“15 Thesen für kirchliche Startups und Neugründungen: Wie sie gelingen können und was dabei wichtig ist.”

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Jeder gesellschaftliche Umbruch ist auch eine Chance für neue Aufbrüche und so erleben wir in den letzten Jahren viele Neugründungen und Startups, auch im kirchlichen Raum. Ich hatte in den letzten Jahren das Vorrecht im Kontext unseres Master Transformationsstudien einige kirchliche Startups, Gemeindegründungen, Fresh-X, Erprobungsräume, Coworkingspaces, neue ökumenische Allianzen und andere kirchliche Innovationen in den Zwischenräumen von Kirche, Diakonie und Gemeinwesen zu begleiten und habe mal versucht, einige Erfahrungen und Erkenntnisse in Thesen zusammenzufassen. Diese sind sicher nicht vollständig, aber ein Anfang, der gerne ergänzt werden kann:

  1. Neugründung ist in erster Linie eine Kultur und innere Haltung: Es geht nicht um die richtigen Methoden, deren Anwendung oder gar die „sieben Schritte zur perfekten Neugründung“, sondern um eine innere geistliche Haltung des Aufbruchs. Neugründung lebt von dem „warum“. Was hat das Startup oder eine Neugründung zu geben? Was ist das „Warum“ der Gründung? Oftmals geht es zu schnell um das „was“ (machen wir?) und das „wie“ (machen wir es)? Aber die geistliche Motivation des „warum“ ist der Motor für das „was“ und das „wie“.
  2. Neugründung sieht sich als Teil der misso Dei, das heißt Gott ist das handelnde Subjekt und wir sind Teil seiner Mission, dies bestimmt wesentlich die Haltung und nimmt Erfolgsdruck und Machbarkeitswahn raus. Mission zeigt die Barmherzigkeit Gottes, daraus entsteht ein menschenfreundliches Missionsverständnis. Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel hat dazu mal eine schön geschrieben: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen.“
  3. Neugründung ist ein geistlicher Akt, das heißt: Es geht nicht nur um das menschlich Machbare. Was wir als machbar erachten, setzt uns bereits Grenzen – nämlich unsere eigenen. Auch und gerade im geistlichen Bereich bedarf es dabei auch eine „Kultur des Ausprobierens“ und der „Mut zum Scheitern“.
  4. Neugründung lebt von Menschen die eine Vision für das Neue und Undenkbare haben, die den Mut haben bisherige Konventionen zu durchbrechen (Entrepreneure). Neugründung lebt von Gründer:innen, die eine Resilienz gegenüber Kritik mitbringen und Hindernisse überwinden können und somit einen Raum für Innovation zu schaffen.
  5. Neugründung beginnt mit dem Hören. Gott ist schon da, handelt schon und unsere Aufgabe ist es, zu zuhören, Gott und den Menschen, um herauszufinden, was wirklich in diesem Stadtteil nötig ist. Was ist die Vision Gottes. Dabei gilt es auch unsere Sinne zu schärfen und zu reflektieren, dass wir manches verlernen müssen, um umzulernen und Neues wieder wahrzunehmen.
  6. Neugründung gibt es nur mit Menschen, das heißt: Mit den am Gründungsort lebenden Menschen das eigene Leben teilen (Stichwort: Wohnort). Dazu braucht es eine Ethik der Wertschätzung, die Menschen in Achtung und Fürsorge begegnet und um die Verwundbarkeit der Menschen weiß und diese Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit für die Wertschätzung selbst erlebt hat. Was erwarten die Menschen vor Ort? Wie gehen wir damit um? Was können wir lernen? Der Missionswissenschaftler David Bosch hat dazu mal sehr treffend gesagt: „Wir verkündigen den Glauben nicht als Richter oder Anwälte, sondern als Zeugen; nicht als Soldaten, sondern als Boten des Friedens; nicht als aggressive Verkäufer, sondern als Gesandte des dienenden Herrn.“
