Grenzenloses Bedürfnis und grenzenlose Furcht
Wir leben in Krisenzeiten und damit in Zeiten von Transformation – mit und ohne Covid-19-Pandemie. Letztere bringt zwar viel Leid hervor, das keinesfalls verharmlos werden darf, macht in vielen Fällen aber nur besonders deutlich, in welchen Umbruchsprozessen und vor welchen Herausforderungen wir überhaupt stehen. Dies gilt für das Thema Digitalisierung und dessen Auswirkungen auf kirchliche Entwicklungen, wie Tobias Faix im ersten Beitrag dieser Reihe gezeigt hat, dies gilt aber auch für ein weiteres Thema, das auch für uns alle kein Neuland sein sollte und doch irgendwie immer noch ist: Nennen möchte ich es das Vergemeinschaftungsparadox. Was verstehe ich darunter? Nehmen wir dazu einen kleinen Umweg über unsere aktuelle Situation in der Covid-19-Pandemie. Diese ist in vielerlei Hinsicht deshalb so lehrsam, weil sie uns Dinge über unsere menschliche und heutige gesellschaftliche Existenz zeigt, die uns in der Selbstverständlichkeit unseres Alltags sonst verborgen bleiben. Durch den teilweisen Shutdown und das ‚physical distancing‘ wurde uns allen überdeutlich, wie sehr wir anderer Menschen bedürfen und wie grundlegend wir Menschen Beziehungswesen sind. Einen paradoxen Aspekt dieser Beziehungshaftigkeit hat der brasilianische Gelehrte Roberto Mangabeira Unger sehr treffend beschrieben: Es gebe einerseits die „Grenzenlosigkeit unseres Bedürfnis nach anderen Menschen“ (Unger 1986: 106), diese aber werde anderseits begleitet von einer „grenzenlosen wechselseitigen Furcht“ (ebd.). Dass wir anderer Menschen bedürfen, haben im Shutdown wohl nicht nur all jene besonders zu spüren bekommen, die alleine leben. Diese sicher aber ganz besonders. Worin aber besteht die grenzenlose Furcht vor den anderen? Diese ‚Menschenfurcht‘ ist vielschichtig, sie besteht z.B. darin, von anderen nicht anerkannt oder verletzt zu werden. Aktuell kommt noch die Furcht hinzu, von anderen angesteckt zu werden. Wir lernen gerade eindrücklich und schmerzlich, dass wir füreinander Wohl und Wehe sind. Beständig müssen wir ausbalancieren, welches Risiko wir für andere und andere für uns darstellen. Kein Wunder, dass diese beständige Spannung für einige Menschen zu viel ist und sie diese einseitig in Verschwörungstheorien auflösen. Es gibt jedoch noch einen dritten Aspekt dieser Furcht voreinander: In einer hochindividualisierten Gesellschaft besteht diese Furcht auch darin, dass andere unsere Freiheit einengen, unseren Bedürfnisse entgegenstehen und unsere freie Entfaltung verhindern können. Wir fürchten, unserer Autonomie beraubt zu werden. Und damit sind wir beim Vergemeinschaftungsparadox angelangt: Zum einen gibt es eine grenzenlose Sehnsucht nach Gemeinschaft in unserer Gesellschaft, zum anderen leben wir in hyperindividualisierten Zeiten und das führt dazu, dass klassische Formen von Gemeinschaft oft nicht mehr funktionieren. Ich möchte dies genauer erläutern.
