„Dekonstruktion – Zwischen Modewort, Notwendigkeit und Missverständnis.“

Theologie

 

In den letzten Monaten und Jahren machte ein Wort in der frommen Szene regelrecht Karriere: Dekonstruktion.  Für die einen ist sie geradezu eine Notwendigkeit zum Erhalt des eigenen Glaubens, für die anderen ein Wort vor dem man gar nicht genug warnen kann, ja eine Irrlehre, die den Glauben zerstört. So wurde viel geschrieben und erklärt und trotzdem manches aus meiner Sicht nicht verstanden.

Deshalb hier der Versuch ein wenig Licht in die Debatte zu bringen mit der herzlichen Einladung dies zu ergänzen. Denn dieser Begriff hat nicht nur einen geschichtlichen Ursprung, sondern hat auch seine Bedeutungen in verschiedenen Kontexten weiterentwickelt und verändert. Da es ein wenig ausführlicher geworden ist, hier eine kleine Gliederung zu Beginn:

Teil A: Dekonstruktion: Geschichte und Begriffsbestimmung

Teil B: Dekonstruktion im Lebenslauf – Glaube im Umbruch

Teil C: Dekonstruktionsprozesse begleiten – mündig glauben lernen

 

 

Teil A: Dekonstruktion: Geschichte und Begriffsbestimmung

„Dekonstruktion ist nicht nur die Technik einer “zerstörten Konstruktion”, da sie die Idee der Konstruktion beinhaltet.“ Jacques Derrida

 

Eine kleine Geschichte des Begriffs der Dekonstruktion

Dekonstruktion ist keine Modeerscheinung und ein Blick in die Geschichte hilft da wie so oft. Jacques Derrida, französisch-jüdischer Philosoph (1930-2004),  wird aus guten Gründen als der „Vater“ der Dekonstruktion bezeichnet. In seinem Verständnis von Dekonstruktion geht es zunächst um die Abgrenzung und Weiterentwicklung von Heideggers zentralem Begriff der Destruktion. Für Heidegger war Destruktion eine hermeneutische Herangehensweise an  philosophische Texte, um sie aus ihrem verhärteten und traditionellem Verständnis zu lösen, damit man sich mit dem Vergangenen, der Tradition, der Macht, die diese (unsichtbar) mit sich bringt bewusst auseinandersetzen kann (Kritik an der Metaphysik). Destruktion beschreibt also eine Art auseinanderbauen von bisherigen Verständnissen, um darunter etwas aufzudecken, was einen bisher geprägt hat. Derrida hat das aufgenommen, kritisiert und in seiner linguistisch kritischen Theorie weitergeführt. Dafür hat er den Kunstbegriff der Dekonstruktion geschaffen. Dekonstruktion fügt der Destruktion  jetzt die Konstruktion hinzu. Auf eine einfache Formel gebracht, würde es aussehen:

Dekonstruktion gleich Destruktion plus Konstruktion.

Dekonstruktion ist bei Derrida also ein Denkmodell, das die traditionellen Annahmen und Hierarchien von Bedeutung in Texten, Sprache und Kultur öffnet, herausfordert und weiterentwickelt. Derrida argumentierte, dass Sprache und Texte widersprüchlich und ambivalent sind, was zu einer permanenten Instabilität ihrer Bedeutung führen kann. Der Dekonstruktion geht es um das Aufspüren von inneren Spannungen und Paradoxien in Texten; sie will den festgefügten Sinn geschlossener Weltbilder in Bewegung versetzen und neue Bedeutungen freilegen. In der Frühphase war dabei das spielerische Moment im Fokus: eine Bewegung der permanenten Öffnung von geschlossenen Weltbildern wurde unter dem Stichwort „Differance“ in den Blick genommen.

Dabei ist Dekonstruktion nicht zu verwecheln mit dem Konstruktivismus, weil die Vorgehensweise der Dekonstruktion als hermeneutische Möglichkeit voraussetzt, dass die Texte und ihr Verstehen objektiv re-konstruierbar seien, also gerade einen Wahrheitsanspruch haben.

Später bekam die Dekonstruktion einen stärker ethischen Zug, indem sie sich mit Fragen der Gewalt durch geschlossene Weltbilder, mit der Gabe und Vergebung, mit Gerechtigkeit und der Frage des Zusammenlebens beschäftigte.  Für Theologinnen und Theologen ist das von daher anschlussfähig, dass dies auch für die Textverständnisse wie in der Exegese und der Hermeneutik von Bedeutung ist.

Aber das Wort Dekonstruktion machte schnell Karriere und zwar nicht nur in der Auseinandersetzung mit Texten in der Philosophie, Literaturwissenschaft oder Theologie, sondern als weiterentwickeltes Prinzip (Dekonstruktion gleich Destruktion plus Konstruktion) in fast allen Bereichen und Disziplinen, von der Kunst über die Architektur bis ins Projektmanagement.

 

Dekonstruktion als theologisches Prinzip und Phänomen

In der Theologen griff John Caputo das Denken von Derrida auf, der vor allem Anfang der 2000er Jahren in der „Emerging Church Bewegung“ rezipiert und popularisiert wurde. Thorsten Dietz hat dies in seinem Artikel „Wer hat Angst vor Dekonstruktion?“ aufgenommen und gut zusammengefasst. In Deutschland wurde und wird dies seit 2005 im Kontext von „Emergent Deutschland“ diskutiert, „Zeitzeugen“ dafür sind die beiden Bücher:

ZeitGeist: Kultur und Evangelium in der Postmoderne (2007).

ZeitGeist 2: Postmoderne Heimatkunde (2008)

Für das Phänomen der Dekonstruktion im Christentum und in der Theologie ist auch der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy wichtig, der zahlreiche Veröffentlichungen zu einer Dekonstruktion des Christentums geschrieben hat. (Zum Beispiel: „Dekonstruktion des Christentums“) Ein zentraler Punkt bei ihm ist:

Nicht nur wir sind es, die das Christentum dekonstruieren: das Christentum bezeichnet selbst eine Bewegung der Dekonstruktion.

Er beschreibt die Dekonstruktion so:

„Präzisieren wir, was die Operation einer ‚Dekonstruktion‘ besagt. Dekonstruieren gehört mitlerweile zu einer Tradition, zu unserer modernen Tradition, und ich gebe unumwunden zu, dass die Operation der Dekonstruktion selbst (…) gänzlich vom Christentum durchzogen ist. … Dekonstruieren bedeutet abbauen, demontieren, auseinandernehmen, die Zusammenfügung lockern, ihr Spielraum geben, um zwischen den Teilen dieser Zusammenfügung eine Möglichkeit spielen zu lassen, von der sie herkommt, die sie als Zusammenfügung jedoch zudeckt.“ (Nancy, 250-251)

In der Dekonstruktion geht es darum, ein festgefügtes System so auseinanderzubauen, dass Spielraum entsteht, das andere Denkmöglichkeiten, die von Beginn an vorhanden waren, neu erscheinen. Gerade deshalb ist sie keine Verabschiedung von Wahrheiten, sondern ein Versuch, alte Wahrheiten neu ins Spiel zu bringen, neue Denkräume und Lebensformen zu erschließen, Raum zum Atmen zu bekommen.

Gerade wenn wir die Dogmen- und Kirchengeschichte anschauen, merken wir schnell, was Nancy meint, denn es ist die Aufgabe jeder Generation wieder neu die Aussagen der Bibel in ihrer Ursprünglichkeit zu entdecken und sie vom Staub der Geschichte und der Gegenwart zu befreien.

Dies bedeutet nicht, dass es nicht Wahrheiten gibt, die sich durch die Geschichte ziehen oder sich bestätigen, sondern dass uns bewusst ist, dass jede Zeit von der herrschenden Kultur bestimmt ist und wir diese geschichtliche Verwobenheit unserer biblischen Auslegungen an- und ernstnehmen.

