebern, so sind es Geld, Gesundheit und Gemeinschaft, die diese Sehnsucht stillen. Aber diese Ressourcenfixierung wird durch die Ungleichheitsforschung schnell widerlegt. Denn es braucht mehr als äußere Faktoren um glücklich zu sein, obwohl diese natürlich einen nicht unerheblichen Einfluss haben können, aber tiefer liegt der Wunsch nach Anerkennung (Honneth) und die Frage, von was ich mich alles entfremdet habe, den Kontakt verloren habe, es nicht mehr spüre oder wahrnehme. Alles materielle Glück dieser Erde wird die Sehnsucht in mir nicht stillen, wenn ich mir selbst nicht mehr nahe bin. Diese Sehnsucht zeigt sich in den kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten auf unterschiedliche Art und Weise.

Durstig sein heute: Indifferent und sehnsüchtig

In den heutigen gesellschaftlichen Umbrüchen ist das besonders spannend. Nach Jahrhunderten, in denen das Christentum eine prägende gesellschaftliche Kraft war, erleben wir zunehmend, dass Glaube und Kirche aus einem ganz neuen Blickwinkel verstanden werden müssen. Der tschechische Theologe Tomas Halik beschreibt die Menschen heute in seinem Buch „Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute“ folgendermaßen:

„Der Weg hin zu den heutigen Zachäus-Menschen – sie stehen am Rande oder befinden sich hinter den sichtbaren Grenzen der Kirchen, in einer Zone von Fragen und Zweifeln, in jener seltsamen Landschaft zwischen den zwei abgeschotteten Lagern derer, die sich ‚im Klaren’ sind (nämlich selbstsichere Gläubige und selbstsichere Atheisten) – half mir, den Glauben zu verstehen sowie Jenen zu begreifen, auf den sich der Glaube bezieht, und zwar neu, aus einem anderen Blickwinkel.“

Ein Wort, das versucht, diesen Rand heute zu beschreiben ist „Indifferenz“ – ein Wort mit einer langen Geschichte. So sprach schon Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert in seinen ‚Exerzitien‘ von Indifferenz und stellt fest, dass Indifferenz keine lahme Gefühlslosigkeit, sondern eine Haltung der Gleichmütigkeit darstellt, die zu allem bereit ist. Auch Friedrich Schleiermacher befasst sich mit dem Phänomen des ‚Indifferentismus‘ und versteht darunter eine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber der christlichen Frömmigkeit. Indifferenz ist heute ein Ausdruck der Pluralismen in der modernen Gesellschaft zwischen Glaube und Säkularität. Der Religionssoziologe Peter L Berger war einer der ersten, der selbstkritisch zugab, dass Glaube und Säkularität sich keinesfalls ausschließen, es gerade heute keine starre Dichotomie zwischen Glauben und Säkularem, sondern vielmehr eine fließende Konstruktion des ‚Sowohl-als-auch’ gibt. Der kanadische Philosoph Charles Taylor beschreibt diese gegenwärtigen religiösen Transformationsprozesse einer explodierende ‚Super-Nova’ der Religiosität. Statt der einen christlich institutionalisierten Sonne rotiere nun religiöser Sternenstaub durch den Menschheitskosmos. Zentral zusammengehalten werde diese ‚Super-Nova’ von einer ‚Ethik der Authentizität’. Taylor vertritt die These, dass es dabei um „eine neue Gestalt der zum Glauben veranlassenden und durch Glauben bestimmten Erfahrung“ geht. Zentrales Merkmal dieser ‚Säkularität’ ist demnach eine neue subjektive Erfahrungswelt, in der alles spirituell wird, was mir in meinem Leben weiterhilft. So entsteht eine neue spirituelle Sehnsucht. Wenn wir diesen Ansatz auf unsere Verhältnisse in Deutschland anwenden, kann man sagen: Wir erleben auf der einen Seite eine institutionelle Säkularisierung mit einer gleichzeitigen neuen, subjektiv aufgeladenen Spiritualisierung. Dies bestätigen auch viele Umfragen in den letzten Jahren. So sind 60% der Deutschen nach Zulehner (GottesSehnsucht) ‚spirituell Suchende’. Der Bertelsmann Religionsmonitor teilt religiöse Jugendliche in Deutschland in zwei Gruppen ein: 11% Hochreligiöse & 41% Religiöse. Interessant ist dabei, dass sich dabei auch das Gottesbild verändert, wie die Ergebnisse der letzten Shell Studie zeigen, die feststellt, dass Jugendlichen immer weniger an einen persönlichen Gott glauben, aber vermehrt an eine göttliche Macht. Der Bielefelder Soziologe Hurrelmann hat diese spirituelle Suche passend beschrieben: „Jugendliche sind im weitesten Sinne ‚religiöse Touristen‘; sie tauchen kurz und sporadisch in religiöse oder quasireligiöse Kontexte ein und nehmen die Angebote mit, die ihnen derzeit bei der Lebensbewältigung am nützlichsten erscheinen.“ Es geht dabei also weniger um die Frage „Was glaube ich?“, sondern eher die Frage „Wie glaube ich?“. Glaube muss für viele Menschen individuell erlebbar sein, subjektiv nachempfunden werden und für die eigene Lebenssituation im wahrsten Sinn des Wortes für sie: Sinn machen.