Individualisierte Muttermilch und grausame Achtsamkeit
Für uns ist es heute selbstverständlich, dass wir Individuen sind. In der Antike und im Mittelalter gab es streng genommen keine Individuen. Sicher waren sich Menschen damals schon bewusst, dass jeder Mensch ein eigenständiges Wesen ist und seine Eigenheiten hat. Menschen verstanden sich jedoch noch nicht als Individuum. Wie der Soziologie Norbert Elias es formulierte, gab es noch keinen Begriff, „der besagte, dass jeder Mensch, gleichgültig zu welcher Gruppe er oder sie gehört, eine selbstständige, einzigartige, von allen anderen Menschen verschiedene Person ist, und der zugleich die hohe Wertschätzung einer solchen Einzigartigkeit zum Ausdruck brachte.“ (213) Die Wir-Identität war somit wichtiger als die Ich-Identität, d.h. ein Mensch dieser Zeit begriff sich in seinem Selbstverständnis zunächst als Angehöriger eines oder mehrerer Kollektive, einer Sippe, eines Clans, eines Stammes, einer Grafschaft etc. Erst dann in einem zweiten Schritt verstand er oder sie sich auch als ein Einzelwesen. Das Wir war wichtiger, grundlegender und stärker als das Ich und das zeigte sich dann auch entsprechend im alltäglichen Leben.
Erst seit dem 17. Jh. gab es Menschen, die sich als Individuum begreifen: Waren das zunächst noch wenige, meist gesellschaftlich gehobene und herausgehobene, verbreitete sich dieser Trend immer weiter. Diesen Prozess des Wandels der Wir-Ich-Balance – die Waage neigt sich immer stärker vom Wir zum Ich hin – nennen Soziolog*innen Individualisierung. Dieser Prozess spitzt sich immer weiter zu und führt unter anderen dazu, dass heute das Ich-Ideal das Wir-Ideal schon lange überholt hat. Soweit nur kurz und sehr verkürzt zu einem komplexen Phänomen. In der Individualisierung ist eine bestimmte Art und Weise, wie Gesellschaft strukturiert ist sowie ein bestimmtes Konzept sich selbst zu verstehen, verknüpft mit einem Ideal und damit einer normativen Perspektive. Das Ich wird jetzt zum Maß aller Dinge – „unterm Strich zähl ich“, wie eine aktuelle Werbung dies schonungslos auf den Punkt bringt. Individualisierung enthält also eine normative Komponente, darf auf diese aber nicht verkürzt werden. Erst recht ist hier der übliche moralische Zeigefinger wenig hilfreich. Fakt ist, dass ein Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft (jüngere und mittelalte Jahrgänge) schon in eine hyperindividualisierte Gesellschaft hineinsozialisiert worden ist. Sie haben den Individualismus also mit der Muttermilch aufgenommen, er ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen und damit nichts, wofür oder wogegen sie sich entscheiden konnten. Das Streben, zu allererst und vor allem ein Individuum zu sein, das sich von anderen unterscheidet, sich wesentlich selbst bestimmen und vielleicht sogar verwirklichen kann, ist paradoxerweise nicht die freie und selbstbestimmte Entscheidung eines Individuums, sondern dessen gesellschaftliches Schicksal, vielleicht sogar eine Art Verdikt. So wie wir heute alle verurteilt sind zu lebenslänglichem Lernen, sind wir auch dazu verurteilt, wir selbst sein zu müssen und der Rückbezüglichkeit auf uns selbst gegenüber der Bezogenheit auf andere ein ethisches, existentielles und faktisches Primat zu geben. Das individualisierte und aufgeräumte Selbst weiß sich und die Beziehungen zu anderen entsprechend zu gestalten, wie eine Aussage der Aufräum-Päpstin Marie Kondo zum Ausdruck bringt: „Verbringen Sie nur Zeit mit Leuten, an denen Ihnen wirklich etwas liegt. Sortieren Sie die anderen aus. Ich habe es genauso gemacht: Habe jeden Namen betrachtet und in mich hineingehört, was er in mir auslöst. […] Die Zahl der Namen in meinem Adressbuch und meinen Apps nahm so drastisch ab. Abgesehen von meiner Familie und von Kontakten, die für meine Arbeit unentbehrlich waren, blieben nur zehn Leute übrig.“
Zugegeben ist das ein auf die Spitze getriebenes Extrem der Brutalität einer individualisierten Achtsamkeit, die Menschen wie Gegenstände behandelt und bei allem fragt: „Does it spark joy?“. Und natürlich ist diese uns gegebene gesellschaftliche Grunddisposition zum Individualismus wie alles andere zugleich aufgegeben, d.h. wir sind hier nicht nur Unterworfene, sondern können diese gestalten, an ihr und mit ihr arbeiten, usw. Nur können wir sie, eben weil in Fleisch und Blut übernommen, nicht einfach abwerfen, wie ein Kleidungsstück das in uns keine Freude mehr hervorruft.