  7. Neugründung gibt es nur kontextualisiert, das heißt: Sich auf die jeweiligen Milieus einlassen, verstehen und dort leben. Den Anderen kennen lernen heißt, ihn zu achten und zu ehren. Kontextualisierung ist dabei ein Akt der Gemeinschaft und nicht des Einzelnen, sie soll mündig machen, in dem die Gemeinschaft als gegenseitige Korrektur auftritt und die Balance zwischen Evangelium und Kultur so hergestellt bleibt. Dies bedeutet zum Beispiel zu fragen, was das Evangelium für die Menschen des Ortes bedeutet? Wie sie es verstehen und ob sie es überhaupt als gute Botschaft wahrnehmen? Welche Relevanz hat das Evangelium für die Menschen und umgekehrt, wo hinterfragt das Evangelium die Kultur? Wo wirkt das Evangelium prophetisch? Dazu gehört auch eine Kontextanalyse des Ortes, um ihn in seiner Geschichte zu verstehen.
  8. Neugründung lebt durch die starke Anziehung gelebter Gemeinschaft. In einer Gesellschaft der Singularitäten erleben Menschen in einem höherem Maße als früher sich selbst zu gestalten und dabei die einzelne Bausteine des Lebens wie Arbeit, Familie, Kultur, Glaube, Beziehungen oder Freizeit in möglichst origineller und anerkennungsträchtiger Weise miteinander zu kombinieren. Während dies einerseits viele Freiheits- und Gestaltungsmöglichkeiten bietet, drohen andererseits auch weniger attraktive Konsequenzen: etwa eine Art Zwang, sich selbst in ständig neuer Weise zu präsentieren. Somit wird auch das Bedürfnis stärker, einzigartige und besondere Beziehungen zu haben. Gleichzeitig wird es schwieriger, diese zu finden und zu leben. Somit kann aus diesem Wandel auch vermehrt Einsamkeit entstehen. Neugründungen schaffen Räume für authentische Beziehungen, die sich diesem Druck widersetzen.
  9. Neugründung braucht Deutungsvermögen und Entscheidungskompetenz: Die Fähigkeit zu gesellschaftsdiagnostischer Analyse und ethischer Entscheidungskompetenz in Zeiten eines beschleunigten sozialen Wandels und ethischer Unsicherheit darüber, wie wir heute leben sollen. In einer zunehmend polarisierenden Welt braucht es Orte, wo man sich gegenseitig aushält und dialogfähig ist. Dazu gehört auch die Frage, wie das Evangelium prophetisch in diese Welt hinwirkt.
  10. Neugründung braucht die Schlüsselkompetenz Kommunikation, sowohl nach innen (ins Team, in die Gemeinde, Startup etc.) als auch nach außen (Stadtteil, Öffentlichkeit etc.) Neugründung heißt dabei Lernende sein, Kommunikation und Haltung gehören dabei zusammen: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“ (Klaus Hemmerle)
  11. Neugründung ist heute immer vernetzt und plural, das heißt: Wir brauchen Startups, die die Fähigkeit haben, heterogene Akteure im Sozialraum über Organisations-, Institutions- und Milieugrenzen hinaus miteinander zu vernetzen und auf diese Weise die Zusammenarbeit und Vernetzung in Gemeinwesen und Region zu koordinieren.
  12. Neugründung heißt, dass wir Menschen befähigen (Empowerment), neue Formen von Leitungs- und Befähigungsstrukturen zu leben, das heißt: Die Fähigkeiten zur eigenverantwortlichen Führung von Gruppen, Organisationen und Projekten, die mit heterogenen Akteur:innen besetzt sind. Organisationsstrukturen sind wichtig, gerade um Personenkult und Machtmissbrauch zu vermeiden.
  13. Neugründung schätzt die Menschen innerhalb des Startups, die das bisherige System eher stören, das heißt: Es gibt eine Gabe des „not fitting in“, die neu entdeckt und neu gefördert werden muss. Gerade Gründer:innen bringen eine bestimmtes Persönlichkeitsprofil mit, dass es zu würdigen gilt, das aber auch Ergänzung braucht.
  14. Neugründung  als lernende Organisation. Eine lernende Organisation ist in ihrer DNA so angelegt, dass Menschen ihre Fähigkeiten entfalten können, neue Denkformen Raum haben und die Struktur sich prozessual weiterentwickelt. Partizipation beschreibt dabei die Teilhabe an Veränderungsprozessen und spielt deshalb für die Identifikation eine zentrale Rolle. Menschen können so Verantwortung in gesellschaftlichen und kirchlichen Prozessen übernehmen, Teil von neuen Ideen sein und die eigene Zukunft mitgestalten.
  15. Neugründungen und Startup stehen in der Spannung zwischen unternehmerischem Handeln und einer Reich Gottes Ethik. Was kann man gegenseitig lernen? Wo müssen Spannungen ausgehalten werden? Was ist aber in einer geistlichen Gründung gerade auch anders als in einem wirtschaftlichen Startup?