 

Dekonstruktion gleich Dekonversion? Eine wichtige Unterscheidung der Begrifflichkeiten

In den Diskussionen der letzten Monate wird der Begriff Dekonstruktion oft gleichgesetzt mit dem Begriff Dekonversion. Aber beide Begriffe, beschrieben aber verschiedene Prozesse im Umgang mit dem eigenen Glauben:

Dekonstruktion beschreibt die Veränderung des eigenen Glaubens im Kontext der eigenen Biographie. Bisherige Glaubenssätze werden ab- bzw. umgebaut, neue Glaubenssätze kommen hinzu.

Dekonversion, zu Deutsch „Entkehrung“, ist der Fachbegriff für „Nicht-mehr-Glauben“ oder „Glaubensverlust“. Dekonversion beschreibt also, wenn Menschen nicht mehr glauben können oder wollen und ihren Glauben ganz verlieren.

Gerade diese Verwechslung mit Dekonversion hat einen bitteren Beigeschmack, denn die „Entkehrung“ ist für viele ein harter Weg, nicht mehr glauben zu können oder zu wollen geht oft mit vielen Schmerzen und Verletzungen einher, wie unsere Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ leider sehr eindrucksvoll aufgezeigt hat. In dieser Studie wurden auch vier Leitmotive herausgearbeitet, die für die Dekonversion wichtig waren, oftmals haben sich dabei auch mehrere Leitmotive überschnitten: a) Leitmotiv Moral, b) Leitmotiv Intellekt, c) Leitmotiv Identität und d) Leitmotiv Gottesbeziehung. Wer sich dafür mehr interessiert, kann sich hier informieren:

Vertiefung im Buch: “Warum ich nicht mehr glaube”

Einen ersten Überblick gibt dieses Interview

Dass es in den jeweiligen Prozessen zu inhaltlichen Überschneidungen kommen kann ist aber auch nicht abzustreiten, denn gerade die vier Leitmotive können auch in Dekonstruktionsprozessen vorkommen.

Entscheidend ist aber die innere Richtung, so kann ein Dekonstruktionsprozess vor einer Dekonversion schützen.

Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass ein Dekonstruktionsprozess zu einer Dekonversion führt. Damit letzteres nicht passiert, wollen wir uns nun intensiver mit der Entwicklung der eigenen Glaubensbiographie auseinandersetzen.

 

Typische Themenfelder von Dekonstruktionsphasen

Schauen wir auf verschiedene Studien und in die aktuellen Diskussionen dann können wir einige Themenfelder identifizieren, die ich hier kurz darstellen möchte:

Hermeneutik: Wie lesen und verstehen wir die Bibel? Weg von einem eher wörtlichen Verständnis zu anderen hermeneutischen Ansätzen. Welche Rolle spielt die Bibel in meinem Alltag? Welche Interpretationen der Bibel haben meinen Glauben geprägt? Aus welcher Auslegungstradition komme ich? Bin ich mir dessen bewusst. Vielleicht das Themenfeld, das am meisten an die ursprüngliche Bedeutung von Derrida erinnert.

Theologie: Fragen nach Anfang (Was ist Bekehrung?), nach Erwählung und dem reien Willen? Nach dem Beginn des Reiches Gottes hier auf Erden und der Frage der ewigen Verdammnis?  Nach antisemistischen und rassistischen Sterotypen in der Theologie (Tradition)? Fragen nach einer Theologie, die das Leben fördert und nicht einschränkt?

Gottesbilder: Welche Gottesbilder haben mich bisher geprägt? Wo sind diese Gottesbilder einseitig? Vielleicht Gottesbilder sind toxic?  Wo spiegelt mein Gottesbild mein Vaterbild wider? Etc.

Sozialethik: Welche Verantwortung haben wir als Christinnen und Christen für diese Welt? Fragen nach Gerechtigkeit Gottes auf dieser Erde? Wo und wie setzen wir uns für maginalisierte Gruppen ein?

Sexualethik: Themen wie Homosexualität, Sex vor der Ehe etc. Welche Rolle spielen diese Fragen für mein persönliches Leben? Wer entscheidet diese Fragen? Welche Rolle spielen sie für die Gemeinde? Welche ungeschriebenen Gesetze der Gemeinde hat mein Verhalten und meine Einstellungen geprägt? Wo ist mein Verhalten von Angst geprägt?

Spiritualität: Welche Glaubensform hat mich geprägt? Welchen Zugang habe ich zu Gott? Welche Formen des Gebets habe ich bisher ausprobiert? Wie gehe ich mit Zweifel um? Welche Rolle spielt Musik und Lobpreis für meinen Glauben? Wie gehe ich mit den Texten in geistlichen Liedern (Lobpreis) um?

Kirche: Wie habe ich Machtstrukturen in Kirche erlebt?  Brauche ich überhaupt eine Gemeinde für meinen Glauben? Welche kirchlichen Formate braucht es für meinen Glauben? Welche Rolle spielt der Gottesdienst? Wie missionarisch sind kirchliche Veranstaltungen?

Persönliche Erfahrungen: Bewältigung von Lebenskrisen (Depression, Trennung, Süchte, …) oder Lebensaufgaben (Kindererziehung, Partner*innenwahl, Bildungsweg,…). Was passiert, wenn Gott nicht auf meine Gebete antwortet? Was, wenn er nicht der „liebende Vater“ ist, an den ich immer geglaubt habe? Was mache ich, wenn ich nicht mehr in den Gottesdienst gehen kann und/oder will? Wie gehe ich mit geistlichen Missbrauchserfahrungen um?

Weltbild: Vielleicht der existenziellste Bereich wenn der eigene Referenzrahmen wie man die Welt sieht sich verändert. Weltbild, Kultur und Erfahrungen, bilden einen der Grundsteine, die das Fundament des persönlichen Glaubens ausmachen. Das Bild, wie man die Welt sieht und begreift verändert sich und die Maßstäbe, wie man die Welt versteht oder auch beurteilt verändern sich. Grundsätzliche Fragen wie: Wie sehe ich die Welt? Was ist lebenswert? Was lehne ich ab? Wo komme ich her? Was ist der Mensch? Etc. haben eine große Wirkung auf unseren Glauben.

Fassen wir dies zusammen, merken wir, dass wir es oftmals mit hochreligiösen Phänomenen zu tun haben. Dieser Begriff aus der Religionssoziologie beschreibt, im Unterschied zu religiös, dass der Glaube eine persönliche und existenzielle Bedeutung hat, die sich in alle Bereiche des Lebens zieht und sich dort in Einstellungen und Verhaltensweisen zeigt. Im Gegensatz zu religiösen Menschen, bei denen der Glaube ein Bereich von vielen ist.

So glauben zum Beispiel Hochreligiöse, dass Gott in ihr Leben eingreifen kann, dass der Glaube Einfluss auf alle Lebensbereiche, von der eigenen Sexualität über die Kindererziehung bis zur Frage welchen Beruf ich ausüben soll.

So ganzheitlich dies auch ist, lädt es, gerade in einer Gemeinschaft/Gemeinde, dazu ein dieses Eingreifen Gottes in die verschiedenen Bereiche zu regulieren und zu kontrollieren. Oft aus guten Motiven entsteht so eine Gesetzlichkeit, die individuelle Glaubensentwurfe erstickt. Die Befreiung daraus beschreiben dann individuelle oder gemeinschaftliche Dekonstruktionsprozesse.

Jason Liesendahl (Schöner Glauben) untersucht in seiner Masterarbeit gerade diese Bereiche genauer und seine Ergebnisse werden Ende des Jahres erwartet.