Warum klassische Formen von Gemeinschaft scheitern
Wozu diese lange Rede vom wohlbekannten Faktum der Individualisierung? M.E. besteht hierin einer der Gründe, warum ich so viele Geschichten von neuen kirchlichen Projekten kenne, die auf Gemeinschaft und das grenzenlose Bedürfnis nach Gemeinschaft setzen und am Ende genau daran scheitern. Die klassischen Formen von Gemeinschaft und die hyperindividualisierten Menschen, die sich nach Gemeinschaft sehnen, das passt schlicht nicht mehr zusammen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist eben nicht auch das Vermögen zur Gemeinschaft. Nach elf Jahren kommunitären Lebens in einer Quaker-Community kommt der Philosoph und Pädagoge Parker J. Palmer zu folgendem Schluss: “I learned that the degree to which a person yearns for community is directly related to the dimming memory of his or her last experience of it” (Palmer 2012, 1). Um einem solchen verkitschten Verständnis von Gemeinschaft zu entkommen, definiert er zugleich: „Community is that place where the person you least want to live with always lives“ (ebd.).
Gemeinschaft wird üblicherweise, mindestens implizit, aber genau gegenteilig definiert. Nämlich durch das, was man gemeinsam hat. Wenn das Ideal aber lautet, sich möglichst von anderen zu unterscheiden, ist das keine Verlockung mehr, sondern eher eine Drohung. Und dann kommt noch die Entdeckung hinzu, dass Gemeinschaft gerade nicht nur aus denen besteht, mit denen man viel gemeinsam hat, die ähnlich ticken, sondern auch aus denen, die einen schon immer nerven, die es niemals kapieren und die stets gezielt daneben greifen.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Individualisierung führt leider allzu oft zu romantisierten Imaginationen von Gemeinschaft und einer kulturpessimistischen Attitüde. Vergessen wird dann nicht nur, dass eine Gemeinschaft, die auf Gemeinsamkeit beruht, nicht nur eine Fiktion ist, sondern stets auch problematisch war. Besteht Gemeinschaft aus dem, was wir gemeinsam haben, wird nach außen, zu ‚den anderen‘ hin, schnell die Unterschiedlichkeit (über)betont. Es geht dann um eine ‚Wir gegen Die-Da‘, erst die Differenz zu den anderen erzeugt die Identität des eigenen. Und nach innen kann jede Abweichung vom Gemeinsamen als Bedrohung der Gemeinschaft eingestuft werden. Auf diese Weise entstehen in fast jeder sozialen Gruppe bestimmte soziale Normen und Verhaltenserwartungen, deren Nicht-Einhaltung, offensichtlich oder subtil, sanktioniert werden und die einen bestimmten Gruppendruck erzeugen. Was viele heute vergessen haben: Gemeinschaft war auch Teil der Antwort, die die Nationalsozialisten auf die Individualisierungswelle der 1920er Jahre gegeben haben. In gewisser Weise ist der Individualismus erst als Antwort auf die Probleme von Gemeinschaft entstanden. Dass Menschen heute die Verantwortung für ihr Leben stärker übernehmen, dieses intensiver gestalten, ihre Bedürfnisse besser kennen und kommunizieren können, dass sie mehr Ich-Stärke haben und sich nicht mehr so schnell von einem Kollektiv instrumentalisieren lassen, all dies sind positive Errungenschaften, hinter die wir niemals zurücksollten. Wie aber können neue Formen der Vergemeinschaftung aussehen, die nicht auf Gemeinsamkeit basieren, sondern eine Einheit in Vielfalt und Unterschiedlichkeit darstellen?
