„Warum hat Kirche Zukunft Maria Herrmann?“

Nachgefragt

 

  1. Liebe Maria, du beschäftigst dich intensiv mit den Veränderungsprozesse von Kirche, was beschäftigt dich da momentan am meisten?

In den letzten Monaten denke ich viel über den Begriff der »Zukunft« nach. Zukunft und Zukunftsfähigkeit können ja mögliche Ziele von Veränderung sein. Forschende haben schon vor einiger Zeit begonnen im Plural davon zu sprechen: Viele sagen, sie denken nach über »Zukünfte«. Damit wird ausgedrückt, dass man in den allermeisten Fällen eine Wahl hat zwischen mehreren Möglichkeiten. Dass es eine grob wahrscheinliche Zukunft gibt, aber auch eine ambitionierte, eine kreative, eine hoffnungsvolle, eine solidarische z.B. Und dass man verschiedene Optionen hat, in der Gegenwart schon die Dinge zu gestalten, die eine dieser Zukünfte entstehen lassen können.

Ich frage mich, was das bedeutet, wenn man es auf die Veränderungsprozesse von Kirche überträgt. Eine Erkenntnis der sogenannten Freiburger Studie zur Kirchenmitgliedschaft besagt ja genau das: die Kirchen sind den Veränderungen nicht machtlos ausgeliefert. Eine ganze Reihe von Gründe für die sinkenden Mitgliedschaftszahlen sind auf kircheninterne Faktoren zurückzuführen. Auch wenn sich unsere Gesellschaften verändern, gibt es immer etwas zu tun, das die Zukünfte von Kirchen und Gemeinden in einem guten Sinne und evangeliumsgemäß gestalten lassen kann. Mit evangeliumsgemäß meine ich, dem Sendungsauftrag Jesu Christi gemäß Licht zu sein in diesen Zeiten. Danach zu fragen, was konkret Licht bedeutet für die Menschen und Hoffnung gibt in den jeweiligen Kontexten. Und darauf zu vertrauen, dass Gott immer einen Schritt voraus ist in Richtung Zukunft.

Erlebt man in diesen Monaten Kirchenleitende und andere Engagierte – vor allem im römisch-katholischen Kontext, aber nicht nur dort – könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass uns eigentlich nur noch übrigbleibt, uns der Zukunft, den Abbrüchen und der Auflösung bestehender Formen alternativlos zu ergeben. Und das sehe ich entschieden anders.

 

  1. Du hast ein Buch herausgegeben, das sich auch damit beschäftigt: „Anders“, was war Dir da am wichtigsten?

Das Buch war ein Projekt für den Innovationsbeirat von Fresh X Deutschland e.V., an dem ich zusammen mit Florian Karcher arbeiten durfte. Wichtig war mir genau das zu konkretisieren, was ich eben nur allgemeiner andeuten konnte: Zu zeigen, dass Engagierte in den Kirchen eine Wahl haben, Zukünfte von Kirchen und Gemeinden zu gestalten. Und wie das konkret aussehen kann. Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation sind hier entscheidende Faktoren für mich. Und auch das, was ich in meinem eigenen Artikel bearbeite: An dem zu arbeiten, das einen selbst unzufrieden macht. Unzufriedenheit und Sehnsucht sind entscheidende Quellen für Veränderungsprozesse. Nicht auf die großen Prozesse zu warten – was nicht heißt, dass diese nicht notwendig sind. Es ist ein »Sowohl als auch«. Die Erfahrungen z.B. der Church of England (mit ihren Fresh Expressions of Church) oder der Protestantse Kerk Nederland (mit ihren Pionier Splekken) bestätigen das. Die Vielfalt der Themen unterstreicht es: Von verschiedenen Formen der Spiritualität, über Team- und Leitungsfragen, zu Ausbildungserfahrungen, Fragen von Macht und Leitung, der Gerechtigkeit, der Kommunikation und vielem mehr.