 

 

Teil B: Dekonstruktion im Lebenslauf – Glaube im Umbruch

„Christen reden von Freiheit. Gott und Glaube machen frei, aber gleichzeitig stellen sie so viele Regeln und Gesetze auf, die man alle einhalten muss, weil man sonst nicht mehr bei Gott ist.“  Claudia

 

Kognitive Dissonanzen oder: Das ganze Leben ist Entwicklung – auch das Glaubensleben

Wir entwickeln uns auf verschiedenen Ebenen das ganze Leben lang, von der frühen Kindheit über die Jugend und das Erwachsenwerden bis hin in die Seniorenphase. Das reicht von körperlichen Veränderungen über die kognitive und emotionale Entwicklungen bis zu sozialen Bedürfnissen. Dazu kommen noch kulturelle Faktoren und unterschiedliche Erfahrungen, die unsere Entwicklung beeinflussen. Darüber hinaus sind es unsere Beziehungen und Begegnungen, die uns Leben und seine Entwicklung maßgeblich prägen. Es ist daher entscheidend, die eigenen Veränderungs- und Wachstumsphasen zu reflektieren und auch zu begleiten. Mitten in all diesen Entwicklungen findet sich unser Glaube.

Glaube ist kein Zusatz, sondern ein Teil unserer Identität und unserer Entwicklung. Dies bedeutet aber auch, dass sich unser Glaube mit uns entwickeln muss und hier beginnen oftmals die Herausforderungen.

Denn wir entwickeln uns nicht linear und geplant, sondern wir unterliegen, neben aller entwicklungspsychologischen Entwicklung, kontextuelle Einflüssen. Plötzlich haben wir Zweifel an Glaubenssätzen, die bisher nie hinterfragt wurden oder erleben Leid, das uns Gott als liebenden Vater nicht mehr plausibel erscheinen lässt. Diese inneren Spannungen werden in der Psychologie „kognitive Dissonanz“ genannt, ein  Begriff (von Leon Festinger) der den Konflikt oder die Unstimmigkeit beschreibt, die entsteht, wenn eine Person widersprüchliche oder inkongruente kognitive Elemente (Gedanken, Überzeugungen, Meinungen etc.) hat. Es entsteht ein unangenehmes Gefühl bis dahin, dass dies zu einer so großen inneren Spannung führt, dass man es nicht mehr aushalten kann. Gerade bei Glaubensthemen ist dies oftmals der Fall, weil sie eine existenzielle Bedeutung für unser Leben haben. In der Psychologie gibt es verschiedene Grundmuster, auf eine „kognitive Dissonanz“ zu reagieren, die ich auch in den verschiedenen Diskussionen rund um die Dekonstruktionsdebatte erlebe und deshalb hilfreich finde, wenn man sie kennt:

1. Veränderung der Einstellungen oder Überzeugungen: Eine Möglichkeit, kognitive Dissonanz zu reduzieren, besteht darin, die Einstellungen oder Überzeugungen, die man bisher hatte zu ändern oder anzupassen, um sie mit dem Verhalten oder den anderen Überzeugungen in Einklang zu bringen.

Beispiel: Mein biblisches Verständnis, dass Frauen nicht leiten und predigen dürfen steht in einer kognitive Dissonanz zu meinen Erfahrungen, die ich in meinem Umfeld mache: Gleichstellung von Mann und Frau, Feminismus etc. Um diese Dissonanz aufzulösen, beschäftige ich mich erneut mit den relevanten Bibelstellen und ihrem Kontext und erkenne, dass mein bisheriges Verständnis falsch war. Ich ändere meine Überzeugung.

2. Rechtfertigung des Verhaltens: Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Verhalten zu rechtfertigen, das zur kognitiven Dissonanz geführt hat. Dies könnte beispielsweise durch die Suche nach Gründen oder Entschuldigungen geschehen, die das Verhalten akzeptabler erscheinen lassen.

Beispiel: Mein biblisches Verständnis, dass Frauen nicht leiten und predigen dürfen steht in einer kognitive Dissonanz zu meinen Erfahrungen die ich in meinem Umfeld mache. Ich sehe die Gleichstellung von Mann und Frau, den Feminismus etc. und stelle fest, dass dies Angriffe auf das unveränderliche Wort Gottes sind, die es abzuwehren gilt. Ich erlebe die Dissonanz zwar, kehre aber aus guten Gründen zu meiner alten Meinung zurück.

3. Suchen nach Bestätigung: Eine dritte Möglichkeit ist es, nach Informationen und Argumenten zu suchen, die die bereits bestehenden Überzeugungen unterstützen. Die koginitive Dissonanz findet oftmals nicht im luftleeren Raum statt, sondern in der eigenen Gruppe. Deshalb suchen wir meist bei den Menschen Bestätigung, denen wir vertrauen oder die uns nahe sind. Dies kann allerdings zu einer selektiven Wahrnehmung von den Informationen führen, die die bestehenden Überzeugugnen bestätigen.

Beispiel: Mein biblisches Verständnis, dass Frauen nicht leiten und predigen dürfen steht in einer kognitive Dissonanz zu meinen Erfahrungen die ich in meinem Umfeld mache. Ich befrage meine eigene „Bubble“ zu diesem Thema und bekomme Antworten, die vor allem eine Richtung der Argumentation stützen. Meine kognitive Dissonanz wird erschwert, weil ich mich für die Veränderung meiner Meinung von der Gruppe lösen müsste.

Es ist wichtig zu beachten, dass kognitive Dissonanz und deshalb auch Dekonstruktionsprozesse ein ganz normaler und wichtiger Teil des Lebens und Glaubens, ein allgegenwärtiges Phänomen im menschlichen Denken, Glauben und Verhalten sind und in vielen Aspekten des täglichen Lebens auftreten können. Sie können auch als treibende Kraft für Veränderungen und Anpassungen dienen, da Menschen dazu neigen, Dissonanzen zu reduzieren, um ein Gefühl der Kohärenz und Konsistenz in ihrem Denken und Handeln zu erreichen.

Und trotzdem können solche Prozesse anstrengend, schmerzhaft und langwierig sein.

 

Der amerikanische Autor Brian D. McLaren hat dazu passend ein Modell der religiösen Entwicklung in vier Stufen entwickelt (in Anlehnng an Kathy Escobar: „Faith Shift: Finding Your Way Forward When Everything You Believe Is Coming Apart“), das auf bekannten religionspsychologischen Konzepten wie Fowler oder Kohlberg aufbaut bzw. ihnen ähnlich ist. Die vier Stufen sind:

  1. Simplicity (Einfachheit): In dieser Stufe wird der Glaube oft als einfach und unkompliziert erlebt. Die Glaubensüberzeugungen sind fest und dogmatisch. Die Gemeinschaft ist stark, und die Regeln und Normen sind klar definiert.
  2. Complexity (Komplexität): In dieser Stufe beginnen Menschen Fragen zu stellen und anzufangen, die Dinge zu hinterfragen, die sie zuvor einfach akzeptiert haben. Es entstehen Zweifel und die Glaubensüberzeugungen werden komplexer und nuancierter.
  3. Perplexity (Verwirrung): In dieser Stufe können Zweifel und Unsicherheiten überwiegen. Alte Glaubensüberzeugungen fühlen sich nicht mehr stimmig an, und es kann zu einer Phase der Verwirrung und des Suchens nach neuen Antworten kommen.
  4. Harmony (Harmonie): In dieser letzten Stufe entwickeln Menschen einen neuen Glaubensrahmen, der kompatibel mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten ist. Es entsteht eine neue Art von Glauben, die geprägt ist von Offenheit, Flexibilität und Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen.

Dieses Modell beschreibt den Prozess, den Menschen durchlaufen können, wenn sich ihr Glaube und ihre spirituellen Überzeugungen im Laufe der Zeit verändern.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Entwicklung nicht zwingend linear verläuft, und dass Menschen in verschiedenen Stadien verweilen oder zwischen den Stufen hin und her wechseln können.

