“Kleines Sommerreview der Urlaubsliteratur: Poladjan, Geiger, Oehmke, Menasse und Hansen.”

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Im sonnigen Ligurien hatte ich dieses Jahr Zeit und Muße einige wunderbare Romane zu lesen, die ich hier in aller Kürze in zwei Kategorien vorstellen möchte:

Außerordentlich und Lesepflicht:

Die Überraschung meines Sommers war: „Hier sind Löwen“ von Katerina Poladjan. Die Buchrestauratorin Helen macht sich auf den Weg nach Armenien um eine alte Familienbibel zu restaurieren. Sie taucht ein in Geschichte, Menschen und Kultur Armeniens. In wunderbar feinen Worten, nimmt einen die Autorin in verschiedene Ebenen eines für mich auch fremden Landes ein, von Buchbindetechniken, Christenverfolgung und Liebesgeschichte ist da alles dabei. Besonders interessant sind die Lücken und das nicht Geschriebene, was den Roman so besonders macht (übrigens auch bei den Figuren), so kommt das Wort Genozid nicht ein einziges Mal vor und ist dennoch allgegenwärtig. Ein feines, tiefes und dennoch kraftvolles literarisches Meisterwerk.

Ganz anders und nicht minder brillant ist Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“. Gleich bleibt der autobiographische Bezug und ein außergewöhnlicher Schreibstil, aber der Kontext ist ein ganz anderer. Arno Geiger nimmt einen mit hinein in sein Doppelleben, das er über viele Jahre geführt hat. Zum einen beschreibt er seinen Werdegang zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsschriftsteller und zum anderen seine nächtlichen „Altpapiertouren“, die er wie ein Lumpensammler inkognito durchführt und die sein glückliches Geheimnis darstellen. Arno Geiger nimmt einen mit hinein in sein Doppelleben, seinen so ersehnten Erfolg, der dann doch nicht alle Sehnsüchte stillt, in seine Neurosen und in sein kompliziertes Liebesleben (mit O. und mit K.). Preisgekrönter Schriftsteller, ausgebucht und gejagt vom Erfolg und gleichzeitig ein Nichts: „Ich war ein Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts.“ Vor allem die Reflektionen rund um das was Leben, Glück und Liebe ausmachen, was warum wo erfüllt wird und was eben auch nicht, machen dieses Buch so wunderbar und lebensnah. Dazu kommt, dass Arno Geigers lakonisch präziser Schreibstil einen regelrecht mit hineinzieht in sein Leben und zeigt, was mit Sprache alles möglich ist. Pflichtlektüre.

“Schönwald” so lautet der einfache Titel des Debütromans von Philipp Oehmke (Hörbuch), der eine Mischung aus Familienepos, Zeitgeistroman und Gesellschaftsanalyse ineinander verwebt und einen in die aktuellen Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins in den gesellschaftlichen Verstrickung von Wokeness, Cancel Culture, Fakenews, Trumpismus, Queerness etc. hineinführt. Denn die Familie Harry & Ruth Schönwald mit ihren erwachsenen Kindern Chris, Karolin und Benni lassen nichts aus und kämpfen sich durch ihr Leben und suchen nach Glück, sich selbst und das was Familie heute sein kann. Da ist zum Beispiel der charismatische Chris, der Älteste und der Stolz der ganzen Familie, der es bis zum gefeierten linken Literaturprofessor der Columbia University in New York geschafft hat. Was nur keiner weiß: Chris hat die Seiten gewechselt und arbeitet nun als neuer Star für die „Alt-Right Bewegung“ und die Trumpisten. Aber das ist nicht das einzige Geheimnis, denn woher stammt das Familienerbe mit dem Tochter Karolin einen queeren Buchladen in Berlin eröffnet hat und der zur Zielscheibe von jungen Demonstrant:innen wird, die behaupten, dass es sich um Nazi-Geld handelt und die kapitalistischen Ströme des Blutgeldes der Vergangenheit stoppen wollen („heteronormative Menschen mit Genozidhintergrund“). Oehmke lässt nichts aus und nimmt sich dabei viel Zeit für seine fünf Protagonisten und ihre Entwicklungen, Sehnsüchte und ihr Scheitern. Dabei verdichten sich die verschiedenen Lesestränge (Zeiten, Figuren etc.) Zunehmens, was sehr gelungen ist und die Charaktere lebendig macht, aber auch ein viel Aufmerksamkeit erfordert. Das ist ein großes Vergnügen bei dem Zeitgeist und Charaktere und Familienroman und Gesellschaftssatire untrennbar ineinanderfließen. Manchmal wollte ich dem Autor „Too much“ entgegenrufen, um mich dann sofort wieder in den Sog der irrwitzigen Geschichte hineinsaugen zu lassen. Großartig.

Sehr gut zu lesen – Leseempfehlung:

Robert Menasse „Die Erweiterung“: Ich habe mit großem Vergnügen den Vorgängerband „Die Hauptstadt“ gelesen und auch  „Die Erweiterung“ enttäuscht nicht. Mit großem Tempo, Witz und unerwarteten Wendungen erzählt Menasse die Geschichte der europäischen Erweiterung aus der Perspektive Albaniens. Im Dreieck Brüssel, Wien und Tirana baut er eine wunderbare unmögliche Geschichte aus persönlichen Träumen, nationalen Phantasien und europäischer Politik auf. Taucht immer wieder tief ein in die unterschiedlichen und skurrilen Protagonisten und ihren sonderlichen Geschichten und verwebt das Ganze zu einem wunderbaren Roman, der in einer legendären Kreuzfahrt endet. Das Buch lebt vom (manchmal abstrusen) Ideenreichtum seines Autors, der flüssigen Sprache und kommt dennoch nicht ganz an die „Hauptstadt“ ran. Lesenswert.

Ein bisschen ähnlich ging es mir mit Dörte Hansen und ihrem neuen Roman „Zur See“, der die schrullig-schönen Beschreibung eines Inseldorfs mit seinen Bewohnern in der rauen Nordsee. Mit oftmals wenigen Worten nimmt einen Hansen hinein in die verschiedenen Charakteren des Dorfes, deren biographischer Gebundenheit, der Suche und Sehnsucht nach Aus- und Aufbrüchen und das fast liebenswerte Scheitern. Besonders hat mir  – oh Wunder – dabei der Pastors(Lehmann) gefallen, der mit Hingabe, Touristen und Unglauben zu kämpfen hat und seine Rolle auf der Insel sucht. Es sind dabei immer wieder die wunderbaren und frischen Sprachbilder, die einem mit hineinnehmen und die Geschichte lebendig machen (obwohl es kaum Dialoge gibt). „Zur See“ ist ein wunderbares Buch, dass aber nicht ganz an seinen Vorgänger „Mittagsstunde“ rankommt, trotzdem: Sehr lesenswert.

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