Wichtig war uns beim Buch deswegen, die möglichen Ansatzpunkte so konkret wie möglich zu benennen ohne in die »Best Practice« Falle zu tappen. Es ist kein Beispiel- oder How-To Buch geworden, denn das würde im Zusammenhang mit der Komplexität der Problematik nur an der Oberfläche der Veränderungsprozesse kratzen. Wir haben das Buch bewusst vom goldenen Kreis von Simon Sinek inspiriert gestaltet, um von eher allgemeinen und grundsätzlichen Fragen zu konkreten Perspektiven zu kommen. So würde ich sagen, dass auch diese Balance – zwischen Meta-Denken und Praxis-Erfahrung – ein wichtiger Bestandteil des Buches ist. Weil es nämlich auch hier beides braucht.

Und schließlich ist mir wichtig, wie die Artikel entstanden sind. So haben wir es auch im Vorwort beschrieben: Es bedeutet mir unheimlich viel und berührt mich sehr, dass sich ein großer Teil der Autorinnen und Autoren zum ersten Mal darauf eingelassen hat, einen solchen Artikel zu schreiben und sich mit ihren Erfahrungen und Fragen, Ideen und Träumen der Öffentlichkeit zu zeigen. Und das ist vielleicht das letzte, das dieses Buch für mich zu einem Besonderen macht: Wir wollten ein Buch veröffentlichen, in dem in seiner Formatierung bereits das steckt, was es gemeinsam zu gestalten gilt: Lebendige Vielfalt und unterschiedliche Perspektiven, Brüchigkeit und Fragmentarisches, Theorie und Praxis, Induktion und Abduktion. Das Leben als eine Akademie für die Zukünfte.

 

  1. So ein Buch braucht ja viel Vorbereitung. Kann einen bei so einem Projekt dann noch etwas überraschen – und wenn ja, was?

Ich erinnere mich noch an den Moment, in dem ich den ersten Text eines Autors lesen durfte. Es war Dags Text über Vielfalt und den Sinologen François Jullien und ich war inspiriert davon, wie gut das eine Ebene der Diskurse um Fresh Expressions bereichern kann. Ich wusste, dass Dag seine Abschlussarbeit zu Jullien geschrieben hatte und ich kannte einige Arbeiten von diesem französischen Philosophen. Soweit ich weiß hatte bisher niemand vorher Julliens Denken mit Fresh Expressions in Verbindung gebracht – wir haben uns das von Dag gewünscht und er hatte uns dankenswerter Weise zugesagt. Ähnlich ging es mir, als ich Friederikes und Miriams Texte zu Ausbildungs-, Berufseinstiegs- und Rollen erfahrungen hintereinander gesetzt gelesen habe. Diese beiden Texte, so unterschiedlich sie sind, greifen ineinander – eben genau deswegen, weil sie ohne voneinander zu wissen, wie angezogen in einem Magnetfeld aufeinander Bezug nehmen. Und dann gab es Autorinnen und Autoren, die haben lange mit ihrem Text gerungen. Zu jedem Artikel und zu jedem Autor oder jeder Autorin könnten wir etwas erzählen.

Überrascht hat mich, wie sehr diese Erfahrungen der Autorinnen und Autoren und auch unsere Erfahrungen als Herausgebende selbst Geschichten über die Zukünfte von Kirche erzählen: Riskante Entscheidungen treffen, neue Kombinationen und Bezüge suchen, Ambivalenzen aufzeigen und gemeinsam bearbeiten, vom Konkreten und Kontextuellen, von der Sendung der Kirche und von der Erfahrung ausgehend an neuen Strukturen bauen. Und so bin ich dankbar für diese Erfahrung ein Buch mit veröffentlicht zu haben, das mich vermutlich selbst am meisten gelehrt hat.

 

Maria Herrmann ist Referentin für strategische Innovation in der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim.

Mehr über die Arbeit und das Denken von Maria Herrmann gibt es hier.

Mehr über das Buch “Anders” gibt es hier.

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