Ich finde das auf der einen Seite sehr hilfreich, weil die Zwischenstufen oft von Dekonstruktionsprozessen begleitet sind und gerade die Phasen zwei (Complexity) und drei (Perplexity) für kognitive Dissonanzen prädestiniert sind. Was mir an dem Modell nicht gefällt, ist, dass die tatsächliche Entwicklung des Glaubens oft komplexer und nicht-linear ist. Menschen können in verschiedenen Stadien verweilen, zurückkehren oder Überschneidungen zwischen den Stufen aufweisen.

Ich würde es auch nicht Stufen, sondern Stadien nennen, in denen wir uns gerade befinden, ohne die Steigerungslogik, die Stufen implizieren.

Außerdem ist mir wichtig, dass es sich um einen lebenslangen Prozess handelt und dass Menschen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Arten von Glauben und Spiritualität erleben können. Wir erlebe, dass unsere modernen Gesellschaften pluralistisch und vielfältig sind und Menschen verschiedene Glaubenssysteme und Weltanschauungen gleichzeitig leben können. Die Stufenmodelle erfassen die Ambiguität und Komplexität des religiösen Lebens in einer pluralistischen Gesellschaft möglicherweise nicht angemessen. Hier besteht aus meiner Sicht weiterer Forschungsbedarf. Gerade Pubertät, Adoleszenz oder Midlifecrisis, aber auch Umzüge, Arbeitswechsel oder Studium oder Krankheit und Tod – es gibt immer wieder Zeiten in unserem Leben, in denen wir besonders herausgefordert sind und unser Glaube damit auch. Im optimalen Fall ist der Glaube in solchen Phasen eine Resilienz und gibt uns Zuversicht und Hoffnung in schweren Zeiten. Aber es kann auch umgekehrt sein, dass gerade die Phasen eine Glaubenskrise auslösen, weil der Glaube eben nicht hält, was er verspricht.

 

Dekonstruktion!? Ein erstes Zwischenfazit

Wir haben festgestellt, dass Dekonstruktion den Umbau des eigenen Glaubens in der eigenen Lebensbiographie beschreibt. Dabei kann es zu ganz unterschiedlichen Dekonstruktionsprozessen kommen, die die eigene Entwicklung des Glaubens in verschiedenen Phasen begleiten. Evelyne Baumberger bringt es mal auf den Punkt, wenn Sie sagt: „Dekonstruktion kann eine Befreiung sein – oder ein Trauma.“

Besonders wenn es um den Abschied von liebgewonnen Überzeugungen geht, können Dekonstruktionsprozesse schmerzhaft sein. In manchen Entwicklungsphasen oder Erfahrungen werden sie einem auch „aufgezwungen“, weil das bisherige Glaubensverständnis nicht mehr trägt oder nur unzulängliche Antworten gibt.

Dekonstruktion zielt dabei darauf ab, die Grundannahmen und Hierarchien der biographisch geprägten Glaubensstruktur in Frage zu stellen und zu analysieren und neu zu gestalten.

Dekonstruktion offenbart versteckte Bedeutungen und Widersprüche und zeigt, wie diese Ideen oft auf binären Grundannahmen (z. B. Gut/Böse, Wahrheit/Falschheit) und Vorannahmen beruhen, die bisher als selbstverständlich angesehen wurden. Dies gilt auch für religiöse Überzeugungen, Dogmen und Lehren, um die darin enthaltenen impliziten Annahmen und Machtstrukturen zu entlarven.

Auch deshalb ist Dekonstruktion heute besonders wichtig, da wir in einer Zeit leben, in der wir uns intensiv mit geistlicher und sexueller Gewalt auseinandersetzen.

Denn gerade wenn es um Machtmissbrauch geht, geht es nicht nur um Personen, sondern auch um ungesunde Strukturen und theologische Dogmen, die Grenzüberschreitungen begünstigen und manchmal überhaupt erst ermöglichen und geistlich rechtfertigen.

Dekonstruktion kann auch durch Ohnmachtserfahrungen bei geistlichem Machtmissbrauch entstehen.

Die Ausübung von Macht und die Frage nach religiös motiviertem Missbrauch gibt es nicht nur durch rigide Machtausübung von Inhabern formeller Macht, sondern auch durch informelle Leitungsrollen, die durch intransparente Strukturen ermöglicht werden.

 

 „Befürworter“ und „Kritiker“? Was man gegenseitig lernen kann

Kommen wir zum Anfang zurück und auf die vielen widersprüchlichen Statements rund um das Wort Dekonstruktion. Am Ende des Artikels sind einige der gemäßigten und konstruktiven Texte gelistet, denn ich glaube, dass sowohl die „Befürworter“ von „Gegnern“ als auch umgekehrt lernen können.

1. Was „Befürworter“ von „Kritikern“ lernen können

Immer dann wenn ein Phänomen in den sozialen Medien viral geht, wird es oft zum Trend oder Mode und Menschen wollen einfach mitmachen, weil das ja scheinbar jetzt alle machen. Das halte ich beim Thema Dekonstruktion für nicht hilfreich, da es ein sehr persönlicher und manchmal auch schmerzhafter Prozess ist, der außerdem zu wichtig ist und auch einen geschützten Rahmen braucht (worauf wir gleich noch zu sprechen kommen).

Am Anfang habe ich die Begriffe Dekonstruktion und Dekonversion getrennt beschrieben, weil sie eine unterschiedliche Bedeutung haben. Aber es ist nicht auszuschließen, dass ein Dekonstruktionsprozess mit einer Dekonversion endet. Gerade wenn der Glaube toxisch wirkt und das eigene Leben vergiftet hat, kann eine Entkehrung  lebensrettend sein. Aber es ist natürlich nicht das Ziel einer Dekonstruktion, auch wenn es vorkommen kann, deshlab haben Kritiker durchaus Recht, wenn sie sagen, dass Dekonstruktion nicht automatisch zu mehr Mündigkeit führt.

Nicht alles was man in bestimmten Situationen hinterfragt oder anzweifelt, muss zwangsläufig schlecht oder falsch sein. Und nicht jeder unbequeme Glaubenssatz ist falsch. Dekonstruktionsprozesse können hinterfragen und dann auch feststellen, dass das bisherige gut und richtig war und weiter hilfreich ist.

Manche Menschen trägt ihr konservative/evangelikale Glaube durch Krisen und Brüche im Leben. Dies erscheint progressiven Christinnen und Christen oftmals fast wie eine Provokation.  Ich würde das gerne so stehen lassen und mich über den unerschütterlichen Glauben dieser Personen freuen, ohne, dass es einen Anspruch gibt, dass alle Anderen dies auch so erleben müssen. Und dieses Argument können wir natürlich auch umdrehen.

 

2. Was „Kritikern“ von „Befürwortern“ lernen können

Wie wir gesehen haben, entwickeln sich Menschen in ihrer Biographie und erleben verschiedene Stadien (Stufen) des Glaubens. Gerade für den gesunden Übergang sind Dekonstruktionsprozesse nötig und wichtig. Ein Glaube darf und muss reifen (1. Kor 3,1-4) und sich mit dem Leben (Emotionen, Intellekt etc.) entwickeln.

Es gibt Menschen, die mit ihrem bisherigen Glauben nicht mehr leben können, er trägt nicht mehr in den Fragen und Krisen ihres Lebens. Deshalb müssen sie diesen Glauben hinterfragen, um ihren Glauben zu „retten“. Dies erscheint konservativen Christen (ich gendere hier aus Respekt nicht) oftmals fast wie eine Provokation, aber ich würde das gerne so stehen lassen, ohne, dass es einen Anspruch gibt, dass alle Anderen dies auch so erleben müssen.

Viele Menschen, die dekonstruieren, kommen aus dem eher konservativen evangelikalen Milieu und die Dekonstruktion ist oftmals die Rettung ihres Glaubens und nicht ihr Untergang.