 

Was fehlt aus deiner Sicht und Erfahrung?

Was muss ergänzt werden?

Wo würdest du widersprechen?

Welche Thesen sind für dich besonders wichtig?

Auf was könntest du nicht verzichten?

 

Das ZDF hat einen kleinen Bericht über meine Thesen gemacht, den du dir hier anschauen kannst: ZDF Startups!

 

Vertiefende Gedanken und Materialien gibt es hier:

Das Gründer*innenhandbuch

Vom Wandern und Wundern (Bils/Herrmann)

Pop Up-Kirche 

 

Fresh X

Erprobungsräume

Master Transformationsstudien

 

 

10 Comments

  1. Alexander Bischoff

    Ein sehr interessanter Diskussions Beitrag, eine Kultur der start up Generation transformiert das ganze kirchliche Geschehen. Was mir etwas fehlt, ist die Auseinandersetzung ist dem Spannungsbereich zwischen dem Gemeinde Gründer, Teamfindung und der Übergang in eine kirchliche Strukturen Arbeit. Diese drei Schritte scheint mir eine enorme Herausforderung zu bilden In gleicher Weise, müsste man die Frage stellen wie müsste denn der Gemeinde Gründe sein, welche Eigenschaften, Fähigkeiten, Grenzen gehören in das Persönlichkeits Bild eines Gemeinde- Gründers.

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    • Danke. Ja, sehr gute Frage, die Frage nach dem Team, der Gemeinschaft und der Gründungspersönlichkeit ist eine sehr gute und eine, an der auch viel Scheitern kann. In unserem Master haben wir da extra was zu und es sollte auch bei den Thesen nicht fehlen! 😉 Ich notiere es mal…

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  2. Ich würde deine Thesen voll unterschreiben, lieber Tobias. Was ich noch stärker hervorheben würde, ist der Aspekt der Nachfolge. Aufgrund meiner Erfahrung und Überzeugung brauchen Neugründungen ein klares, nicht zu plattes und einliniges Verständnis des Jüngerschaftsprozesses, durch den sie die Menschen beglei-ten wollen, die sie erreichen. Sie verstehen sich als Nachfolge-Gemeinschaft. Es geht nicht einfach nur da-rum, ein attraktives Angebot zu machen und Menschen zu erreichen, sondern darum, dass Menschen Jesus begegnen und in Gemeinschaft mit anderen ihren persönlichen Weg im Glauben gehen lernen.

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    • Danke, guter Punkt. Ich mag das Wort “Nachfolgegemeinschaft”, ich mag nicht so sehr das Wort Jüngerschaftsprozess. Letzteres klingt so berechnend, aber das meinst du wahrscheinlich auch nicht. Eher sowas wie Kleingruppen, gemeinsam essen etc. oder?