Erloschene Sternbilder, ein neuer Stern von Bethlehem und ein verloren gegangener Rhythmus
Bevor ich dieser Frage nachgehe, noch eine Bemerkung. Heute sind nicht nur klassische Formen von Gemeinschaft dem Tode geweiht, sondern erst recht die großen Vergemeinschaftungsinstitutionen. Michel Serres bringt dies prophetisch auf den Punkt: „Ich sehe unsere Institutionen in einem Glanz erstrahlen, der dem jener Sternbilder gleicht, von denen Astronomen uns berichten, daß sie längst erloschen sind.“ (23) Wir wissen alle: Den Volkskirchen droht das Schicksal der Volksparteien. Kurzum: Der im 19. Jahrhunderte innovative Mix aus staats- und vereinsanalogen Elementen der Volkskirche ist heute ein gut gepflegter Anachronismus. Viele stärker auf klassische Formen der Gemeinschaft setzende Freikirchen sind von dieser Problematik auch betroffen, sie haben aber immerhin der Vorteil größerer institutionell-struktureller Flexibilität.
Es ist also schon lange klar: gesamtgesellschaftlich wie kirchlich brauchen wir neue Formen von Vergemeinschaftung. Doch wo sollen diese herkommen? M.E. ist dies das gesellschaftliche und kirchliche Gebiet, auf dem es immer noch am dringlichsten sozialer Innovation bedarf. Auch ich kann hier keine Antwort aus dem Hut zaubern. Hilfreich ist es m.E. aber zunächst wahrzunehmen, dass es neue Formen von Vergemeinschaftung längst gibt und zu reflektieren, was man von diesen – im Positiven wie Negativen – lernen kann. Sie sind, bleiben wir bei unseren Metaphern im Himmelsbereich, eine Art Stern von Bethlehem, die uns den Weg in die richtige Richtung weisen können. Die bekannteste und wichtigste Form neuer Vergemeinschaftung sind die Sozialen Medien, die längst die Art und Weise, wie Menschen miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind, intensiv bestimmen. Viel wird über sie geschrieben und debattiert, aber eher selten unter dem Aspekt von Vergemeinschaftung. Zum einen machen sie einen Aspekt menschlicher Existenz deutlich, der ganz unabhängig von ihnen immer schon gültig war. Menschen sind mit anderen Menschen vernetzt bzw. verwoben. Wir sind niemals ganz alleine, sondern immer eingewoben in Beziehungsnetze: Familie, Partnerschaften, Freundschaften und Bekannte. Der Grad der Gestaltung und die Intensität der Gemeinschaft ist dabei unterschiedlich. Unser Einfluss aufeinander und die Verantwortung füreinander ist dabei viel größer als uns oft bewusst ist. In der soziologischen Netzwerkforschung hat man herausgefunden, dass wir nicht nur von unseren Freunden beeinflusst werden, sondern auch noch von den Freunden der Freunde und sogar den Freunden der Freunde der Freunde. So wird nachweislich z.B. unsere allgemeine Zufriedenheit, ebenso wie unser Gesundheitszustand, von der Zufriedenheit und der Gesundheit vieler anderer Menschen beeinflusst, die wir gar nicht kennen. Und umgekehrt beeinflussen wir sie. Wenn alle Menschen im Durchschnitt nur 20 andere Menschen kennen würden, dann würde das bedeuten, dass wir von ca. 8000 Menschen beeinflusst werden und wir 8000 Menschen beeinflussen.