Vielleicht reagieren deshalb manche Gegner so aggressiv auf das Wort Dekonstruktion, weil sie eigentlich wissen, dass ihre harte Haltung und einseitige Theologie die Menschen erst in die Dekonstruktion getrieben hat. So ist es nicht verwunderlich, dass wer (aus den unterschiedlichsten Gründen) aus der bisherigen konservativen Gemeinschaft fällt, bei den „Progressiven“ eine neue Heimat findet.

Es ist also gut, dass es verschiedene Meinungen gibt und verschiedene Gemeinden mit verschiedenen Frömmigkeitsstilen und auch, dass diese durchlässig sind. Manche Menschen entwickeln sich (egal in welche Richtung) auch aus ihrer Gemeinde heraus und dann ist es gut, darüber zu sprechen und diese Menschen in eine andere, für sie passendere Gemeinde zu senden. Es bleibt ein Leib Christi mit unterschiedlichen Gliedern – was ein Glück.

Was für beide Seiten gilt: „Strohmann-Diskussionen“ vermeiden. Versuchen wir die Argumente der jeweils anderen Seite ernst zunehmen und nicht zu schnell das Schlechte vorauszusetzen.

 

 

Teil C: Dekonstruktionsprozesse begleiten

„Ich fing an, meine eigenen grundlegenden Glaubenszweifel und -fragen aufzuarbeiten. Der Einsatz hat sich gelohnt: Ich gewann die in meinem Glauben verloren gegangene Vitalität und Gewissheit zurück.“ Dirk

 

Kein Dekonstruktionsprozess ist dem anderen gleich, auch wenn sich manche Themen wiederholen, ähnliche Erfahrungen gemacht werden oder bestimmte Entwicklungsstufen durchlaufen werden. Deshalb möchte ich jetzt einige konstruktive Hilfestellungen geben, die helfen können, Dekonstruktionsprozesse zu begleiten. Dies bedeutet aber auch, dass Dekonstruktionsprozesse aktiv zu gestalten sind.

Was ist mündiger Glaube?

Glaube ist und bleibt ein Vertrauen auf einen Gott, der hält. Deshalb beschreibt der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel Glaube auch als ‚Ent-Sicherung‘. Wir müssen unsere eigenen Sicherheiten loslassen und dem vertrauen, der uns ruft. Zum Glaubensleben gehören deshalb auch eine Vagheit (Unbestimmtheit, oder wie Paulus sagen würde Geheimnis), Ambiguität (Mehrdeutigkeit) und Brüche. Wenn wir fragen, was Glaube überhaupt ist, stoßen wir zunächst darauf, dass Glaube mit Vertrauen zu hat und ein Beziehungsbegriff ist, der sich im Neuen Testament ganz praktisch in der Nachfolge zeigt.

Glaube als Beziehungsbegriff

Glaube ist kein Gegenstand oder Konstrukt, das von Generation zu Generation einfach den Besitzer wechseln kann, sondern ein Beziehungsgeschehen. Glaube ist Vertrauen in eine Person und mit der Entscheidung verbunden, sich dieser Person nähern zu wollen und zu vertrauen. Vertrauen kann allerdings nicht erzwungen werden, denn Beziehungen setzen Freiheit voraus. Es ist also kein statischer, sondern ein relationaler Begriff und somit einer, der lebt und auch ein gewisses Risiko mit sich bringt, wie zum Beispiel die Geschichte in Matthäus 14 zeigt. Dort fordert Jesus Petrus auf dem See Genezareth heraus, aus dem Boot zu steigen – und Petrus vertraut, glaubt und geht. Und natürlich ist es ein Geschenk der Gnade, bzw. des Heiligen Geistes (Röm 8,9), dass wir überhaupt glauben können. Und doch kann dieser Glaube sich entwickeln, kann wachsen oder sogar wieder verloren gehen. Paulus schreibt seinen Geschwistern in Korinth, die eine ausgesprochen geistliche Gemeinde waren, reich an Geistesgaben und Wundern.

Paulus und seine Kritik an der Unmündigkeit der Korinther

Und doch wirft Paulus ihnen Unmündigkeit vor und sagt, dass sie nur Milch statt fester Nahrung zu sich nehmen. 1. Kor 3,1-4: Allerdings konnte ich mit euch, liebe Geschwister, nicht wie mit geistlich reifen Menschen reden. Ihr habt euch von den Vorstellungen und Wünschen eurer eigenen Natur bestimmen lassen, sodass ihr euch, was euren Glauben an Christus betrifft, wie unmündige Kinder verhalten habt. Milch habe ich euch gegeben, keine feste Nahrung, weil ihr die noch nicht vertragen konntet. Selbst heute könnt ihr sie noch nicht vertragen, denn ihr lasst euch immer noch von eurer eigenen Natur bestimmen. Oder wird euer Leben etwa vom Geist Gottes regiert, solange noch Rivalität und Streit unter euch herrschen? Beweist ein solches Verhalten nicht vielmehr, dass ihr euch nach dem richtet, was unter den Menschen üblich ist? Paulus nennt die Korinther Heilige, Vorbilder und doch kritisiert er ihr Verhalten. Geistliche Gaben setzen weder einen mündigen Glauben voraus, noch sind sie ein Garant dafür. Denn geistliches Wachstum ist nicht mit sozialem Verhalten gleichzusetzen, vielmehr sieht man am sozialen Verhalten auch unser geistliches Wachstum. Ganz praktisch und sehr deutlich beschreibt Paulus das auch im 5. Kapitel des Galaterbriefs: Die Frucht hingegen, die der Geist Gottes hervorbringt, besteht in Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Rücksichtnahme und Selbstbeherrschung. Hier wird noch einmal deutlich, dass mündiger Glaube sich ganz praktisch in unseren sozialen Beziehungen des Alltags zeigt.

Wer sich mehr dafür interessiert, kann hier weiterlesen. “Ist mündiger Glaube gefährlich?”

 

Widerstandsfähig glauben lernen. Mündiger Glaube als Resilienzfaktor

Ein Mensch mit einem mündigen Glauben befindet sich in einer Entwicklung, in der er immer weniger darauf angewiesen ist, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Ein mündiger Glaube meint auch den Verlust einer falschen Abhängigkeit von Gott. Gemeint ist der oben beschriebene Missbrauch Gottes als Kompensation für Charakterschwäche und die Weigerung, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Gott dient hier letztlich dazu, uns Entscheidungen und Nachdenken abzunehmen und unser persönlicher Problemlöser zu sein.

Ein mündiger Glaube meint somit, die Selbstverantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, so als ob es Gott nicht gebe, und sich gleichzeitig wie ein Kind Gott voll und ganz in die Arme zu schmeißen und ihm kindlich zu vertrauen.

Was bedeutet das nun aber für die Auseinandersetzung mit der eigenen Prägung? Wie das Wort ‚Aus-ein-ander-setzung‘ schon andeutet, braucht es dazu eine gewisse Distanz zu mir selbst. Weil wir uns jedoch niemals vollständig von uns selbst entfernen können, ist dies immer nur stück- und schrittweise möglich.

Dekonstruktionsprozesse und das Lernen von der Resilienzforschung

Dekonstruktionsprozesse können uns und unsere Prägung niemals vollständig aufdecken. Unser Innerstes und unsere Vergangenheit ist uns niemals ganz zugänglich. Wir brauchen dazu oft andere, in deren Spiegel wir uns erst erkennen können (und auch dann immer nur bruchstückhaft). Was kann aus diesen Erfahrungen für einen mündigen Glauben gelernt werden? Das möchte ich am Beispiel der Resilienz konkretisieren. Wenn wir darüber nachdenken, wie ein mündiger Glaube aussehen könnte, ist es sinnvoll, einen Seitenblick auf die Ergebnisse der Resilienzforschung zu werfen. Resilienz steht für die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen. Das Wort stammt ursprünglich aus der Materialkunde und bedeutet wörtlich Elastizität, Spannkraft, Strapazierfähigkeit. Man begann, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, als man durch Langzeitstudien die Entwicklung von Menschen über einen langen Zeitraum (bis zu mehreren Jahrzehnten) untersuchte. Vor allem ging es darum, zu erforschen, inwiefern sich widrige Bedingungen in der Kindheit auf die weitere Entwicklung auswirken. So fand man heraus, dass von den Kindern, die unter sehr belastenden Umständen aufgewachsen waren, zu einem gewissen Anteil (der je nach Untersuchung zwischen 10 und 30 Prozent schwankt) als Erwachsene gesund war.

