“Warum ausgerechnet das ‚absolut Gute‘ zum Feind des Guten werden kann. Und wie eine Ethik zum Selberdenken so wichtig ist.”

Theologie

 

„Das Bessere dem weniger Guten vorzuziehen,

weil das ‚absolute Gute’ gerade das Böse um so mehr

hervorrufen kann, ist die oft notwendige Selbstbescheidung

des verantwortlich Handelnden.»

Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, S. 221

 

Ethik ist die Reflexion unseres moralischen Handelns und kaum etwas polarisiert die Welt momentan mehr, denn die unterschiedlichen moralischen Meinungen führen in unserer Zeit immer wieder zu Spannungen und Streitereien, egal ob es um den Beginn des Lebens (Schwangerschaftsabbruch) oder das Ende (selbstbestimmtes Sterben) geht. Moral stiftet dabei heute vielfach eine Sprache, mit deren Hilfe Weltbildkonflikte ausgetragen werden. Dabei laufen immer mehr jenseits der klassischen Konfliktlinien zwischen ‚Liberalen’ und ‚Konservativen’, ‚Islam’ und ‚Säkularität’, ‚Links’ und ‚Rechts’ etc. stattfinden. In den Identitätskämpfen der Gegenwart wird moralische Sprache vielfach missbraucht zur Bekämpfung der anderen Seite auch auf ideeller Ebene. Ethik ist in seiner Reflexionsmöglichkeit deshalb die Chance Abstand zur konfliktorientierter Kulturkampfrhetorik zu sein. Ethik ist nötig, moralische Einzelpersonen als auch Intuitionen wieder sprachfähig zu machen in den Konflikten dieser Welt. Ethik versucht also den Dialog zu fördern, in die Konfliktlinien zu gehen und jeweils das kommunikative und selbstreflexive Element zu fördern. Das Ziel ist eine eigenständige ethische Urteilskraft, damit verbunden auch eine Ambiguitätstoleranz gegenüber anderen Weltauffassungen und Werten.

Die Kraft von Moral

Auch in den christlichen Kirchen und Gemeinden kommt es vielfach zu einem Wandel von theologisch-dogmatischen Auseinandersetzungen (Taufe, Abendmahl, Prädestination etc.) zu ethischen (Gender, Klimawandel, Homosexualität etc.). In christlichen Gemeinschaften gibt es aber nicht nur eine Polarisierung von moralischen Meinungen, sondern oftmals auch eine mangelnde Streit- und Diskussionskultur. Und das ist kein Wunder, denn Moral ist emotional – weckt unsere Gefühle und gerade in Zeiten von Umbrüchen und Ungerechtigkeiten wird dies verstärkt. Moral ist menschlich – wir sind als ganzheitliche Wesen immer Teil einer Kultur und nehme diese ganzheitlich wahr: kognitiv, emotional etc. Und Moral polarisiert – es gibt eine weltweit geltende Spannung zwischen eher traditionalistischen und eher progressiven Menschen. Wie eine Bruchlinie zieht sich dies durch alle Kulturen und beide haben unterschiedliche Normen und Werte, die für eine gute Gesellschaft und ein gutes Leben stehen. Die amerikanischen Kulturpsychologen Paul Rozin und Jonathan Haidt haben jeweils eine Art Landkarte zur Beschreibung von Werten entwickelt und haben unterschieden zwischen eher „Traditionalisten“ und eher „Progressiven“ denen sie jeweils drei Schlüsselwerten zuschreiben, um sie zu charakterisieren: „Traditionalisten“: Autorität, Loyalität und Reinheit (Ekel) und „Progressive“: Fürsorge, Fairness und Freiheit. Auf diesen Schlüsselwerten fußen viele unserer Entscheidungen und auch viele unserer Gefühle bei Entscheidungen (auch das sogenannte Bauchgefühl). Deshalb ist es wichtig, sich selbst immer wieder zu reflektieren, um das zu verstehen, was in einem bei moralischen Konflikten vorgeht. Moral fordert dabei immer auch eine Entscheidung, sowohl bei Traditionalisten als auch bei Progressiven. Dies beutetet aber auch immer: Ich muss mich entscheiden. Aber wie? Moralisches Handeln ist nur dann einfach, wenn man am „grünen Tisch“ entscheiden muss und wird dann zum Dilemma, wenn es in einer konkreten und scheinbar aussichtslosen Situation zu entscheiden ist.

