“Happy Birthday CVJM! Was wir von der Gründer DNA für heute lernen können!”

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„Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen.“ Paul M. Zulehner

 

Der CVJM hat heute Geburtstag: 175 Jahre – Glückwunsch! Und weltweit wird gefeiert. Der größte Jugendverband der Welt (ca. 58 Millionen Mitglieder) hat schon so einiges auf dem Buckel und ist dennoch kein bisschen müde! Im Gegenteil, wenn wir uns die CVJM Gründungsgeschichte anschauen, dann sehen wir erstaunliche Parallelen zu unserer heutigen Zeit und ich denke, dass wir tatsächliches einiges lernen können.

Zurück zu den Quellen? Die CVJM Gründer DNA ist wieder gefragt.

Wenn wir an die Gründungstage des CVJM zurückdenken, so geschah dies in den großen Transformationsprozessen Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Industrialisierung revolutionierte sich die gesamte Arbeits- und Lebenswelt der Menschen. Alles hat sich verändert, die Verstädterung begann; Familienstrukturen veränderten sich, die neue gesellschaftliche Schicht der Arbeiter entstand. Und mit ihnen eine neue Armut, denn viele wurden ausgebeutet und mussten unter erbärmlichen Bedingungen für einen Hungerlohn arbeiten. Aus diesem Kontext entstand mit der „inneren Mission“ ein ganz neuer Arbeitszweig. Kurzum, es veränderte sich alles für die Menschen in der damaligen Zeit: Arbeit, Familie, Glauben etc. Aufgrund und während diesen Veränderungen ist der CVJM entstanden. Denn mitten in dieser fundamentalen Umbruchphase der Geschichte gab es in England einen Mann namens George Williams, der jungen Männern Glaubens- und Lebensorientierung geben wollte und den CVJM gründete. Wenn wir uns diese mutige Gründung noch etwas genauer anschauen, dann stellen wir mit Erstaunen fest, dass George Williams und viele andere Christen in der Firma in der sie arbeiteten (Hitchcock & Rogers) für bessere Arbeitsbewegungen kämpften. Sie mussten sechs Tage die Woche und 13 Stunden am Tag arbeiten und lebten unter erbärmlichen Bedingungen. Sie waren in der Bewegung für den frühen Ladenschluss (Early Closing Movement) organisiert und innerhalb von zwei Jahren wurde die tägliche Arbeitszeit auf zwölf, später elf Stunden pro Tag reduziert. Dieser Erfolg schaffte es sogar bis inThe Times. Aus dieser eher gewerkschaftlichen Bewegung entstand der CVJM, der sich ganzheitlich nach Lk 10,27 um Geist, Seele und Körper der Männer kümmern sollte. Was daraus wurde ist der größte Jugendverband der Welt, in dem wir heute stehen. Aus meiner Sicht lernen wir mindestens zwei Dinge, die uns für unsere heutige Zeit helfen können: Erstens sind Umbrüche immer auch Aufbrüche. Der CVJM und Gemeinde als Pionier des Neuen. Und zweitens: Soziales Engagement ist ein geistlicher Akt. CVJM und Gemeinde ist für die Menschen vor Ort da.

  1. Umbrüche sind Aufbrüche: CVJM als Pionier des Neuen

Mut Neues auszuprobieren, Übergänge zu gestalten, am Fremden zu lernen und trotzdem nicht alles Gute und Bewährte über Bord zu schmeißen – darin liegt wohl eine Schlüsselaufgabe unserer heutigen Zeit. Die Quadratur des Kreises!? Und nicht wenige denken dabei: „Halten wir erstmal still, vielleicht kommt es nicht so schlimm wie befürchtet“. Und nennen wir die Gefahr, in der wir dabei auch im CVJM stehen beim Namen: „Wir sterben langsam, aber in großer Sorgfalt.“ Zu pessimistisch? Einfach falsch? Vielleicht? Pauschalisierend? Bestimmt! Aber mir geht es gar nicht um Pessimismus, ganz im Gegenteil. Mir geht es um die Gestaltung des Neuen, aber genau dafür müssen wir die Beharrungskräfte überwinden und mutig Neues ausprobieren. Denn geistliche Vitalität, organisatorische Strukturen und sozialer Wandel bedingen und beeinflussen einander. Dabei können alle drei unterschiedliche Rollen einnehmen und sind immer wieder herausgefordert aufeinander zu reagieren. Außerdem gibt es traditionelle Dialogpartner, die in einer inneren Spannung stehen, wie beispielsweise:

  • Organismus und Organisation
  • Beziehungen und Programm
  • Herzensverbindung und Mitgliedschaft
  • geistliches Bewegung und organisatorische Strukturen

Ich schreibe bewusst „und“ und nicht „versus“, da ich glaube, dass immer beides zusammengehört. Unsere Aufgabe ist es aber, immer wieder die Verbindung zu überprüfen und darauf zu achten, wo wir einseitig geworden sind, wo unsere blinden Flecke sind und wo die sozialen Transformationen uns in eine Richtung geschoben haben. Der CVJM ist als Ortsverein, Landesverband und CVJM Deutschland eine lernende Organisation, die sich ihrer Tradition bewusst ist und gestaltet. Der Tschechische Theologe TomášHalík hat es mal prägnant auf den Punkt gebracht, als er schrieb: “Die Bewahrung der Tradition ist ein schöpferischer Akt.” Wir müssen uns aus der eigenen Tradition heraus erneuern. Kein einfaches Unterfangen, aber darin stehen wir, wie übrigens jede andere Organisation in Deutschland, nicht alleine. Zwei Punkte möchte ich dabei herausheben, die ich für wichtig und oftmals unterbewertet halte. Zunächst: Verlernprozesse. Verlernprozesse beschreiben die Notwenigkeit, unsere eigene Tradition mit unserem Denken und Fühlen zu hinterfragen und uns von manchem Liebgewonnenen zu distanzieren, um wieder die Raum für Neues zu bekommen. Denn wir neigen alle dazu, die eigene Tradition, Geschichte, Erfahrung als das Wichtigste anzusehen, aber wir müssen uns helfen und gegenseitig das Verlernen einüben, damit wir überhaupt bereit sind, wieder neu lernen zu können. Der zweite Punkt beschreibt ein würdevolles Sterben. Mut haben Dinge zu beenden, denn es ist nicht möglich, immer noch etwas dazu zu machen. Ehrenamtliches Engagement noch mehr zu strecken und so unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu überfordern. Nein, bevor wir Neues gründen, muss manches Altes beendet werden. Nicht spontan, und nicht alles, nicht über die Köpfe hinweg, sondern bedacht und überlegt und mit den betroffenen Mitarbeitenden zusammen. Würdevolles Sterben heißt, dass wir die Arbeit der Vergangenheit würdigen, ernst nehmen und aufnehmen. Heißt aber auch, manche Kreise zu beenden, gemeinsam darüber zu trauern, um so wieder Raum, Zeit und Kraft für Neues zu schaffen. Es gibt nicht das einfache Neue, das uns zufliegt, sondern es gilt Übergänge gemeinsam zu gestalten. Dazu braucht es Mut, die gute Tradition zu wahren, um aus ihr neues zu Schaffen. Denn der CVJM ist für mich von seiner DNA mehr als nur ein Dienstleister guter Jugendarbeit für die Kirche oder sich selbst, sondern Pionier des Neues für Kirche und Gesellschaft! Das ist ein wichtiger Unterschied. Deshalb gilt es Sehnsucht zu wecken, Sehnsucht nach einem Leben mit Christus, Sehnsucht dieses Leben zu teilen und Sehnsucht dies in Strukturen zu gießen, die Christus und den Menschen dienen.