Die sozialen Medien machen diese Verwobenheit mit anderen zum einen sichtbar, zum anderen erweitern, vertiefen und verändern sie diese auf vielfältige Weise. Wir befreunden nun viel eher auch die Freunde unserer Freunde, das Netz wird somit weiter und weniger engmaschig. Es erweitern sich dabei auch die so wichtigen schwachen Verbindungen, d.h. entfernte Bekannte oder Freunde von Freunden. Diese schwachen Verbindungen sind, auch das ein Befund der Netzwerkforschung, oft eine sprudelnde Quelle für Informationen und Ressourcen, die Individuen anzapfen, um ihre Lebensumstände zu verbessern, da sie oft die Brücke in ganz neue Netzwerke bilden. Der/ die Lebenspartner*in sowie Arbeitsplätze werden z.B. besonders oft über schwache Verbindungen gefunden. Eingebunden zu sein in soziale Medien bedeutet aber auch eine recht permanente, latente Ko-Präsenz mit anderen, die es Menschen ermöglicht, ihren Alltag und ihr Sozialleben eigenständiger und flexibler zu gestalten. Nach Befunden der Netzwerkforschung haben Menschen heute nur wenige enge Sozialkontakte, die meisten zwischen 2 und 6, mit denen man enge Gemeinschaft pflegt, sich füreinander mit allen oder vielen Problemen öffnet und sich treu ein Leben lang in Partnerschaft, Verwandtschaft oder Freundschaft begleitet.
Durch soziale Medien können Menschen aber nicht nur situativer, bedürfnisorientierter und flexibler ihr Leben und Sozialleben gestalten, sondern sind letztlich weniger und auf weniger enge und intensive Verbindungen angewiesen. Soziale Medien erlauben vor allem soziale Ko-Präsenz bei zeitlicher und räumlicher Asymmetrie. Ich nehme wahr und werde wahrgenommen, ich teile Leben (mit), ohne zeitgleich mit anderen zur selben Zeit an einem Ort sein zu müssen. Und genau darum geht es mir hier. Klassische Formen von Vergemeinschaftungen und damit die wesentlichen üblichen Sozialformen von Kirche basieren meist auf räumlicher und zeitlicher Symmetrie. Die Zentrierung um einen Sonntagsgottesdienst ergab Sinn zu Zeiten, an denen quasi alle Menschen einen ähnlichen Wochenablauf hatten, es einen klaren zeitlichen Rhythmus gab und Menschen auch räumlich wenig mobil waren. Dies ergibt aber wenig Sinn, in einem fluiden, multioptionalen, beschleunigten Zeitalter, in denen die Tages- und Wochenabläufe von Menschen voneinander entkoppelt und sehr stark an individuellen Bedingungen und Bedürfnissen ausgerichtet sind. Wer hat, spätestens seit Corona, heute überhaupt noch einen festen Tagesrhythmus?
Probleme einer verflüssigten Vergemeinschaftung
Die sozialen Medien zeigen aber auch die Grenzen und Gefahren einer solch verflüssigten Vergemeinschaftung auf. Phänomene wie Filterblasen, verstärkte Fake-News und Verschwörungstheorien sowie aggressivere ‚Diskussionen‘ und Shitstorms zeigen, dass soziale Medien intensiveren negativen Dynamiken ausgeliefert sind als klassische Formen von Gemeinschaft – auch wenn es all diese Phänomene in mindestens abgeschwächter Form auch in klassischen Gemeinschaften gibt. Vor allem aber liegt diesen Problemen wohl auch zugrunde, dass die Form der verflüssigten und individualisierten Vergemeinschaftung auch eine Art organisierter Verantwortungslosigkeit hervorbringt. Dies wiederum hat m.E. mit zwei Aspekten zu tun, a) dem Fehlen der körperlichen Ko-Präsenz und b) dem Fehlen von Verbindlichkeit. Ich will beides kurz erläutern.