Durstig sein: Gottessehnsucht und Alltagspragmatismus

Die Psychologin Tatjana Schnell stellt dazu fest: „Ein großer Teil unserer Bevölkerung lebt in einer existenziellen Indifferenz, hat also kein sinnerfülltes Leben, sucht nicht danach oder vermisst es.” Glaube hat, so Schnell, für viele Menschen zunächst eine immanente Bedeutung und eine funktionale Wirkung. Ihr Verständnis von Glauben hat demnach einen Bezug zu lebensweltlichen Kategorien wie Familie, Heimat, Glück, Frieden, etc. Aber wie wird diese Sehnsucht gestillt? Ich habe dieses Jahr eine spannende Masterarbeit zum Thema „Spirituelle Sehnsucht verstehen“ begleitet. Die Autorin geht der Frage nach, wie spirituelle Sehnsucht von Yogapraktizierenden aussieht und wo Anknüpfungspunkte an eine christliche Spiritualität liegen. Dafür führt sie qualitative Interviews durch, in denen Yogapraktizierende selbst zu Wort kommen und ihre Beweggründe für die Yogapraxis schildern. Die Ergebnisse sind sehr spannend und spiegeln meines Erachtens gut die beschriebene Analyse wieder, denn Yoga ist für viele Befragte ein Ausdruck ihrer inneren Sehnsucht nach Verzauberung, Verbundenheit, Anerkennung, gelebter Liebe und danach, sich freier zu fühlen, ja nach der Sehnsucht nach einem sicheren Leben. Nach der Hoffnung, durch einen spirituellen Weg Erfüllung zu bekommen, damit der innere Durst gelöscht werde. Diese tiefe Sehnsucht nach einer Stillung der eigenen Sehnsucht zeichnet alle Interviewten gleichermaßen aus. Wenn dem so ist, dann drängt sich natürlich eine spannende Frage geradezu auf: Warum profitiert die Kirche kaum von diesem Trend?

Durstig sein: Wo ist das lebendige Wasser der Kirche?

Kirchen und Gemeinde stehen heute in einer Konkurrenz zu den verschiedensten spirituellen Angeboten und müssen sich auf die veränderten religiösen Bedürfnisse der Menschen einlassen und entsprechende Angebote vorlegen. Eine der großen Herausforderungen von Kirche ist dabei, das Evangelium immer wieder neu in die jeweilige kulturelle Situation zu kontextualisieren. Schon Jesus hat die Fragen nach dem „Sinn im Leben“ unterschiedlich beantwortet, wie das Johannesevangelium bezeugt (Nikodemus, Frau am Jakobsbrunnen, Heilung am Teich Bethesda etc.). Daraus ergeben sich drei Punkte, die im Blick auf die Jahreslosung dabei helfen können, lebendiges Wasser zu den Durstigen zu bekommen.

a) Mehr Sprache bitte: Gott als „Leerstelle“.