Es gibt also Situationen und Prägungen, die die Widerstandkraft eines Menschen fördern und es gibt auch das Gegenteil, sogenannte Risikofaktoren.

Diese bezeichnen Umstände, die die Wahrscheinlichkeit einer negativen Entwicklung, also die Entstehung von Lern- oder Entwicklungsstörungen oder den Ausbruch psychischer Krankheiten, erhöhen. Dazu gehören beispielsweise eine unsichere Bindung zu frühen Bezugspersonen, Armut, das Aufwachsen in Wohngegenden mit hohem Kriminalitätsanteil, dauerhafte familiäre Disharmonie, ungünstige Erziehungspraktiken der Eltern, häufige Umzüge und Schulwechsel, Verlust eines Geschwisterteils oder engen Freundes etc., aber auch personale Faktoren wie ein niedriger Intelligenzquotient, Wahrnehmungsstörungen oder ein schwieriges Temperament. Interessanter noch sind jedoch die Schutzfaktoren. Teils haben sie allgemein einen positiven Einfluss auf die Entwicklung, teils entfalten sie ihren Schutzschirm erst in Krisensituationen bzw. beim Zusammenwirken verschiedener Risikofaktoren. Der eindeutig wichtigste Schutzfaktor ist dabei eine dauerhafte, gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, also meist zu einem Elternteil. Weitere gut belegte Schutzfaktoren sind unter anderem Stabilität und konstruktive Kommunikation in der Familie, enge Geschwisterbindungen, ein hohes Bildungsniveau der Eltern sowie kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie. Und auch hier gibt es personale Faktoren wie ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament oder das erstgeborene Kind zu sein. Vor dem Hintergrund dieser hier nur sehr verkürzt wiedergegebenen Ergebnisse der Resilienzforschung stellt sich in unserem Zusammenhang die Frage nach einem resilienten, also widerstandsfähigen Glauben.

Risiko- und Schutzfaktoren des Glaubens

Wie können Risiko- und Schutzfaktoren des Glaubens aussehen? Geistlicher Missbrauch, anhaltende negative Gemeindeerfahrungen, die Druck und Stress verursachen, eine als problematisch erlebte christliche Sozialisation und der Verlust nahestehender Personen, der an der Güte Gottes zweifeln lässt, sind einige der Risikofaktoren im Glauben. Gerade hier können Dekonstruktionsprozesse sich als hilfreich und unterstützend erweisen. Als Schutzfaktoren kommt man angesichts der großen Bedeutung von familiären Faktoren schnell auf die geistliche „Familie“, also die Kirche, Gemeinde, Gemeinschaft, die als Schutzfaktor wirkt, sofern sie durch Stabilität, konstruktive Kommunikation und ein kompetentes und fürsorgliches Verhalten der Leitungspersonen geprägt ist. Neben diesen gemeinschaftlichen Schutzfaktoren gibt es aber eine ganze Menge innerer Glaubensfaktoren, die einem helfen können, eine eigene Selbstwahrnehmung des Glaubens zu erfahren.

Dazu gehört, seine geistlichen Gefühle zu kennen und sie ausdrücken zu können und bei sich und anderen Stimmungen zu erkennen und einzuordnen.

Reflexionsfragen, die dabei helfen können, wären:

  • Inwieweit kann ich meinen Glauben und mein Gottesbild für mich und andere plausibel erklären?
  • Woher kommen meine Gedanken dazu? Wie sprachfähig bin ich?
  • Kann ich meinen Nachbarn meinen Glauben erklären – so, dass sie es verstehen?
  • Kann ich eigene Zweifel zugeben, aussprechen, ja anerkennen? Oder fühle ich mich schlecht dabei?

Um sich diese Fragen stellen zu können, braucht es aber sichere Räume in denen wir offen über Glauben, Unglauben und Zweifel reden können. In der Pädagogik gibt es mittlerweile umfangreiche Programme zur Stärkung der Resilienz. Vielleicht brauchte es auch in Gemeinden nicht nur Grund-, Basic- oder Alphakurse, sondern die gezielte Förderung eines mündigen, eigenständigen Glaubens.

Dekonstruktionsprozesse brauchen  sichere Räume.

Noch wichtiger als irgendwelche Programme sind jedoch, wie schon beschrieben, eine gute und fördernde Gemeindekultur sowie das Vorleben eines ganzheitlichen Glaubens, der sich weder um sich selbst, noch auf selbstzerstörerische Art und Weise um andere dreht und eigene Bedürfnisse leugnet. Manchmal sind es nicht die schnellen Lösungen und klugen geistlichen Ratschläge, die dem Anderen helfen, sondern das gemeinsame Aushalten. Ich hoffe, dass wir als Christen und Christinnen diese Haltung des Aushaltens lernen, für den anderen, für uns, in der kurzen Begegnung oder in Kleingruppen oder Mentoringprogrammen. Mündig glauben lernen heißt auch, dass wir uns in unserer Unperfektheit auszuhalten lernen – oder wie es der große Theologe Karl Rahner sagte: „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten“.

Mündiger Glaube lernt, barmherzig gegenüber Zweifel und Zweiflern zu sein, er ist heilsam für Gläubige und aufbauend für die eigene Gemeinde. Wo andere wegschauen, da schaut ein mündiger Glaube hin.

 

Dekonstruktion und Bibel lesen und verstehen

Eine zentrale Aufgabe im Verständnis der Dekonstruktion (siehe Teil 1) besteht darin, das ursprüngliche Verständnis von Texten wiederzuerlangen. Trotz der Wertschätzung und des Nutzens von Interpretationen in der Geschichte ist es für jede Generation eine immer wiederkehrende Aufgabe, die biblischen Texte neu zu interpretieren und zu hinterfragen, was sie uns heute zu sagen haben.

Dies bedeutet zwangsläufig, dass auch aktuelle Interpretationen – unabhängig davon, ob es sich um konservative, progressive oder liberale Interpretationen handelt – in Frage gestellt werden können oder sogar müssen.