- In Zeiten von ‚physiscal distancing‘ merken wir, dass es die gleichzeitige Anordnung von Körpern in einem Raum seltener und weniger braucht als wir uns in der Vergangenheit eingeredet haben. Sehr vieles funktioniert digital recht problemlos. Zugleich jedoch weist die Begegnung von Menschen in Fleisch und Blut Qualitäten auf, die nicht anderweitig ersetzt werden können. Nehmen wir als Beispiel die, im selten Idealfall, geteilte und damit intensivierte gemeinsame Aufmerksamkeit im Unterricht oder einer Konferenz, die sich im gemeinsamen Lachen bei einem Witz zeigt oder einer gespannten gemeinsamen Präsenz und Konzentration ‚auf die Sache‘ und im Digitalen verloren geht, weil man seinen ganzen Leib und die geballte Kraft non-verbaler Kommunikation braucht um sich mit anderen ein- und abzustimmen. Auch merken wir, dass wir uns gegenseitig viel intensiver berühren können, wenn wir auch berührt werden könnten. Umgekehrt hat das Beschimpfen eines Menschen eine viel höhere Hürde, wenn er leibhaftig vor mir steht und ich sein Antlitz sehe. Vielleicht brauchen wir also künftig zugleich mehr und zugleich weniger körperliche Kopräsenz. Und dort wo wir uns letztere leisten, muss es auch um letztere gehen und darf nicht (wieder) darin münden, dass wir zwar mit Körpern in einem Raum sind, dabei aber doch alle individuell in digitalen Weiten unterwegs sind.
- Die fehlende Verbindlichkeit ist die bekannte, hässliche Seite der Flexibilität und der Orientierung an individuellen Bedürfnissen. Hier hilft aber kein moralischer Zeigefinger, der uns den Weg in gute alte Zeiten weist. Unbestritten ist aber der Bundesgedanke der jüdisch-christlichen Tradition hier eine krasse Gegenerzählung. Wer miteinander einen Bund eingeht, sich wie im Ehebund beispielsweise einander verspricht, verstößt gegen viele Spielregeln einer individualistischen Gesellschaft. Ein Bund, und dafür haben wir leider kaum eine Sprache und daher auch kaum eine entsprechende Wahrnehmung, beschränkt Identität und Freiheit aber nicht nur, sondern ermöglicht und erweitert diese zugleich. Dieser Bundesgedanke ist uns aber, mit Ausnahme des Ehebundes, weitestgehend verloren gegangen. Was kann dieser heute überhaupt noch bedeuten? Muss eine Gemeinschaft aus Nachfolgern Jesu irgendwie diesen Bundescharakter noch spiegeln oder ist das schlicht unrealistisch? Und wenn ja, kann auch dieser Bundesgedanke in gewisser Weise flexibilisiert werden, ohne sich komplett zu verflüssigen? Statt ihn z.B. rein formal durch Taufe und/oder Mitgliedschaft zu symbolisieren, die dann aber wesentlich folgenlos bleiben, käme er vielleicht mehr zum Tragen, wenn Kirche bedeuten würde, dass sich zu unterschiedlichen Zwecken unterschiedliche Gruppen von Menschen auf Zeit verbindliche Versprechen geben, z.B. sich gemeinsam versprechen und festlegen, sich ein Jahr lang gemeinsam in einem konkreten Projekt zu engagieren und zugleich sich in einem gewissen Rhythmus zu treffen und Leben und Glauben zu teilen.