Es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass sich der Traditionsabbruch vor allem an der Sprache abzeichnet, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kirche. Menschen verstehen nicht mehr, wenn wir von Gott reden. Gott wird zur subjektiven Leerstelle eines jeden, wie folgendes Beispiel im Kontext einer qualitativen Umfrage vom „Kreuz“ aufzeigen: Ein fünfzehnjähriger Jugendlicher hatte im Zentrum seiner Glaubenscollage ein Kreuz. Auf die Frage, was dieses Kreuz für ihn bedeute, antwortete er, dass es für „Gesundheit“ stehe. Auf die Nachfrage, warum, erzählte er, dass sein Lieblingsverein Juventus Turin sei und sein Lieblingsspieler DelPiero. Dieser bekreuzige sich beim Einlaufen auf das Spielfeld und sage, dass ihm das Gesundheit bringe und vor Verletzungen schütze. Deshalb sei das Kreuz für ihn so wichtig. Hier wird deutlich, wie wichtig die subjektive Interpretation der Symbole durch die Menschen selbst sind, da einem Außenstehenden die tatsächliche Bedeutungszuschreibung verborgen geblieben wäre. Glaube zeigt sich zunehmend unabhängig von dogmatischen und konfessionellen Grundsätzen. Die eigenen Erfahrungen bilden die Grundlage für eigene Glaubenskonstrukte, dabei verhalten sich viele wie religiöse Touristen, sie tauchen kurz und sporadisch in religiöse oder quasireligiöse Kontexte ein und nehmen die Angebote mit, die ihnen derzeit bei der Lebensbewältigung am nützlichsten erscheinen. In einem Bild gesprochen, könnte man von einem „Schengener Abkommen des Glaubens“, reden. Die bisherigen Grenzen von Glauben, Konfessionen, gesellschaftlichen Normen und Traditionen werden aufgelöst, bisherige Grenzen verschwimmen und neue Wege werden gegangen, so dass neue Identitäten des Glaubens entstehen. Dies lässt sich an drei wesentlichen Punkten festmachen: a) Kaum Anbindung an die traditionelle, konfessionelle Glaubenssprache der Kirchen, b) Kaum Anbindung an die institutionellen Organisationen/Kirchen, die traditionell für das Erste verantwortlich sind und c) Kaum Anbindungen an semantische Verständnisse theologischer Grundbegriffe des Glaubens (dogmatische Grundaussagen)

Auf der Frage nach der Kommunikation des Evangeliums und der semantischen Deutung wird eine zentrale Bedeutung für das Gestalten von Kirche liegen. Dazu kommt, dass die klassische Verbundenheit über Mitgliedschaft und Taufe gerade für junge und indifferente Menschen wenig Bedeutung hat.

b) Mehr Verbundenheit bitte: Believing vs. Belonging

Dies betrifft auch einen weiteren Punkt, die Kirchenbindung, da die klassische Kirchenmitgliedschaft für viele junge Erwachsene nicht mehr die zentrale Rolle in ihrer Identifikation mit der Kirche spielt. Aber gerade in indifferenten Zeiten braucht es stabile Identifikationspunkte. Deshalb wird es von Nöten sein, über Kirchenverbleibmotivationen nachzudenken, zum einen inhaltlicher Art und zum anderen auch formaler Art. Wie sieht Kirchenidentifikation aus in Zeiten, in denen bei jungen Erwachsene „believing before belonging“ zählt? In welchem Verhältnis stehen „Glaube“ und Zugehörigkeit“ bei indifferenten jungen Erwachsenen? Der niederländische Theologe Hans Schildermann sieht vier Konstellationen:

  1. Indifferenz gegenüber Religiosität – belonging without believing
  2. Kongruenz mit säkularer Optionswahl und Autonomie neither belonging nor believing
  3. Indifferenz gegenüber religiöser Repräsentanten – believing without belonging
  4. Kongruenz mit religiöser Repräsentanten und Religiosität – belonging and believing

Für unsere Jahreslosung sind vor allem die ersten drei Möglichkeiten interessant und es ergeben sich einige ekklesiologische Fragen, die hier aber nicht näher beantwortet werden können: Wie und wann gehören spirituell Suchende zur Kirche? Und wann fängt Kirche überhaupt an? Dies scheinen alte und längst geklärte Fragen zu sein, die jetzt von der neuen Generation neu gestellt werden.

c) Mehr Körperlichkeit bitte: Kirche als Ort der Gefühle?