  1. Soziales Engagement als geistlicher Akt: CVJM ist für die Menschen vor Ort da

In den Gründerzeiten war der CVJM eng mit den sozialen Transformationsprozessen verbunden, ja ist aus ihnen entstanden. Diese konkrete Verortung in den gesellschaftlichen Herausforderungen ist typisch für die ganzheitliche Arbeit. Und so stellt sich auch heute die Frage, wie unsere CVJMs in ihrem Sozialraum eingebunden sind und wie sie sich für die Menschen in ihrem Viertel engagieren. Deshalb braucht es aus meiner Sicht eine zweifache „Ver-Ortung“, die in den neuen Herausforderungen überprüft werden muss: Die „Wieder Ver-Ortung“ nach innen und außen: Natürlich gibt es in vielen CVJMs eine gut funktionierende Ten Sing Arbeit, offene Sportgruppen und soziale und diakonische Angebote, zuletzt vorbildlich in der Arbeit mit Geflüchteten und doch muss immer wieder gefragt werden, wo sich die eigene Arbeit in unguter Weise selbstständig gemacht hat. Dabei ist beides gleichermaßen wichtig, die Verortung des CVJM im konkreten Gemeinwesen als auch die Verortung im Evangelium. Beides hängt unmittelbar zusammen und ist die Grundlage einer missionarischen Haltung. In den Anfängen waren es die ganz natürlichen Kontakte und Nöte der Arbeitskollegen, die die Gründer motivierten ganz praktisch zu helfen. Deshalb stellt sich uns heute die Frage, wo unsere Freunde, Arbeitskolleg*innen und Nachbarn unsere Unterstützung brauchen? Manchmal ist es hilfreich, wenn wir diese natürlichen Netzwerke an Beziehungen sichtbar machen. Für uns selbst, aber auch für unseren CVJM, denn wir werden überrascht sein, wie dicht unser Beziehungsnetzwerk ist und wie konkret um uns herum verortet. Dafür gibt es eine Hilfestellung, die sich Figuration nennt. Klingt kompliziert, ist aber einfach und hilfreich. Der Begriff der Figuration stammt von dem Soziologen Norbert Elias. Als Figuration bezeichnet er die dynamische Struktur, die aus dem Zusammenspiel vieler einzelner Individuen entsteht. Figurationen sind also nichts Abstraktes, sondern bestehen aus den konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein CVJM besteht zum einen aus Strukturen wie Leitungsämter, Mitgliedschaften etc., zum anderen aber auch aus allen Menschen die kommen und sich mit dem CVJM identifizieren. Aber das ist noch nicht alles, jede und jeder dieser Menschen ist mit ganz vielen anderen Menschen durch Freundschaft, Schule, Arbeit, Nachbarschaft etc. ganz natürlich verbunden. Diese ganzen Kontakte werden durch Linien miteinander verbunden und so sichtbar gemacht. Mittels einer Figurationsanalyse können zum einen internen Beziehungsgeflechte des CVJMs und zum anderen auch die zahlreichen Verbindungen und Verflechtungen eines CVJMs mit seinem konkreten Stadtteil sichtbar gemacht werden. So wird das natürliche Netzwerk eines CVJM erkennbar und es ist weit größer als meist vorher angenommen. Jetzt kann überlegt werden, was dieses große Beziehungsnetzwerk bedeutet, sowohl für die Struktur nach innen, als auch für die Arbeit nach außen. Außerdem dürfen Fragen gestellt werden, die manches in Bewegung bringen können: Warum ist das Netzwerk außerhalb des CVJM größer als innen? Wo gibt es Knotenpunkte innerhalb des CVJM? Vielleicht auch im Sportverein? Und was bedeutet das? In welchen Verbindungen steht der CVJM in den Stadtteil hinein und welche Konsequenzen gehen damit einher? Es ist spannend so eine Figuration gemeinsam auszuwerten, bestimmte Netzwerke farbig zu markieren und zu überlegen und zu fragen, was Gott uns damit sagen und zeigen möchte. So entsteht ein großes Bild eines Ortsvereins mit Christus im Zentrum und offene Ränder. Diese Offenheit ist wichtig, denn sie ermöglicht es, dass neue Menschen kommen, diese Netzwerke lebendig werden und so neue öffentliche Räume entstehen. Der CVJM ist nicht privat, sondern lebt mit den Menschen und setzt sich für sie ein. Ein gemeinsames Gespräch, etwas gemeinsam ausdrücken, verstanden werden, miteinander feiern, aber auch ein gemeinsamer „Akt des Sich-auf-etwas-Richten“ oder sich für jemanden einsetzen bringt die Netzwerke zum Leben. So entstand der erste CVJM und genauso leben heute viele Ortsvereine mitten in den großen Transformationsprozessen unserer Zeit. Dies bedeutet mit den Menschen mutig träumen, auch wenn dies im Alltag mit vielen kleinen Kämpfen und Entscheidungen begint. Auch hier gibt es eine unauflösbare Spannung, wie bei so vielen Dingen im Leben.

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