Das bedeutet, dass wir versuchen, den Text in seinem ursprünglichen Kontext (der Bibel und der jeweiligen Zeit) zu verstehen, uns aber gleichzeitig bewusst machen, dass wir dies aus der heutigen Zeit tun und nicht neutral oder objektiv. Ich finde den Ansatz von NT Wright, den er als “Kritischen Realismus” bezeichnet, dabei sehr hilfreich. Er beschreibt einen methodischen Dialog zwischen den biblischen Texten und uns als Leserinnen und Leser von heute und fragt, wie wir dem Verständnis der ursprünglichen Intention des Textes am nächsten kommen können. Wright beschreibt dies wie folgt:

‘Dieser beschreibt den Erkenntnisprozess unter Anerkennung der Realität des zu erkennenden Gegenstandes als vom Erkennenden unterschieden (daher „Realismus“), während gleichzeitig vollständig anerkannt wird, dass der einzige Zugang, den wir zu dieser Realität haben, entlang des spiralförmigen Weges eines angemessenen Dialoges oder einer Konversation zwischen dem Erkennenden und dem zu erkennenden Gegenstand liegt (daher „kritisch“).’ (Wright 2011:40)

Bleiben wir im Kontext der Dekonstruktion (Dekonstruktion bedeutet Destruktion plus Konstruktion), dann bedeutet dies, dass wir einige biblische Interpretationen erst dekonstruieren müssen, um uns von falschen und/oder irreführenden Auslegungen zu befreien. Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, fallen uns viele Beispiele ein. Hier sind einige biblische Auslegungen, die sich über Jahrhunderte gehalten haben, aber durch eine Dekonstruktion hinterfragt wurden: ‘Jesus war nicht Gottes Sohn’, ‘Die Juden waren schuld am Tod Jesu’, ‘Sexualität ist nur für die Fortpflanzung bestimmt’, ‘Mission wird durch Gewalt und Macht durchgesetzt’, usw. Es geht jedoch nicht nur um die Interpretation einzelner Texte. NT Wright reflektiert auch die jeweiligen Weltanschauungen, mit denen wir heute den Text lesen. Er gibt dazu ein Beispiel: Die Trennung von ‘Wort und Tat’, also die Frage, was wichtiger ist, das gesprochene Wort des Evangeliums oder die gelebte Tat des Evangeliums. NT Wright weist darauf hin, dass diese Trennung nicht aus der Bibel stammt, sondern dass sie über eine philosophische Weltanschauung (Platon und später im Neuplatonismus) in die Auslegung der Bibel eingeflossen ist und einen großen Einfluss auf unser Denken und Weltbild hatte. Von Augustinus über Luther und den Pietismus bis hin zu unseren heutigen Interpretationen wurde immer wieder die Trennung von ‘Geist’ und ‘Körper’ (Dualismus: Geist = gut; Körper = schlecht, ‘Leibfeindlichkeit’) aus der Bibel herausgelesen. Daraus entstand eine Art ‘Bewahrungspädagogik’ und Leibfeindlichkeit mit einer Abschirmung vor der ‘bösen Welt’. Rekonstruktion bedeutet nun, die eigene ‘Brille’ des Bibellesens zu reflektieren und sich erneut auf den Weg zu machen, mit dieser Brille in den Dialog mit dem Bibeltext zu treten und zu versuchen, den Text in seinem biblischen Kontext zu verstehen. Wer sich tiefer dafür interessiert, dem sei NT Wrights ausführliche Darstellung seines ‘Kritischen Realismus’ empfohlen.”

 

Paul Ricoeur und das Konzept der „zweiten Naivität“

Eine Konkretion und ein Ergebnis eines Dekonstruktionsprozesses ist die “zweiten Naivität” des Theologen und Philosophen Paul Ricoeur. Ricoeur wollte durch sein Konzept helfen, dass man sowohl die Bibel lieben und ihr vertrauen als auch ihr intellektuell und wissenschaftlich begegnen kann. Genau dies ist für viele Christinnen und Christen ein Dilemma und Ricoeur versuchte dieses (in Auseinandersetzung mit Bultmann) zu lösen. Dabei versuchte Ricoeur die historische Kritik durch eine neue Kritik ersetzen. Eine Kritik, „die nicht reduziert, sondern wiederherstellt“. Ricoeur beschrieb zunächst die erste Naivität, in der wir einen Text – in unserem Fall die Bibel – ohne viel kritische Reflexion lesen. Wir nehmen die biblischen Texte einfach so, wie sie sind und akzeptieren ihre Bedeutung ohne weiteres Hinterfragen.

Die Reflexion der ersten Naivität

Dieses Lesen ist durch eine Unmittelbarkeit, aber auch Unreflektiertheit und eine gewisse Einfachheit geprägt, der ersten Naivität. Sie ist gut und notwendig und gehört gerade im Christsein dazu, aber im Kontext des modernen Lebens wird sie zunehmend hinterfragt. Ricoeur entwickelte daraus nun eine bestimmte Haltung oder Perspektive, einen kritischen Reflexionsprozess. In diesem Prozess werden die die traditionellen, oft biographsich geprägten Meinungen der ersten Naivität, die wir über einen Text haben, in Frage gestellt. Die Idee der „zweiten Naivität“ wurde von Paul Ricoeur als Konzept der Hermeneutik geprägt. Es bezieht sich auf eine bestimmte Haltung oder Perspektive gegenüber kulturellen Ausdrucksformen, insbesondere Texten, die wir im Laufe der Zeit interpretiert und analysiert haben.

Die Suche nach der zweite Naivität

Die zweite Naivität entsteht nach einem kritischen Reflexionsprozess, bei dem wir die traditionellen, oft vorgefassten Meinungen oder Vorannahmen, die wir über einen Text haben, durch Bildung, Wissen, Reifung in Frage stellen. Die aufkommenden Fragen werden weder weggedrückt noch wie bei Bultmanns Entmythologisierung destruktiv aufgelöst, sondern in einem Dekonstruktionsprozess in die Komplexität und Vielschichtigkeit eines Textes aufgenommen. Grundlage dafür ist zunächst, dass ich selbst eine kritische Distanz zum Text entwickelt habe, die mir die Möglichkeit gibt, dass ich mich dem Text neu annähern kann.

Die Glaubenden müssen sich dann jedoch aufmachen, eine zweite Naivität des Glaubens zu finden, die weder ein Zurück in die erste Naivität bedeutet (was nicht wünschenswert ist und meist schlicht auch nicht geht) noch bei einer reinen Negation des kindlichen Glaubens stehen bleibt oder den Glauben ganz verliert.

Denn mit zunehmender Bewusstwerdung der eigenen Prägung bzw. Bedingtheit des eigenen Glaubens sowie der intellektuellen Infragestellung gewohnter Bilder, Rituale und Überzeugungen kommt der eigene „Kinderglaube“ ins Schwanken und kippt früher oder später. Daraus muss und kann aber ein neuer, stärkerer und reiferer Glaube erwachsen, der mit der Wirklichkeit dieses Lebens umgehen kann und gleichzeitig Halt und Identität gibt. Dies bedeutet nicht, dass wir zu unserer ursprünglichen Naivität zurückkehren, sondern vielmehr, dass wir eine neue, reifere und tiefere Art der Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Text erreichen.

Die notwendige historische Kritik am Text darf nicht zu dessen Zerstörung führen, sondern zu einem neuen Verstehen.

In dieser Phase sind wir in der Lage, den Text auf einer tieferen Ebene zu verstehen, indem wir seine Komplexität akzeptieren und seine Bedeutung in einem neuen Licht sehen. Grundlage ist der hermeneutische Zirkel, bei dem wir kontinuierlich zwischen kritischer Reflexion und unmittelbarem Verständnis hin- und herwechseln.

Die zweite Naivität als Konstruktion

Die zweite Naivität ist somit eine produktive Phase in der Interpretation (bspw. den Symbolcharakter des Textes entdecken), die uns ermöglicht, die volle Tiefe und Bedeutung eines Textes zu erfassen. Ganz praktisch beschreibt Ricoeur dies am Besipiel der „Als-Ob-Perspektive“ – dies soll am Beispiel des Bibelverständnisses kurz erläutert werden: Eine Person möchte an die Bibel glauben, kann es aus verschiedenen Gründen aber nicht und lehnt sie deshalb ab. Die „Als-Ob-Perspektive“ sagt ihm jetzt:

Tue so, als ob der biblische Text tatsächlich wahr ist und arbeite mit ihm. Gib dem Text sozusagen eine neue Chance. Behalte deine Skepsis, deine Zweifel, aber gehe damit auf den Text zu. Es entsteht damit ein neuer Raum, der Zweifel und Bibel zusammenbringt. Beide haben ihr Recht.