Vielen Menschen geht es in ihrer Sehnsucht nicht um Wissen, oder einem gewiss machenden Glauben, ein für wahr halten; sondern um die Sehnsucht nach Festigkeit und Gewissheit im eigenen Leben. Gott hat den Menschen geschaffen, mit all seinen Emotionen, seinen Wünschen und Begierden. In der hebräischen Bibel steht, dass der Mensch eine Seele (nefesch) ist, eine Einheit aus Geist und Körper. Gott hat ihn als Ebenbild seiner selbst kreiert und hat ihm seinen Atem eingehaucht (Genesis 1,27 und Genesis 2,7). Und so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen, ein Gegenüber Gottes, ein Teil von Gott, ein Verwalter und Gestalter dieser Erde. Die Sehnsucht nach Leben, nach Schönheit, nach Erfüllung ist also kein negatives Nebenprodukt des Sündenfalls, sondern ein Teil des Schöpfungsakts Gottes. Und diese nefesch ist ein vielstimmiger Begriff in der Bibel, vom Bedeutungsfelder des Wortes als existenzielles Organ, das sich nach der Stillung sehnt wie Kehle oder Hals, bis zum Begehren nach Leben und/oder einer ganzen Person. Aber nefesch beschreibt auch die Gefühle wie Hass, Liebe, Trauer und Freude. Die Seele kann also auch leidende Seele sein, wie wir in den Klagepsalmen sehen. Seele ist also erschrocken, verzweifelt, unruhig, schwach oder verzagt– kann genauso mitleiden und weinen, wie jauchzen und jubeln. Hier liegt also nach dem biblischen Zeugnis die Sehnsucht des Menschen – in ihm selbst. Und diese Sehnsucht ist nicht einfach zu stillen und schon gar nicht einmalig zu stillen, sondern ist ein Teil des existenziellen Seins, durstig zu sein nach Leben. Und so vielfältig die Sehnsucht nach Leben ist, so vielfältig ist Gottes Antwort, denn er begegnet dem Menschen in all dem, was seine Schöpfung anbietet, in all dem Schönen, wie auch in all dem Gefallenen – Gott ist Mensch geworden, kam mitten in die Sehnsüchte und Abgründe dieses Menschseins. Das haben wir gerade gefeiert! Gott hatte in Jesus Durst nach Leben, seine Seele feierte und trauerste, lachte und weinte, aß und fastete und teilte und sah die Sehnsüchte der Menschen. So ist das Leben von Gott gedacht: staunen, bewundern, essen, genießen. Ja, das dürfen wir nicht nur, sondern das ist Gotteslob! Gut essen, Neues entdecken. So möchte man der Kirche gerne zurufen: Mehr Mut zur Körperlichkeit. Und wenn wir in die Bibel schauen, entdecken wir mit unterschiedlichsten Gebetshaltungen, Abend- und Liebesmahl oder den zentralen Fest- und Feierlichkeiten eine ganze Menge an körperlichen Ritualen, die für unseren spirituellen Gemeindealltag aber immer wieder neu belebt und begründet werden müssen. Und hier sei nochmal auf Hartmut Rosa hingewiesen, der in seinem Werk „Resonanz“ den Körper als eine Art „Mittlerfunktion“ zwischen dem Selbst und der Welt sieht. Er verbindet somit Subjekt und Objekt und löst somit eine dualistische Sicht auf, da der Körper sowohl Teil des Subjekts ist als auch Gegenstand der Welt. Der Körper drückt unser Selbst aus: „Ich fühle mich wohl in meiner Haut.“ Im Körper bin ich zuhause. Ein Gefühl, dass gerade im Glauben und in der Kirche wichtiger wird, denn Fragen wie: „Fühle ich mich wohl und sicher in meiner Gemeinde?“ „Hilfe mir mein Glaube in meinem Alltag?“ oder „Bin ich angenommen und ein Teil der Gemeinschaft?“ sind zentrale Fragen, die die innere Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit und Angenommen sein ausdrücken. Und damit sind wir wieder ganz am Anfang, bei Charles Taylor und der Frage nach der Authentizität und die Sehnsucht bei sich zu sein.

Durstig sein – aus der Quelle trinken!

Wenn ich die bisherigen Gedanken ernst nehme, dann wünsche ich mir für 2018, dass Kirche ein Resonanzraum für die Sehnsucht der Menschen wird. Ein Resonanzraum, der Begegnung schafft, die mehr ist als ein ‚Wettlauf um Anerkennung’, sondern wo es Begegnungen mit dem Evangelium in erlösender Befreiung durch Gott möglich ist. Denn Christus ist als Erlöser und Befreier in diese Welt gekommen: Befreiung von Konsum- und Leistungszwang. Befreiung von falschem Selbstbezug. Befreiung von Abstumpfung und Orientierungslosigkeit. Befreiung von Anonymität und Vereinzelung. Befreiung von Sorgen und falschen Sicherheiten. Befreiung von falscher Frömmigkeit und Gesetzlichkeit. Befreiung von Besserwisserei und falscher Abgrenzung. – Dafür Raum geben, nicht in Perfektion, sondern in Beziehungen, um Menschen

  • als einen Spiegel für mich selbst zu sehen
  • zuzuhören, um zu verstehen, was sie bewegt
  • lernfähig sein, um das Evangelium immer wieder neu gemeinsam zu verstehen
  • neugierig aufzubrechen, um Neues zu wagen
  • einladend leben, um die Gastfreundschaft Gottes erlebbar zu machen
  • mit ihrem Anderssein als Chance und Hoffnung zu sehen
  • in ihren existenziellen Nöten ernst nehmen
  • als reflektierende Bezugssysteme für den eigenen Glauben und die eigene Gemeinde zu verstehen
  • in pluralen Ausdrucksformen von Kirche mitten im Gemeinwesen zu entdecken