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      • Eberhard Schilling

        Was ich meine, ist folgendes: Einer der zentralen Aufträge, die Jesus uns gegeben hat, ist Menschen zu Jüngern (und natürlich Jüngerinnen) zu machen (Mt 28,19). Wenn wir das ernstnehmen und umsetzen wollen, müssen wir uns was Konkretes drunter vorstellen können. Ich denke, es geht um viele konkre-te Haltungen und Gewohnheiten, die wir von Jesus und unseren Mitchristen lernen können. Dinge wie: eine Liebesbeziehung zum dreieinigen Gott entwickeln, Gott in der Stille begegnen, Gebet zu einem integralen Bestandteil des eigenen Lebens machen, die Bibel studieren und sich mit ihr ausei-nander setzen, Christsein in Gemeinschaft leben, Zeit mit Menschen verbringen, die Jesus noch nicht kennen, sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen usw. Und ich glaube, das ist ein Prozess, bei dem wir nie fertig sein werden und es abhaken können, sondern ein Leben lang Entwicklungen durchlaufen, Neues dazu lernen, Dürrezeiten durchleben und wieder neu Feuer fangen. Es geht mir nicht um das Bild eines „perfekten Christseins“, aber ich denke, wir sind es den Menschen schuldig, ihnen eine plastische Vorstellung zu liefern, was gelebtes Christsein bedeuten könnte. Und gerade bei Neugründungen sollte das von Anfang an Teil der DNA sein.

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  3. Alle Startups, die ich kenne, sind so „schrecklich“ konfessionell – wohl weil die Initiatoren aus ihrer jeweiligen Ecke kommen bzw. finanziert werden. Kann es nicht so etwas wie eine „geistliche Genossenschaft“ geben, in die jede Tradition ihre (guten) Anteile einbringt? Wer hat wie ich Lust, die erste multikonfessionelle Gemeinde zu gründen, in der man sich NICHT dogmengeschichtliche Zugangsbedingungen um die Ohren schlägt? Welche christlichen Basics sind postmodernen Menschen plausibel? Wie kann das Genossenschaftsmodell kirchlich (re?)transformiert werden?

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  4. Ich hätte aus dem Alltag eines Jungunternehmers, dessen Kommunikations-“Startup” sich auch hochgeboxt hat, sowie eines Ex-Presbyters, der Neugründungen auch von der anderen Seite des Tisches kennt (wir hatten ein bekanntes Fresh X bei uns angesiedelt) auch noch ein paar pragmatischere Ergänzungen 😉

    – Neugründung braucht Fokus. Lieber erst einmal eine Sache richtig gut machen, bevor man die fünfte, sechste halbe Sache auch noch anfängt und die Energie in alle möglichen Richtungen verpufft.
    – Neugründungen sollten offen für Iterationen sein. Das bedeutet auch, dass sich die Kernidee weiterentwickeln darf von dem, was ich gerne mag, hin zu dem, was die Menschen gerne mögen. (“Don’t fall in love with your idea too quickly”).
    – Neugründung soll nicht alles auf die lange Bank schieben – sondern in konkreten, kleine Zyklen nach vorne gehen. Bei jeder Ausbaustufe gilt es, einen exemplarischen “Proof of Concept” zu unterziehen. Man könnte es auch Prototyp nennen. Fail fast, fail early, come back better.
    – Neugründungen sollten nicht zu schnell in Stellenanteilen denken. Geht es um die Sache – oder um eine Jobperspektive für die Gründer? Gerade das zu schnelle denken in Personalstellen verhindert m.E. die wirklichen Innovationssprünge.
    – Neugründung braucht die Demut, nicht Perfektion zu verkaufen (das Problem mit den Berichten an die Geldgeber…) und auch von der Tradition zu lernen. Gleichzeitig aber auch die Courage, manch traditionalistische Feedback zu überhören.

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