Wenn das  „absolut Gute” zum Feind des Guten wird

Kaum jemand kann dies besser beschreiben als Dietrich Bonhoeffer, der in seiner Ethik sich selbst immer wieder in diese Situationen geführt sieht. Am „grünen Tisch der Theologie“ hält er die Feindesliebe für unverzichtbar, um dann im Dilemma des Nationalsozialismus das Attentat auf Hitler zu planen. Warum? Weil das „absolut Gute gerade das Böse umso mehr hervorrufen kann“. Das können wir jetzt auf viele Dilemmasituationen unseres Lebens übertragen. Gerade das „absolut Gute“ wird somit zum Feind des Guten, was zu tun ist.  Hier liegt unglaublich viel Sprengstoff, denn natürlich fordert uns Bonhoeffer an dieser Stelle heraus, wenn er unterschiedliche ethische Ansätze miteinander ins Gespräch bringt. Denn eine Pflichtenethik oder auch Gebotsethik fordert das „absolut Gute“, sieht es als gesetzt, als Norm und unwiderrufliche Orientierung, während eine utilitaristische Ethik nach den Folgen einer Handlung fragt, also welche Konsequenzen die Handlung mit sich bringt. Entscheidend ist dann, welchen Nutzen die Mehrheit der Beteiligten von der Entscheidung haben. Es geht um die Vermehrung des Glücks und des guten Lebens und darum, dass möglichst viele Betroffene davon profitieren. Bonhoeffer möchte nun beide Ansätze ins Gespräch bringen und zwar nicht nur miteinander, sondern auch mit der jeweiligen Dilemmasituation. Das ist herausfordernd, weil es die eigene Position und Meinung hinterfragt und zum Selberdenken zwingt. Ethik will genau hier als Reflexion dieser Prozesse nun helfen, gute Entscheidungen zu treffen, eigene Gedanken offen zu legen, Argumente herauszuarbeiten, sprachfähig zu werden und die eigenen Gedanken für Andere nachvollziehbar zu machen, um so Abstand zu konfliktorientierter Kulturkampfrhetorik zu schaffen. Wir brauchen Ethik, um überhaupt wieder miteinander über unsere moralischen Intuitionen zu sprechen, weil die Unterscheidung von Reflexion und konkreter normativer Auffassung die Freiheit zur Reflexion und Auseinandersetzung bewahrt, auch wenn die Reflektierenden selbst moralische Prinzipien haben, die ihre Reflexion ihrerseits anleiten. Ohne Ethik gibt es keinen Dialog. Nur durch Ethik werden wir fähig, zwischen die Konfliktlinien zu gehen und jeweils das kommunikative und selbstreflexive Element zu fördern. Das Ziel ist eine eigenständige ethische Urteilskraft. Damit verbunden ist auch eine Ambiguitätstoleranz gegenüber anderen Weltauffassungen und Werten.

Das Streben nach Freiheit und dem guten Leben 

Ethik führt nicht immer zu Einigkeit. Aber sie kann Verständnis trotz unterschiedlicher Einschätzungen fördern und zu einer versöhnten Verschiedenheit führen. Wesentlich ist dabei die Anregung, mitten in den Streitfragen unserer Zeit zum eigenen ethischen Urteil zu kommen. Dabei sollen jeweils verschiedene Perspektiven eine faire Darstellung finden. Dabei sind fast alle auf der Suche nach einem sinnvollen Leben. Gerade in der westlichen Welt leben wir den Traum vom individualisierten Glück und einem authentischen Leben. Dabei ist die Moderne gekennzeichnet durch die Transformationsenergie und die fortgesetzte Steigerung von Wachstum. Jede und jeder kann dabei selbst entscheiden, was gut und richtig für einen ist. Denn alle wollen vor allem eines: ein gutes Leben führen. Aber was ist ein gutes Leben? Was aber sind dabei die Kriterien für gute und moralische Entscheidungen? Das gute Leben hat individuelle und soziale Aspekte, einen Gegenwarts- und einen Zukunftshorizont. Was geschieht, wenn sie persönliches und allgemeines Wohl nicht gleichzeitig verfolgen lassen, wenn Freiheit und Bindung in Konflikt treten? Wenn das für mich absolut Gute für die Menschen um mich herum eben nicht gut ist, sondern vielleicht sogar negativ oder gar zerstörerisch wahrgenommen wird?