Und bei all dem geht es darum: Gemeinsam aus der Quelle zu trinken. Gott unterschiedlich zu feiern. Die eigene Sehnsucht anzuerkennen und Gott zutrauen, dass er tatsächlich gekommen ist, Leben im Überfluss zu geben (Joh 10,10). Sehnsuchtsorte zu gestalten. Hoffnung gemeinsam zu leben. In aller Brüchigkeit. Eine Hoffnung, die angebrochen und noch nicht vollendet ist. Eine Hoffnung auf das neue Jerusalem, von dem wir jetzt schon nippen und mehr wollen oder wie es der britische Theologe NT Wright ausdrückt: “Wir sind als Christen noch nicht im Himmel, aber wir können die Melodie des Himmels schon miteinander auf Erden singen.”

Auf die Hoffnung, auf die Quelle, auf 2018!

 

 

Spendenprojekt: Brunnenbau

Spendenkonto: 38 Meter tiefe Brunnen für den Beja-Stamm

Evangelisches Jugendwerk in Württemberg

EJW-Weltdienst

Evangelische Bank (EB)

IBAN: DE24 5206 0410 0400 4054 85

BIC: GENODEF1EK1

Projekt-Nr. SUD100

 

Bild: Friederike Rave

 

5 Comments

  1. Ruedi Ernst

    Ich glaube, die Kirche (i.S. “Institution und Gebäude” hat darum wenig vom “religiösen” Trend in der Gesellschaft: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kirche mehr Programm und “Llivestyle” denn Haltung ist.

    Für mich hatte vieles mit “dazupassen ” oder eben nicht zu tun. Und nicht, so mein subjektives Erleben, von, wie oben geschildert, mit einem “auf einander Ein- und Zugehen. Zuhören und Begleiten hat selten etwas mit Rat-Schlägen zu tun. Das geht in eine ähnliche Richtung wie die im Buch “Warum ich nicht mehr glaube” (Toias Faix et al., SCM-Verlag, 2014) als eine von mehreren Erkenntnissen geschilderten Ursachen.

    Ich bin der festen Ueberzeugung, dass Gott noch mehr bieten kann, wenn wir von Konzepten und Strategien wegkommen und wieder miteinander den Weg gemeinsam gehen. Und nebeneinander. So wie dannzumal Jesus mit den Emäus-Jüngern. Dann können wir NOCH MEHR tun, das Liebe nicht mehr zu einem Gesetz wird (Wir haben DIch lieb und Du darfst sein wie Du bist, solange Du in unser Christ-sein-Bild passt).
    Hier kommt der Moment, wo wir das Thema “Vergebung” ins Spiel kommen lassen müssen. Und da sind wir nochmals ganz anders gefordert. – Es gibt für mich noch sehr viel zu tun. – Angefangen bei mir selber und dann gegenüber meinen Geschwistern. – Einfach wird es nicht … – Aber, wer weiss ….

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  2. Yep, vielleicht müssen wir auch Gott mehr tun lassen, sein Tun erwarten und schauen, wo er schon am Wirken ist, wo er sich in den Sehnsüchten mancher Menschen offenbart, vielleicht sind wir manchmal zu viel mit unseren Programmen beschäftigt ….

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  3. Michael Bitzer

    ich sitze an der Predigtvorbereitung für meine Predigt zur Jahreslosung. Danke, Tobias für deine nachdenkenswerten, wertvollen und inspirierenden Gedanken!
    Eine Rückfrage: ist es nicht gerade andersrum: “Wie sieht Kirchenidentifikation aus in Zeiten, in denen bei jungen Erwachsene „believing before belonging“ zählt?” Zählt nicht bei vielen viel mehr das “belonging”, bevor es zum “believing” kommt?
    Ein kleiner origineller Rechtschreibfehler :), auch wenn die Sache an sich sehr traurig ist: “Für Millionen Menschen ist dies ein täglicher Existenzkampf – sauberes Trinkwasser. Der mühsame und beschwerliche Weg zur Quelle. Ein Kampf ums Überlegen.” Es ist (leider!) ein Kampf ums Überleben.

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  4. Hi Michael, danke für den Hinweis — korrigiert! 😉
    Und ja, auf alle Fälle ist das auch ein wichtiger Punkt: belonging bevor believing! Könnte ich als fünften Punkt aufnehmen und spielt tatsächlich für viele Leute eine große Rolle. Und zeigt vor allem die Problematik von “draußen udn drinnen” noch mal deutlich auf….

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