In diesem Zugang und in dem „Für-wahr-Nehmen“ des Textes bietet sich jetzt ein neuer Weg für den Zweifelnden, um dem biblischen Text zu begegnen.  Diese „Als-Ob-Perspektive“ kann auf unterschiedliche Bereiche des Glaubenslebens angewendet werden und somit den beschriebenen neuen Raum des Glaubens eröffnen, der Zweifel, Skepsis und Erfahrungen zulässt aber auch dazu einlädt, sich neu auf biblische und geistliche Wahrheiten einzulassen. Damit ist nicht gemeint, dass man kritische Anfragen wegdrückt, sondern dem Text zutraut, erneut etwas zu sagen zu haben.  Aus diesem Prozess erwächst nach Ricoeur dann die „zweite Naivität.

 

Keine Angst vor Dekonstruktion. Ein vorläufiges Fazit und Fragen zum Weiterdenken

Wir sehen: Dekonstruktion des Glaubens ist ein komplexer Ansatz, der nicht in einem Satz zu definieren ist. Es ist wichtig zu betonen, dass Dekonstruktion einen offenen Raum für Reflexion, Diskussion und Erkenntnis und manchmal auch ein Aushalten von sich und Anderen braucht. Die Diskussion rund um das Thema Dekonstruktion ist somit nicht abgeschlossen und ich möchte mit einigen Fragen ein Nachdenken in der Praxis fördern und weiter zum Nachdenken über dieses wichtige Thema anregen:

1. Wird das Thema Dekonstruktion in unserer Gemeinde/Kirche offen thematisiert oder eher verdrängt oder gar dämonisiert? Wie könnte es mehr ins Gespräch kommen und gibt es vertrauensstiftende Räume, eine einladende Kultur und eine offene Kommunikation? Wie könnten diese entstehen?

2. Wie gehen wir in unserer Gemeindemit Menschen um, die sich in Dekonstruktionsprozessen befinden? Respektieren wir ihre komplexe Geschichte mit Gott, mit Kirche/Gemeinde und mit anderen Christen? Nehmen wir unsere Verantwortung gegenüber diesen Menschen ernst?

3. Wo ist Dekonstruktion zu einem „Hipsterbegriff“ verkommen und so vielleicht eine Kultur der Destruktion entstanden? Wo fehlt es an Konstruktion und einer gesunden Haltung gegenüber individuellen Glaubensbiographien?

4. Sind wir sensibel für ungesunde Machtstrukturen und negative Dynamiken in unserer Gemeinde? Gibt es Anlaufstellen, wo offen und angstfrei darüber gesprochen werden kann? Gibt es in unserer Gemeinde/Kirche Raum und Sensibilität für das Thema Missbrauch, insbesondere geistlichen Missbrauch? Gibt es Angebote zur Prävention und, wo nötig, zur Aufarbeitung?

5. Wie können wir in unserer Gemeinde eine Theologie fördern, die weder einseitig ist noch in Beliebigkeit ausartet? Wird sie nur von Einzelnen geprägt oder dürfen sich alle einbringen? Können wir Glaubensvielfalt als Chance sehen? Gibt es bei uns eine Kultur, die Denken, Eigenständigkeit und Selbstverantwortung nicht begrenzt, sondern fördert?

6. Wie kann dafür Sorge getragen werden, dass gerade junge Menschen in Umbruchphasen (Perplexity) begleitet werden, ohne sich dabei selbst zu verlieren oder problematische Persönlichkeitszüge zu kompensieren? Wo müssten wir diesbezüglich umdenken, z.B. in Verkündigung, Mentoring, in der Jugendarbeit allgemein?

7. Wie wird durch unsere Haltung und Kultur sowie unsere Gottesdienste und andere Programme mündiger Glaube und geistliche Resilenz gefördert? Können wir sehen, dass Zweifel integraler Bestandteil des Glaubens und eigentlich eine Ressource sind?

8. Fördern wie eine Kultur, wo ausdrücklich gewünscht ist, dass Fragen und Zweifel geäußert werden? Haben wir den Mut, auch zu unserem Nicht-Wissen zu stehen bzw. können wir es aushalten, dass es auf manche Fragen vielleicht keine oder zumindest keine einfachen Antworten gibt?

9. Wo sind Dekonstruktionsprozesse zu einseitig? Wo fehlt es am „Konstruktiven“ in Dekonstruktionsprozessen? Wo wird das Destruktive zu sehr betont?

10. Wenn Mentoring und Begleitung in Umbruchs- und Reifungsphasen für junge Erwachsene so wichtig sind – wie könnte in unserer Gemeinde/Kirche verstärkt ein solches Angebot entstehen? Wie könnte auch für ein Miteinander der Generationen geworben werden?

 

 

Texte zur Vertiefung des Begriffs Dekonstruktion:

Derrida, J. (2004): „Die différance: Ausgewählte Texte“, hg. von Peter Engelmann. Reclams Universal-Bibliothek.

Jean-Luc Nancy (2008): „Dekonstruktion des Christentums“,  TransPositionen Verlag.

Ricoeur, P. (2018): Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I. Verlag Karl Alber.

Ricoeur, P. (2018): Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Verlag Karl Alber.

Hupe, H. (2013): Raumerkundungen in Methaphernland. Zwischen Ricœur und Derrida: Didaktische Chancen der Metapher, in D. Frey (Hrsg), Die Rezeption von Paul Ricœur in den Feldern der Theologie. LIT Verlag.

Kern, A. & Menke, C. (2002): Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis. Suhrkamp Verlag.

Wright, N.T. (2011): Das Neue Testament und das Volk Gottes. Band 1 in der Reihe: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott. Francke Verlag.

 

Bücher & Texte, die in Dekonstruktionsphasen helfen können:

Tobias Faix, Tobias Künkler & Martin Hofmann: „Warum ich nicht mehr glaube. Wenn junge Erwachsene den Glauben verlieren.“ SCM Verlag.

Tobias Faix, Tobias Künkler & Martin Hofmann: „Warum ich mündig glauben kann: Wege zu einem widerstandsfähigen Glaubensleben.“ SCM Verlag.

Thorsten Dietz :„Weiterglauben. Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann: Warum man einen großen Gott nicht klein denken darf.“ Brendow Verlag.

Tomás Halík: „Geduld mit Gott: Die Geschichte von Zachäus heute.“ Herder Verlag

Tobias Faix, Anke Wiedekind: „Mentoring: Das Praxisbuch. Ganzheitliche Begleitung von Glaube und Leben.“ (7. Aufl.) Neukirchener Verlag.

Thorsten Dietz: Wer hat Angst vor Dekonstruktion? 

Jason Liesendahl: Dekonstruktion

Furcht & Zittern (Uni Friborg): Dekonstruieret alles, das Gute aber behaltet! 

 

Kritische Auseinandersetungen mit Dekonstruktion:

Alisa Childers: „Ankern: “Eine Verteidigung der biblischen Fundamente in postmodernen Gewässern“ Fontis Verlag

Tobias Teichen: „Was kannst du tun, wenn dein Glaube zerbricht? Dekonstruktion“:

Matt Studer: „Glaubens-Dekonstruktion ist chic! Zweifeln als Weg“

Cedric Grossmann & Benjamin Carstens: „Dekonstruktion – Zerstörung oder Rettung des Glaubens?“

Hier Podcast: Postevangelik Helmut erzählt seine bewegende Geschichte

Bildnachweis: Dirk Maass

4 Comments

  1. Vielen Dank für den ausführlichen Artikel!
    Wäre schön, wenn wir Dekonstruktion als etwas ganz normales im Sinne von Metanoia verstehen würden.
    Also „Veränderung durch Erneuerung des Sinnes“.
    Kirche sollte hier die pädagogische Begleitung übernehmen…

    Antworten
  2. Ein großes Dankeschön für die differenzierte Betrachtung und die vielen guten Fragen zum weiteren Nachdenken. Das hier Geschriebene ist nicht nur hilfreich zu lesen, sondern macht Lust auf die eigene Reflexion. Einfach toll!

    Antworten

Leave a comment