Wer sich dafür interessiert, findet hier unsere Gedanken in einem Buch, Podcast und weiteren vertiefenden und nachdenkenswerten Artikeln auf unserer Homepage für Transformation:

 

Karte und Gebiet – Der Podcast für eine Ethik zum Selberdenken:

In einer Welt der Polarisierungen verbindet die meisten Menschen die Suche nach einem guten Leben. Aber was ist ein gutes Leben? Ein angenehmes und lustvolles Leben? Geht es um Erfolg im Wettkampf mit anderen? Oder um Sinn und Erfüllung? Aber meinen wir mit „gut“ nicht auch das moralisch Gebotene, das wir tun wollen, auch wenn unser Leben dadurch weniger angenehm, ja spannungsvoll wird? Wie entscheiden wir uns angesichts dieser vielschichtigen Bedeutung des Guten in immer neuen Herausforderungen? In diesem Podcast gehen wir diesen Fragen nach guten moralischen Entscheidungen nach. Dabei ist das Gebiet, die Wirklichkeit, in der wir uns gerade befinden, kein leichtes Gelände. Die Welt um uns herum zerbricht zunehmend in politische Kulturkämpfe. Die moralischen Konflikte der Gegenwart haben immer mehr Sprengkraft. Immer häufiger finden Menschen keinen gemeinsamen Weg mehr, weil sie sich an ganz unterschiedlichen moralischen Landkarten orientieren oder die selben Karten sehr anders deuten. Zu schnell scheint die fluide Moderne vieles infrage zu stellen, was einst sicher und eindeutig erschien: Berufsbilder und Arbeitsformen, Geschlechterrollen und Familienbilder, religiöse und politische Zugehörigkeiten. Bisherige Karten geben immer weniger Orientierung, weil sich das Gebiet im beständigen Wandel befindet. In unserer „Transformativen Ethik“ haben wir vor allem an einem dicken und bewährten Wanderatlas Maß genommen: der Bibel. Für uns ist sie die vertrauenswürdige Landkarte unserer Lebensreise. In unserem Podcast fragen wir gemeinsam nach Wegen zum Leben. Möge die Reise beginnen… Zu hören bei allen großen Anbietern (Spotify, apple, amazon, etc.)

 

Transformative Ethik – Das Buch zu einer Ethik zum Selberdenken:

Wir leben in einer Zeit der Polarisierung. Ethische Konflikte nehmen zu – in unserer Gesellschaft ebenso wie in Kirchen und Gemeinden. Was sind die Kriterien für gute und moralische Entscheidungen? In diesem Buch geht es speziell um Veränderungen im Bereich der Ethik. Es hilft Leserinnen und Lesern, moralische Konflikte durch biblische Leitlinien selbstständig zu lösen. Ethik zum Selberdenken. Rezensionen zum Kennenlernen.

 

IST – Die Buchreihe zum großen Thema Transformation

Immer häufiger begegnet es uns – das Thema Transformation: Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft sprechen von der “Großen Transformation” und Christ*innen diskutieren über die Transformation von Kirche und die Rolle der Kirche in der Großen Transformation.

Aber was heißt Transformation eigentlich? Und was hat es mit unserer Glaubenspraxis zu tun?

Auf dieser Internetseite wollen wir diesem hochaktuellen Thema nachgehen und uns zum einen mit den massiven gesellschaftlichen Umbrüchen beschäftigen und zum anderen fragen, welche Chancen und Herausforderungen sich für Kirche und individuelle Glaubenspraxis ergeben. Die Grundlage dafür bildet die neue IST-Reihe: “Interdisziplinäre Studien zur Transformation”.

 

 

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