Fazit
Sicher scheint mir zweierlei. Erstens muss es hier viele Experimente geben und niemand hat schon die Blaupause einer Lösung (und wenn, dann bitte her damit). Zweitens können sich neue Vergemeinschaftungsformen für eine digitalisierte und fluide Kirche an den hier kursorisch erarbeiteten Aspekten bisheriger Formen von neuer Vergemeinschaftung orientieren. Gemeinschaft sollte also weder verstanden noch konzipiert werden als das, was man gemeinsam hat. Verwerfen sollte man auch ein romantisiertes oder kitschiges Verständnis von Gemeinschaft, das erst Sehnsucht, dann Enttäuschung hervorruft. Neue Formen der Vergemeinschaftung, wie immer auch genau sie auszusehen vermögen, müssen hybride Wesen sein, bestehend aus einem Zugleich von Präsenz und Ko-Präsenz, Analogem und Digitalem, räumlicher und zeitlicher Symmetrie und Asymmetrie, Flexibilität und Festlegung, dem Wertschätzen und Ermöglichen von Individualität und dem Wertschätzen und Ermöglichen von Formen des Bundes.
von Tobias Künkler,
Studiengangsleiter M.A. Transformationsstudien: Öffentliche Theologie & Soziale Arbeit,
Professur für Interdisziplinäre Grundlagen der Sozialen Arbeit
Hi Ihr beiden Tobias-se
Ich finde Eure Gedanken sehr inspirierend. Bin auch selbst am Ausprobieren, wie Verflüssigung von Kirche und Verbindlichkeiten in neuen Bundesschlüssen gleichzeitig gelebt werden kann. Reinhold Krebs hat mir mit seiner aus der Praxis stammenden angewandten Ekklesiologie von “Gemeinde auf Augenhöhe” entscheidend weitergeholfen. Wir SIND Kirche, ob wir uns als 2 oder 3 versammeln oder mit 100 oder 1000 Leuten. Jede quantitative Zusammenkunft von Jesusnachfolgern ist qualitativ “Kirche” und nicht nur der Sonntagsmorgen-Gottesdienst oder gar nur eine hierarchisch oder e.V. oder KdöR verfassten Kirche.
Gleichzeitig betont Reinhold Krebs, dass keine einzelne Ausdrucksform von Gemeinschaft (intim:2-3, persönlich: 6-12, sozial: 20-50 und öffentlich: 50+X) die GANZE Kirche ist – wir brauchen Ergänzung durch unterschiedliche Größen von Gruppen, einschließlich der digitalen und hybriden Form von Meetings, Gebeten, Austauschrunden usw.
In Coronazeiten habe ich mehrere Male an “Global Gatherings” teilgenommen, die von dem Ägypter David Demian und dem messianischen Juden Asher Intrater organisiert waren: 20-40 Leiter weltweit, von denen sich die meisten aber nicht alle persönlich kannten waren per Zoom miteinander im Gespräch und mehrere 10.000 Christen haben weltweit in mehr als ein Dutzend Sprachen per Youtube daran teilgenommen. Was mich fasziniert hat war, dass es gar keine langen Reden und Predigten gab, sondern Zeugnisse von Leitern, die aufeinander mit großer Wertschätzung reagierten, von verschiedenem internationalen Lobpreisleitern in die Anbetung geführt wurden und am Ende das Abendmahl miteinander feierten, jeder der wollte, konnte in seinem Wohnzimmer mitmachen. So etwas ist für mich erlebte globale Kirche, die durch lokale oder digitale Zellgruppen ergänzt wird + hybride Gebetstreffen unterschiedlicher Größen und Arbeitstreffen, die vom gemeinsamen Hören auf Gott geprägt sind. Globale Vergemeinschaftungserfahrungen sind auch 2020 möglich.
Herzlich verbunden Horst Engelmann aus Wiedenest
Ich finde Die haben sich viel Mühe gegeben und auch viel Zeit dafür gebraucht, jedoch sollte man an die Umsetzung denken. Es werden überall Tausende von Seiten geschrieben, wird es nicht praktisch angewendet ist es nur Papier, was ich sagen möchte ist die Bürger und ich auch, wir brauchen ein kurzes Spektrum wo man Umsetzen kann, wie lange muss ich an ihrem Text arbeiten bis er praktisch wird so viel Zeit habe ich nicht.